Gruß aus dem Reich(enberg) der Schatten: Tatra 30

Wem der heutige Titel zu morbide erscheint, dem sei gesagt: Die Auseinandersetzung mit der Welt der Toten – dem Reich der Schatten in der griechisch-römischen Tradition – ist eine spannende und in vielerlei Hinsicht lehrreiche Beschäftigung.

Während meiner jahrelangen ehrenamtlichen Tätigkeiten für die lokale Bodendenkmalpflege im Wetteraukreis bin ich längst verschwundenen Menschen von einst so nahegekommen wie nur irgendmöglich.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Ausgrabung eines römischen Friedhofs an einer Villa Rustica nahe der alten Römerstraße von Friedberg nach Arnsburg, heute noch als über Kilometer schnurgerade gen Norden führender Feldweg erhalten.

Dor waren die Verstorbenen eine römischen Gutsbesitzerfamilie und ihrer Bediensteten in Brandgräbern bestattet. Nach der Verbrennung auf einem Scheiterhaufen über einer Grube wurde die Asche und die wenigen Knochenreste eingesammelt und zusammen mit Beigaben in Holzkisten dem Boden anvertraut.

Nach rund 1.800 Jahren sind die Kisten bis auf einen dunklen Umriss im Boden vergangen, nur die Eisennägel liegen noch genau in der ursprünglichen Position, wenn man das Ganze vorsichtig freilegt. Zuoberst stößt man auf die Ausgüsse von Trinkkrügen und Glasgefäßen, weiter unten stößt man dann auf die Asche mit weiteren Beigaben wie Tellern, Münzen, Gewandnadeln oder Ringen, die Rückschlüsse auf das Geschlecht erlauben.

Alles wird nach der Dokumentation per maßstäblicher Zeichnung sorgfältig geborgen und mit einer Befund- und Fundnummer versehen,, bevor die Reste eines Lebens ihre letzte Ruhestätte verlassen und in ein Depot oder Museum wandern.

Während der stundenlangen Arbeit an so einem einzelnen Grab ist man die meiste Zeit allein unter dem weiten blauen Himmel mit „seinem“ Toten wie ein Pathologe in der Gerichtsmedizin.

Man fühlt sich, während man die oft wie neu erhaltenen Ton- und Glasgefäße wieder ans Tageslicht holt, in dem Moment den Menschen ganz nahe, die diese Gegenstände als letzte gesehen und liebevoll in den Kisten angeordnet haben. Die Zeit verliert in dem Moment ihre Bedeutung und natürlich: Man begegnet seiner eigenen Bestimmung in diesen Relikten…

Einen ganz anderen Ausflug ins Reich der Schatten will ich heute mit Ihnen unternehmen. Zwar bleibt alles in Schwarzweiß gehalten, wie wir das hier gerne sehen, doch meinen wir ebenfalls, für einen Augenblick an einem längst vergangenen Sonnentag teilzuhaben.

Die Reise führt ins böhmische Reichenberg (seit 1945 mit dem tschechischen Namen Liberec). Dort wurde um 1930 diese Szene festgehalten und als Ansichtskarte reproduziert:

Ansichtskarte aus Reichenberg ((Böhmen) um 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Das Auto, um das heute geht, spielt hier zunächst nur eine unbedeutende Nebenrolle. Angezogen wird der Blick von den prächtigen Bauten, die bei aller Gegensätzlichkeit auf dieselbe Weise miteinander harmonieren, wie das bei praktisch allen historischen Baustilen vor dem Aufkommen des Funktionalismus der Fall ist.

Links haben wir das Stadttheater von Reichenberg im Stil der italienischen Renaissance von Ende des 19. Jh. – ein typisches Beispiel für das Fortleben und die immer neue Interpretation klassischer antiker Bauformen.

Dahinter ragt das Rathaus der Stadt auf – völlig anders wirkend und doch ebenfalls von der Renaissance inspiriert. Hier sehen wir aber eine phänomenale Neuauflage von Proportionen und Elementen, wie sie typisch für Renaissancebauten im Osten und Süden Deutschlands typisch waren – ein Beispiel für Wert und Wirkung lokaler Bautraditionen:

Hier können wir nun einen ersten besseren Blick auf die Limousine im Vordergrund werfen. Kenner wissen natürlich, um was für ein Fabrikat es sich handelt, aber dazu kommen wir noch.

Was das Nummmernschild betrifft, meine ich, dass wir hier noch eines sehen, das der alten österreichischen Konvention aus der Zeit vor 1918 folgt. Nach der Zerschlagung des KuK-Reichs wurde Böhmen und damit auch Reichenberg Teil der Tschechoslovakei.

Die Kennzeichen wurden bis Anfang der 1930er Jahre beibehalten, wenn ich es richtig sehe. Auch sonst blieb in Reichenberg mit seiner nahezu vollständig deutschen Bevölkerung oberflächlich alles beim Alten – man beachte etwa die Reklame für die CONCORDIA-Versicherung am rechten Bildrand.

Allerdings findet man auf solchen Aufnahmen aus den nun zur Tschechoslovakei gehörigen deutschsprachigen Gebieten überwiegend Automobile einheimischer Hersteller wie Praga, Skoda oder wie hier: Tatra.

Tauchen wir nun also tief ins Reich(enberg) der Schatten ein und schauen, ob wir herausbekommen, was das für ein Wagen war, der gerade am Straßenrand gehalten hat, um eine junge Dame im hellen Sommerkleid mitzunehmen:

Das Fehlen eines Kühergrills verrät, dass wir es mit einem luftgekühlten Modell der Marke zu tun haben. Tatra hatte erstmals 1923 einen solchen Wagen mit Zweizylinder-Viertakt-Boxermotor vorgestellt, der von Hans Ledwinka konstruiert worden war.

Dieser Tatra T11 zeichnete sich vor allem durch ein modernes Fahrwerk mit hinten einzeln aufgehängten Rädern und Querblattfedern aus.

1926 wurde das Konzept auf das Mittelklassemodell Tatra 30 übertragen. Dieser verfügte nach wie vor über einen Boxermotor, nun aber mit vier Zylindern, der 24 PS aus 1,8 Litern leistete. Das Fahrwerkskonzept wurde im Wesentlichen beibehalten, jetzt mit Vierradbremsen und Hebelstoßdämpfern.

Sehr wahrscheinlich sehen wir ein Exemplar dieses Typs auf dem Foto aus Reichenberg. Der äußerlich ähnliche Tatra 52 bzw 54 (ab 1931) hatte nach meinen Recherchen stärker gerundete Vorderkotflügel.

Eine Abbildung mit völlig identischer Ausführung ist mir allerdings noch nicht begegnet. Speziell die doppelte Zierleiste an den Seiten mit dazwischen angebrachter Türklinke fand ich nirgends.

Aber so ist das bei dergleichen Ausflügen in längst vergangene Zeiten – oft sind es nur noch wenige Spuren, die an das Leben von gestern erinnern, manches Detail ist nur bruchstückhaft überliefert und vieles bleibt für immer rätselhaft.

Und doch ist genug geblieben, um eine Ahnung vom vergangenen Glanz zu bekommen und die Vitalität von einst für einen Moment nachzuempfinden. War also am Ende nicht ganz so düster, unser kleiner Ausflug in das Reich(enberg) der Schatten, meine ich…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

4 Gedanken zu „Gruß aus dem Reich(enberg) der Schatten: Tatra 30

  1. Mit dem Einwand hatte ich gerechnet :-). Aber: Erstens ist ein Heckttriebler fahrphysikalisch ein ganz anderes Auto – aber das wissen Sie besser als ich. Zweitens war weltweit und langfristig betrachtet der luftgekühlte Hecktriebler mit Boxermotor ein auf Deutschland und Italien beschränkter Sonderweg – wenn auch sehr lange erfolgreich. In den USA, England, Frankreich und Japan hat das Konzept nie verfangen. Der Käfer scheint mir nachdem Krieg auch eher zufällig (mit britischer Anschubhilfe) zum Laufen gekommen zu sein. Sein Erfolg war angesichts der vielen Schwächen (vor allem des geringen Platzangebots und des hohen Bauaufwands) hauptsächlich der radikalen Skalierung und Industrialisierung von Logistik und Vertrieb ab 1960 sowie dann sinkenden Preisen geschuldet gewesen zu sein. Langfristig hat er VW aber in eine tiefe Sackgasse geführt. Auf Dauer eher wegweisend waren doch die selbsttragenden Konstruktionen von Lancia, die Fronttriebler von Adler, DKW und Citroen und nach dem Krieg ab 1959 der Austin „Mini“ mit querliegendem Motor, Frontantrieb und maximaler Raumökonomie. Aber natürlich kann man darüber stundenlang diksutieren, das Thema hat viele spannende Facetten. Ledwinka gehört wie Slevogt, Porsche und HG Röhr auf jeden Fall zu den einflussreichsten und geistig unabhängigsten Impulsgebern der Vorkriegszeit im deutschprachigen Raum.

  2. Seine Konstruktionen waren zweifellos hervorragend und dem damaligen Standard überlegen. Seiner Zeit voraus war er damit trotzdem nicht, weil sich international letztlich andere Konzepte in der Breite durchsetzten.

  3. Ach ja – die tollen Tatra-Konstruktionen von Ledwinka !! Zentralrohr-Rahmen, Pendelachse mit Querblattfeder hinten, Einzelrad-Aufhängung vorn, luftgekühlter Boxermotor.
    Ledwinka war seiner Zeit weit voraus !

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