Altes Thema – endlos variiert: NAG Typ C4 10/30 PS

Mitte August und zu meinem Leidwesen macht der Sommer schon wieder Urlaub. Bei der abendlichen Fahrradrunde durch die Wetterau breitete sich angesichts kahler Felder und kühlen Ostwinds eine beinahe herbstliche Stimmung aus.

20 Kilometer scharfe Fahrt und dennoch nicht durchgeschwitzt – so hatte ich mir das abendliche Exerzitium nicht vorgestellt. Wenigstens noch zwei Wochen Hochsommer hätte ich mir gewünscht, nachdem das bisherige Jahr eher durchwachsen war.

Das Nahen des Herbstes – ob bereits tatsächlich oder nur stimmungsmäßig vorweggnommen – veranlasste mich dazu, zu einem alten Thema zurückzukehren, das mich lange nicht mehr beschäftigt hat.

In der CD-Sammlung im Schubladenschrank im englischen Stil fand ich eine Einspielung wieder, die sich ausschließlich dem Lamento Mariens nach dem Tod ihres Sohnes Jesus widmet. Ein und dasselbe Thema bearbeitet von sechs Komponisten der Barockzeit, gespielt vom italienischen Ensemble „Il Giardino Armonico“ und gesungen von der Mezzo-Sopranistin Bernarda Fink (L’Oiseau Lyre, 2009).

Ich hatte vergessen, wie reizvoll diese Variationen über das alte Thema sind.

So hatte ich die perfekte Begleitmusik für den heutigen Blogeintrag gefunden, der sich ebenfalls mit den immer wieder überraschenden Reizen auseinandersetzt, welche sich einem bei der Beschäftigung mit dem NAG Typ C4 10/30 PS aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre darbieten.

Der Wagen war damals ein Dauerthema in deutschen Großstädten und zusammen mit ähnlich motorisierten Typen von Presto und Protos das meistgebaute Auto seiner Klasse hierzulande.

Auch in meinem Blog habe ich bereits x Ausführungen anhand historischer Fotos vorgestellt – dennoch finden sich immer wieder neue Interpretationen:

NAG Typ C4 10/30 PS mit Landaulet-Aufbau; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Diese Aufnahme aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks zeigt eine Taxi-Version mit einem repräsentativen und kostspieligen Landaulet-Aufbau. Typisch für den NAG Typ C4 10/30 PS ist hier nur der (meist) lackierte Spitzkühler mit ovalem Kühlerausschnitt

Dass sich ein dermaßen teures Manufakturfahrzeug im Droschkenbetrieb amortisieren konnte, ist nur damit zu erklären, dass sich die Kundschaft aus der urbanen Oberschicht speiste, welche damals meist noch kein eigenes Auto besaß.

Man kann davon ausgehen, dass ein solcher NAG auf dem Lande praktisch nicht anzutreffen war – es gab dort schlicht keinen Markt dafür. Hauptsächlich Ärzte und Veterinäre besaßen dort überhaupt Automobile und dann Kleinwagen mit unter 20 PS.

In ländlicher Umgebung konnte man einem NAG Typ C4 10/30 PS nur begegnen, wenn sich die Städter vom Trubel und der (damals noch) schlechten Stadtluft erholen wollten.

Dann kam in der Regel eine Variante mit Tourenwagenaufbau zum Einsatz, die außer bei starkem Regen eigentlich immer offen gefahren wurden, denn man wollte ja etwas erleben.

NAG Typ C4 10/30 PS mit klassischem Tourenwagen-Aufbau; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Doch selbst beim Thema des klassischen Tourer gab es offenbar Variationen, die vom Erfindungsreichtum der damaligen Karosserie-Komponisten ebenso zeugen wie die Interpretationen des Marien-Lamento auf der Aufnahme, welche ich gerade höre.

So kann ich Ihnen heute eine Spielart des Tourers präsentieren, welche ich nicht nur beim NAG C4 10/30 PS, sondern auch bei keinem anderen Wagen je gesehen habe.

Woran sich die Erbauer dieses Spezial-Tourers orientiert haben oder welche Assoziation der Aufbau wecken sollte, darüber kann man wohl nur spekulieren. Ich fühle mich hier an Bootsbau erinnert, aber vielleicht hat jemand eine bessere Idee:

NAG Typ C4 10/30 PS mit klassischem Tourenwagen-Aufbau; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Während ich diese Geselllschaft auf mich wirken lasse und mich an den raffinierten Linien der Karosserie im wahrsten Sinne des Wortes erbaue, lausche ich gerade der „Sinfonia in h-moll, RV169, Al Santo Sepolcro“ des zu unrecht geschmähten Vielschreibers und Großmeisters Antonio Vivaldi.

Er überrascht in seinem Riesenwerk immer wieder durch seinen Erfindungsreichtum. Ja man erkennt irgendwann auch bei entlegenen Werken seinen „Sound“, aber was er einem vermeintlich x-fach abgehandelten Thema an Facetten abzuringen vermochte, das überrascht immer wieder auf’s Neue.

So verhält es sich auch bei einer weit bodenständigeren Materie wie dem NAG Typ C4 10/30 PS, der außer auf alten Fotos fast keine Spuren hinterlassen hat. Im großstädtischen Umfeld, wo er einst zuhause war, hatte man meist keinen Platz, um ihn nach Jahren treuen Dienstes einfach in irgendeinem Schuppen abzustellen, wo er bessere Zeiten entgegenschlummern konnte.

Eine Ahnung davon, was in dieser Hinsicht verlorengegangen ist, erhalten Sie in meiner chronologischen NAG-Fotogalerie, wo Sie Dutzende dieser einst so bedeutenden und vielgestaltigen Wagen studieren können. Wenn Sie dabei leise Melancholie anweht, wissen Sie, wie es mir oft geht, wenn ich den späten Abend allein mit diesen Zeugen einer untergegangenen Welt verbringe…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen