Hohe Kunst und Alte Schule: Horch 780 Sportcabriolet

Das Elend der sogenannten modernen Kunst – für die es kein kennzeichnendes Attribut gibt statt dem eigenschaftslosen „modern“ – liegt meines Erachtens darin, dass jeder kreativ Bewegte und Begabte meint, es sei genug, sich genial vorzukommen, einen geschäftstüchtigen Manager und meist kenntnisfreie Käufer zu haben.

Betrachtet man die Kunst über die Jahrtausende, so war es aber immer Voraussetzung, dass man erst einmal das Beste der Altvorderen studierte und irgendwann selbst beherrschte, bevor man sich daran wagte, einen Schritt weiter zu gehen.

Hohe Kunst und alte Schule waren untrennbar miteinander verbunden. Erst wer den „State of the Art“ beherrscht, hatte auch das Handwerkszeug und den Horizont, um Neues zu schaffen, das die alten Meister ebenso aussehen ließ.

Von ganz wenigen Ausnahmen im Bereich der Skulptur und der Malerei sehe ich in der Neuzeit davon so gut wie nichts. Jeder „Kunstschaffende“ ist begabt und auf Anhieb großartig, misslungene oder mediokre Werke gibt es nicht mehr, Stile ebensowenig.

Irgendein Zyniker hat einmal das Bonmot geprägt, dass nur die moderne Kunst es bei der Betrachtung erlaube, umstandslos von sich selbst zu erzählen, ohne dass sich jemand im Studium und Genuss des Werks gestört fühlt.

Diese Vorrede war wie immer überflüssig für meine Leser, aber notwendig für mich. Denn irgendwie muss ich ja einen Anfang finden – speziell wenn der Gegenstand der heutigen Bildanalyse sich auf den ersten Blick wenig zugänglich zeigt:

Horch 780 Sportcabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hohe Kunst und alte Schule sehe ich hier auf’s Schönste vereint.

Wer auch immer diese Aufnahme angefertigt hat, verstand sein Handwerk und hatte zugleich einen ganz eigenen Blick auf die Dinge – Voraussetzung für eine technisch vollkommene und zugleich eigenständige Kreation.

Die Aufnahme mit dem kühn ganz am Rand positionierten Wagen und der schönen Perspektive die kurvige Straße entlang auf eine uralte Felsformation zu würde nicht „funktionieren“, wäre da nicht der gut gelaunte ältere Herr, der wie beiläufig durch die Szene geht. Dabei ist er ebenso treffsicher platziert wie die schlanke junge Dame neben dem Auto.

Uns genügt es freilich nicht, sich an der gekonnten Komposition dieser 1938 in Deutschland entstandenen Privataufnahme zu erbauen. Wir wollen auch wissen, mit was für einem Cabriolet die Herrschaften damals unterwegs waren.

Dafür „zoomen“ wir näher an den Wagen heran – und werden wieder durch den Gleichklang von Hoher Kunst und Alter Schule beglückt:

Fehlt hier irgendetwas? Sollte das Fotomodell auf zwei Beinen moderner daherkommen, vielleicht in einem „sportlichen“ Schlabberanzug und mit einer Plastikflasche in der Hand?

Klar, keiner möchte mit den Umständen anno 1938 tauschen, aber macht es nicht nachdenklich, dass im Vorkriegseuropa eine ganze Menge so war, dass man sich für den Alltag etwas davon abschauen könnte – mehr Stil, mehr Würde im Alltag, vielleicht?

Egal, das wird nichts mehr, wie verwalten bestenfalls noch den ästhetischen Niedergang, damit ist man als in dieser Hinsicht sensibler Mensch bereits beschäftigt genug.

Doch immerhin sind wir noch in der Lage, den scheinbar wie eine Nebensache abgelichtetetn Wagen mit derselben Genauigkeit anzusprechen, mit der das ein Autobegeisterter in den 1930er Jahre getan hätte.

Ich kann es nicht so recht erklären, aber mir sofort klar, dass wir es mit einem Sportcabriolet aus dem sächsischen Hause Horch zu tun haben. Kein anderer deutscher Hersteller kam dafür in Frage. Diese Heckpartie und die Seitenlinie ist Hohe Kunst und Alte Schule.

Für die systematisch Veranlagten nachfolgend eine Anleitung: Wir registrieren Drahtspeichenräder mit großen Chromradkappen, ein oberes Türscharnier auf Höhe einer breiten Zierleiste entlang der Flanke, außerdem – wenn man genau hinsieht – seitliche Luftklappen in der Motorhaube – sowie kolossale vollverchromte Scheinwerfer.

Wer mit diesen Details im Hinterkopf die Modellgeschichte von Horch anhand des vorbildlichen Standardwerks von Kirchberg/Pönisch (Verlag Delius-Klasing) durchgeht, wird im Kapitel zum 8-Zylindertyp 780 fündig, der 1932-34 gebaut wurde.

Dort findet sich auch der wichtige Hinweis, dass sich die Karosserie nur in einem Detail von derjenigen des parallel angebotenen Zwölfyzlindertyps 670 unterschied: den waagerecht geführten Trittbrettern, die auch auf unserem heutigen Foto zu sehen sind.

Das grandiose Sportcabriolet auf Basis des 100 PS starken Horch 780 mit seinem 5-Liter-Reihenachtzylinder (OHC) konnte ich bisher nur in einem Fall dingfest machen (hier) und das ist bald 10 Jahre her.

Aber es sind ja auch nur etwas mehr als 200 Fahrzeuge dieses Typs hergestellt worden. Dabei dürfte das heute gezeigte Foto ziemlich einzigartig sein. Hohe Kunst des sächsischen Automobilbaus trifft hier auf die Alte Schule der Fahrzeugidentifikation.

Mit solchen Ergebnissen lässt es sich aushalten, auch wenn der Herbst nicht nur empfindsame Künstlerseelen melancholisch stimmt…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ein Gedanke zu „Hohe Kunst und Alte Schule: Horch 780 Sportcabriolet

  1. Sehr geehrter Herr Schlenger,
    wohl erst gestern ganz frisch von Ihnen veröffentlicht, habe ich ihren Artikel über den HORCH Typ 780 sogleich wieder mit großer Wonne „verschlungen“, zumal ich neben dem ihnen bekannten HORCH Typ 350 auch ein ebensolches Typ 780 Sportkabriolett im sehr originalgetreu restaurierten Zustand in meinem privaten Fundus habe.
    Es ist mir jedes mal eine große Freude ihre mit Detailkenntnis verfassten und gut recherchierten Artikel zu lesen.
    Machen sie weiter so…

    Viele Grüße
    Mario Schrank
    Fischbach i.d.Rhön
    http://www.oldtimermanufaktur.de

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