Gekonntes Spiel mit der Kante: Ein AGA Tourer um 1922

Am Titel des heutigen Blog-Eintrags habe ich länger als üblich herumlaboriert.

Immerhin konnte ich der Versuchung widerstehen, den Kalauer „Schon Kant kannte Kanten“ zu wählen. Der für alles mögliche Menschliche sich zuständig wähnende Eremit aus Königsberg hat zumindest dem Thema Geometrie meines Wissens nur wenig Bleibendes abgewonnen – also bleibt er heute in der Gruft.

Dennoch kommen wir um die Kante nicht herum – sie versperrt bei unserem heutigen Kandidaten dem Auge förmlich den Weg, lässt es nicht vorbei auf der Suche nach den gewohnt gefälligen Schwüngen der Kotflügel, wie man sie einst im Automobilbau bevorzugte:

AGA Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

In Verbindung mit dem Spitzkühler kann das nur ein AGA sein – der 1919 als 6/16 PS-Typ vorgestellte Erstling des gleichnamigen Werks aus Berlin.

Gewiss, solche kastigen Kotflügel gab es vereinzelt auch an anderen Fahrzeugen – vor allem in Deutschland, wo man nach dem 1. Weltkrieg in der Gestaltung eigene Wege beschritt. Jedoch in Serie findet man sie vermutlich nur am AGA-Wagen – noch im 1922er Prospekt sind sie aufgeführt (vgl. K.U. Merz, „Der AGA-Wagen“, S. 42).

Besonders gekonnt finde ich das Spiel mit der Kante in Kombination mit der keilfömigen Frontscheibe, wie hier zu besichtigen:

AGA Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Als ich mich vor über 5 Jahren erstmals einigermaßen systematisch mit der Weiterentwicklung des AGA-Wagens befasste, hatte ich noch die Zuversicht, dass sich anhand der markanten Details des Autos eine Systematik schaffen lässt.

So finden sich AGA-Spitzkühlerwagen mit eckigen und gerundeten Kotflügeln, aber nicht nur nacheinander, sondern offenbar auch parallel. Auch die verbauten Scheiben variieren ohne erkennbares Muster: Neben der senkrechten Ausführung in Keilform gab es eine durchgehende und dabei geneigte, eine geneigte und dabei mittig unterteilte usw.

Erst 1923 lässt sich mit dem Übergang vom Spitzkühler zum (fast) Flachkühler eine klare Zäsur erkennen. Diese Wagen sind dann immer als Typ 6/20 PS anzusprechen, der bis zur Firmenpleite Ende 1925 in Produktion blieb – eingeführt wurde die Motorisierung indessen bereits 1921.

Vielleicht würde sich bei einer Übersicht der genannten Merkmale und ihrer Datierung doch eine Struktur erkennen lassen, leider gibt das auch das so reichhaltige AGA-Buch von Merz nach nochmaliger Durchsicht nicht her.

Was machen wir nun mit so einer weiteren Prachtaufnahme eines AGA, wie sie mir Sammlerkollege Matthias Schmidt (Dresden) schon vor einiger Zeit zur Verfügung gestellt hat?

AGA Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Nun wir schauen, ob es datierte Vergleichsexemplare gibt. Das ist gar nicht so einfach, wie schon K.U. Merz bei seinen geduldigen Recherchen zum AGA-Wagen erlebte – selbst bei den wenigen überlebenden Exemplaren gibt es jede Menge Unklarheiten.

Zum Glück stieß ich aber auf die folgende Übersicht in der Zeitschrift „Motor“ von Sommer 1922.

Rechts oben sehen wie genau so einen AGA Tourer wie auf dem Foto von Matthias Schmidt, der in dem Artikel als Typ 6/20 PS angesprochen wird, aber noch nicht den ab 1923 verbauten Flachkühler besitzt:

AGA Modellübersicht aus „Motor“ von Juli/August 1922; Original: Sammlung Michael Schlenger

Interessant ist übrigens der Hinweis im Text, dass man „vor kurzem“ den tausendsten Wagen gebaut hatte, also im Sommer 1922.

Da der AGA-Wagen im Herbst 1919 auf den Markt gekommen war, bedeutet das keine umwerfende Stückzahl für einen Zeitraum von über zweieinhalb Jahren.

Merkwürdigerweise nennt der Artikel nur einen Zeitraum von anderthalb Jahren, stellt aber zugleich kühn den zweitausendsten Wagen schon „in einigen Wochen“ in Aussicht. Diese Angaben sind daher sehr mit Vorsicht zu genießen.

Wie K.U. Merz halte ich die in der älteren Literatur genannte Produktionszahl von 15.000 für weit übertrieben, auch die Fahrgestellnummer der wenigen noch existierenden AGA-Wagen deuten auf weit niedrigere Zahlen unterhalb 10.000 hin.

Nach der akribischen Vorarbeit von K.U. Merz, die indessen auch nicht alle Aspekte klären konnte, stellt sich hier aus meiner Sicht eine hübsche Forschungsaufgabe für Autohistoriker.

Ich kann nur das in Relation zu anderen deutschen Wagen der frühen 1920er Jahre auffallend wenige Fotomaterial zu den AGA-Wagen in meiner Markengalerie bereitstellen.

Immerhin liegen aber inzwischen auch ein paar schöne Neuzugänge vor, die noch etwas Bearbeitung erfordern und früher oder später auch im Blog erscheinen werden.

Zum Abschluss möchte ich auf das zurückkommen, was den Reiz des heute präsentierten Fotos aus der Sammlung Matthias Schmidt für mich eigentlich ausmacht – die meisterhafte Inszenierung einer Familie (nebst Fahrer) mit ihrem wohl brandneuen Automobil – wer hier nur den AGA sieht, dem ist nicht zu helfen…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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