Form und Funktion – früh vollendet: Nash „Six“ 1923/24

Seit einigen Jahren registriere ich beunruhigende Nachrichten, doch nicht was statistische Konstrukte wie das „Weltklima“, herbeigemessene Pseudo-Phänomene wie Feinstaub oder auch echte Probleme wie die Ausgrenzung von Frauen auf Baustellen oder bei der Müllabfuhr betrifft.

Nein, Sorgen bereitet mir die mangelnde Befähigung zunehmender Teile der Jugend, eine Ausbildung abzuschließen und einer einträglichen Beschäftigung nachzugehen. Kürzlich erfuhr ich, dass der 20-jährige Sprössling eines gutsituierten Bekannten aus der Finanzbranche noch nie eigenes Geld verdient hat.

Wenden wir uns einem Fall zu, der zeigt, dass es auch ganz anders gehen kann – wenngleich die Jugend von Charles W. Nash sicher ein Extrembeispiel ist.

Anno 1870 – im Alter von 6 Jahren – wurde Charles von seinen Eltern ausgesetzt. Der Bub wurde per Gerichtsbeschluss einem Landwirt anvertraut, der das Kind als Arbeitskraft bis zur Volljährigkeit einsetzen durfte, 3 Monate Schulbesuch pro Jahr mussten gesichert sein.

Doch Charles war ein Frühvollendeter, was den Drang betraf, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Mit 12 lief er davon und verdingte sich auf einem anderen Bauernhof.

Anschließend lernte er den Schreinerberuf, wurde dann Verkäufer in einem Lebensmittelladen und landete schließlich als Polsterer bei der Kutschbaufirma der Herren Durant und Dort, die bald darauf ins Auto-Business wechselten.

Charles Nash nutzte seine Chance in der sich rapide entwickelnden Branche. 1895 war er Geschäftsführer der Durant & Dort Carriage Company, 1910 findet man ihn an der Spitze von Buick und und 1912 war er Chef von General Motors.

Mitte 1916 gründete er seine eigene Autofirma und stieg in der oberen Mittelklasse ein.

Der erste unter seinem Namen gebaute Wagen war ein großzügig dimensionierter 6-Zylinder-Wagen mit nach vorn leicht abfallender Frontpartie, niedrigen Luftschlitzen in der Motorhaube und einer klaren, gefälligen Optik.

Hier haben wir ein Exemplar des Modelljahrs 1918, das von deutschen Auswanderern gefahren wurde und dessen Konterfei an die Verwandschaft in der darniederliegenden alten Heimat geschickt wurde:

Nash Tourer von 1918; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nash konnte seine Produktion nach dem 1. Weltkrieg rasch steigern, wenngleich die Firma nicht zu den großen Produzenten in den USA gehörte.

1923 überschritt Nash die Marke von 50.000 Wagen pro Jahr – nach europäischen Maßstäben gigantisch, doch für amerikanische Verhältnisse allenfalls Mittelmaß.

Gleichzeitig verstand es der Hersteller aus Kenosha (US-Bundesstaat Wisconsin), seinen Sechszylinderwagen mit einigen Anpassungen weit moderner zu gestalten.

Im Vergleich zu den meisten Fabrikaten aus Europa wirkte der Nash des Modelljahrs 1923/24 früh vollendet, was Form und Funktion angeht – speziell als Limousine, wie hier zu besichtigen:

Nash „Six“ Modelljahr 1923/24; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Die Scheibenräder waren optional statt Speichenrädern erhältlich und tragen zur geschmeidigen Optik dieses Wagens mit Zweifarblackierung und viel Platz für die Passagiere bei.

Nur die niedrigen Haubenschlitze erinnern noch an die Anfänge – sie verschwanden aber anno 1925, weshalb man dieses Auto mit den erst 1922 eingeführten Trommelscheinwerfern so genau datieren kann.

Die Motorisierung war für die damaligen Verhältnisse in dieser Klasse angemessen: 55 PS leistete der Reihensechszylinder mit im Zylinderkopf hängenden Ventilen (ohv). Daneben gab es eine kompaktere Vierzylinder-Sparversion mit 35 PS Leistung.

Nach diesen hauptsächlich dem unübertroffenen „Standard Catalog of American Cars until 1942“ von Kimes/Clark entnommenen Details, stellte sich nur noch die Frage nach dem Aufnahmeort.

Es dauerte kaum eine Stunde nach Hochladen des Fotos in der von mir verwalteten Facebook-Vorkriegsgruppe, bis die Lösung eintrudelte. Fotografiert wurde der Wagen am Kensico-Stausee im US-Bundesstaat New York.

Im Hintergrund sieht man das heute noch existierende Verwaltungsgebäude des „New York City Bureau-Water“ am Rand des Sees.

Das eigentliche Meisterwerk in Sachen Form und Funktion ist indessen der im 1. Weltkrieg fertiggestellte Staudamm selbst. Er ersetzte einen kleineren Vorgänger und wurde technisch wie architektonisch in vollendeter Weise ausgeführt.

Denn hier folgt die Form nicht einer Ideologie nach dem Motto „form follows function“, sondern sie anerkennt die eigenständige Bedeutung der Ästhetik bei allem Menschenwerk.

Wie schon vom antiken Architekten Vitruv formuliert, muss ein Bauwerk drei Bedingungen erfüllen – es muss solide, funktionell und schön sein. Genau das erfüllt der bis heute einzigartige Kensico Dam bei Valhalla (NY), wo der heute vorgestellte Nash abgelichtet wurde, in vorbildlicher Weise:

Kensico-Staudamm in Valhalla, US-Bundesstaat New York; Foto hochgeladen auf der Plattform Tripadvisor von Anna Luna (NYC), aufgenommen im August 2018

Ein würdiger Abschluss des heutigen Themas, meine ich.

Zugleich eine Erinnerung daran, wozu der Mensch fähig ist, wenn er das Beste in sich geben will und darf – so wie einst Charles W. Nash, dessen Leben unter denkbar ungünstigen Umständen begonnen hatte.

Er starb 1948 im Alter von 84 Jahren. Die von ihm gegründete Firma war damals immer noch unabhängig und sollte es bis zur Fusion mit Hudson anno 1954 bleiben…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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