Wiedersehen mit Pegasos: NAG-Protos 14/70 PS Tourer

Manche Träume lassen den Menschen nicht los – über Jahrtausende hinweg.

Wir lernen daraus, dass wir zwar in technischer Hinsicht ernorme Fortschritte bei der Bewältigung des Daseins machen mögen, aber im Wesentlichen noch die sind, die einst als an die Erde gebundene Nomaden und später Siedler sehnsüchtig den Vögeln nachschauten, deren Leben sich leicht in den Lüften vollzog.

So ist zu erklären, dass in unseren Tagen evidente Spinnereien wie Flugtaxis für eine ganze Weile einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sogar die Schatullen vermeintlich abgebrühter Investoren aufgehen ließen.

Der Traum, sich einfach in die Luft erheben und ein Ziel seiner Wahl präzise ansteuern zu können, hat schon die alten Griechen im wahrsten Sinne beflügelt. So entstanden die vielen Mythen, in denen das geflügelte Pferd Pegasos eine Rolle spielt.

Selbiges wird hier auch heute in prominenter Form präsent sein.Ein erstes Mal begegnen wir ihm auf dieser Aufnahme, die Besitzern der 2019er Neuauflage des Klassikers „Deutsche Autos 1920-45“ von Wener Oswald bekannt vorkommen dürfte:

NAG-Protos 14/70 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Eine repräsentative Limousine im typischen „Amerikaner“-Stil der späten 1920er Jahre – so würde man hier zutreffend konstatieren. Die US-Hersteller waren damals tonangebend und kein deutscher Hersteller konnte es sich leisten, trotz unterlegener Produktionstechnik nicht wenigstens in kleiner Stückzahl Ähnliches anzubieten.

Im vorliegenden Fall haben wir es mit dem 6-Zylindermodell 14/70 PS der Berliner Marke NAG-Protos zu tun, die den angesagten Stil durchaus traf und auch mit der großzügigen Motorisierung die Zeichen der Zeit in der Oberklasse erkannt hatte.

Dass man wohl nur eine geringe vierstellige Zahl dieser prächtigen Wagen zwischen 1928 und 1930 zustandebrachte, ändert nichts an ihrem Prestige. Fliegen war zwar auch damit nicht möglich, aber hoch über den Niederungen des Alltags der allermeisten Deutschen bewegte man sich damals in jedem Fall.

Passend dazu war dieses Exemplar vom Besitzer mit einer großartigen Kühlerfigur ausgestattet worden – dem besagten geflügelten Pferd namens Pegasos, mit dem der antike griechische Held Bellerophon seine Abenteuer bestand.

Ich lasse mich gern eines Besseren belehren, aber diese Figur war wohl kein Werksstandard beim NAG-Protos dieses Typs – die expressive Gestaltung steht in klarem Kontrast zur der kühlen Logik der Karosserie des Wagens.

Für Freunde gekonnter Individualisierung von Automobilen wie mich ist indessen genau die Montage des sich aufbäumenden, zum Himmel strebenden Pegasos auf dem Kühler dieses ansonsten hochseriösen Großbürger-Transporters das i-Tüpfelchen.

Zu meinem eigenen Erstaunen vermag der Pegasos aber auch noch etwas anderes. Denn so sehr ich die Auffassung vieler Vorkriegsautofreunde verstehe und teile, dass Tourenwagenaufbauten wenig aufregend sind, so sehr muss ich im Fall des folgenden Fotos zugeben: das Bild kann sich auch ganz anders darstellen.

Diese überraschende Einsicht verdanke ich Leser Matthias Schmidt aus Dresden, der mir in digitaler Form diese großartige Aufnahme übermittelte:

NAG-Protos 14/70 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Geht es nur mir so oder wirkt der mächtige NAG-Protos mit seinen 5 Metern Länge hier auf einmal nicht überraschend leicht und viel freundlicher als im eher abweisenden Format einer Sechsfenster-Limousine?

Jedenfalls dürfen wir davon ausgehen, dass diese Ausführung Ende der 1920er Jahre auch in deutschen Landen nur noch selten gewählt wurde, wenngleich der Tourer traditionell die preisgünstigste Karosserieversion war.

Doch selbst dafür waren im Fall des NAG-Protos 14/70 PS Ende der 20er Jahre 11.400 Mark hinzublättern – das entsprach mehr als fünf Brutto-Jahresgehältern eines sozialversicherungspflichtigen Durchschnittsverdieners im damaligen Deutschland.

Demnach ist klar: Wer sich so ein Luxusgerät leisten konnte, der hatte auch das nötige Kleingeld für eine opulente Pegasos-Kühlerfigur aus Manufakturproduktion. Solche Sachen wurden einst von unabhängigen Produzenten in kleinen Serien gefertigt.

Ausnahmsweise weiß ich wovon ich rede, denn mit meiner „EHP“ Voiturette von 1921 erwarb ich ich eine darauf montierte Kühlerfigur, die ebenfalls einen Pegasos zeigt. Produziert wurde sie einst vom französischen Bildhauer Gaston Broquet für die verblichene französiche Marke Victor Buchet (siehe hier).

„Mein“ Pegasos trägt die laufende Nummer 253, was eine ungefähre Vorstellung davon vermittelt, in welchem Umfang solche Kühlerfiguren für rare Marken gegossen wurden.

Die Figur steht heute unter einer gläsernen Haube auf einem der Lautsprecher der französischen Marke „Cabasse„, die meine Mutter in den 1960er Jahren erworben hatte. Sie verdiente damals sehr gut und ließ sich von ihrem damaligen Chef zu dieser Investition in hochwertige Musikwiedergabe inspirieren.

Die Lautsprecher habe ich vor etlichen Jahren „restauriert“. So hatte sich die Membranaufhängung nach Jahrzehnten aufgelöst und die Kondensatoren der Frequenzweiche hatten den Geist aufgegeben. Unter Wahrung der Originaloptik verbaute ich moderne Hoch- bzw- Tief/Mitteltöne, erneuerte Frequenzweiche udn Verkabelung.

Nach fast 60 Jahren verrichten diese historischen Hifi-Lautsprecher zusammen mit einem Vintage-Verstärker beinahe jeden Abend ihren Dienst, während ich am Blog arbeite. Wenn ich den Kopf zur Seite drehe, sehe ich den Pegasos auf dem Lautsprecher aus dem Nachlass meiner Mutter, der ich ein Gutteil meines Blicks auf die Welt verdanke.

Heute jährt sich ihr Todestag und ich bin sicher, es hätte ihr gefallen, wie mir die Beschäftigung mit den Dingen aus der Welt von gestern Flügel verleiht wie einst Pegasos…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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