Die Beschäftigung mit Vorkriegsautos auf alten Fotos ist etwas, was zuverlässig verhindert, dass man in Routinen (oder automobilen Ruinen) erstarrt. Denn ein vermeintlich abgeschlossenes Thema wie dieses konfrontiert einen laufend mit Dingen, die man noch nie gesehen hat oder zumindest so nicht kannte.
Dass man dabei auch dem vordergründigen Augenschein nicht trauen darf, dafür war das Fotorätsel des letzten Monats ein gutes Beispiel.
Was aufgrund eines Fotos in der Literatur ein „Joswin“ sein sollte, entpuppte sich dank der Aufmerksamkeit sachkundiger Leser als „Otto“ – wobei sich kaum sagen lässt, welches der beiden Fabrikate mit großvolumigem Daimler-Sechszylinder Anfang der 1920er Jahre sensationeller war.
Dass es bei einem dermaßen raren Nischenfahrzeug noch Überraschungen geben kann – das kann – nun ja – eigentlich nicht überraschen.
Aber wie sieht es eigentlich bei einem zumindest in meiner NAG-Galerie sehr umfassend dokumentierten und in den frühen 20ern sehr verbreiteten Modell wie dem C4 10/30 PS aus, von dem der Berliner Hersteller von 1920-24 etliche tausend baute?
Kann es da ebenfalls noch Rätsel und überraschende neue Erkenntnisse geben? Nun, da es sonst keiner macht – jedenfalls nicht öffentlich – will ich heute dieser Frage nachgehen.
Das sogar einigermaßen systematisch, was nicht immer meine Herangehensweise ist, da dieser Blog im Wesentlichen mein virtuelles Lustschloss darstellt, in dem Gäste zwar willkommen sind, aber keine strukturierte Führung durch alle Gemächer erwarten sollten.
Beginnen wir quasi als Entree mit einem bereits vorgestellten Spitzenfoto, das den NAG C4 10/30 genau so zeigt, wie er am vorteilhaftesten wirkt:

Hier kommt er perfekt zur Geltung – der unverwechselbare Spitzkühler mit ovalem Ausschnitt, wie er erstmals beim NAG C4 ab 1920 auftaucht – so scheint es.
Kein anderer Wagen besaß diese raffiniert gestaltete Frontpartie, in welcher der seit Gründung der Marke typische Ovalkühler gekonnt an die in deutschen Landen besonders ausgeprägten Spitzkühlermode angepasst wurde – so scheint es.
Interessant ist nun, dass diese gelungene Vermählung bereits vor Einführung des NAG C4 10/30 PS stattfand – jedenfalls wenn man datierte Reklamen als Maßstab heranzieht.
In stilisierter Form begegnet einem dieses Phänomen bereits auf einer NAG-Anzeige im November 1917:
Damals gab es den NAG C4 noch gar nicht – eventuell nahm man für die Nachkriegszeit geplante Entwicklungen vorweg oder bereits die alten K-Typen von NAG wurden noch während des 1. Weltkriegs mit solchen Kühlern ausgestattet.
Auch 1918 warb man mit einer Abbildung, die einen NAG-Tourer mit Spitzkühler zeigt – leider ebenfalls ohne Hinweis auf die Motorisierung.
Ohnehin gab es damals für Privatpersonen praktisch keine neuen NAGs zu kaufen – die deutschen Hersteller waren mit der Belieferung des Militärs bereits ausgelastet.
Ein weiteres interessantes Dokument in dieser Hinsicht hat mir Leser Wolfgang Spitzbarth in digitaler Form zur Verfügung gestellt.
Es handelt sich um eine NAG-Reklame aus dem ersten Nachkriegsjahr 1919, die sich erkennbar an die auch nach Kriegen immer vorhandene reiche Oberschicht wandte – sei es die alte, welche ihre Verhältnisse bewahren konnte, oder eine neue, welche auch aus einem verlorenen Konflikt als Gewinner hervorging, weil sie dem Staat das geliefert hatte, was er begehrte: Gewehre, Granaten, Grundstoffe usw.
Auch wenn der Spitz-Ovalkühler oder ovale Spitzkühler hier stark stilisiert wiedergegeben ist, habe ich den Eindruck, dass er anfangs wuchtiger und nicht so fein durchgestaltet war, wie er einem auf den vielen Fotos des NAG C4 10/30 PS ab 1920 begegnet.
Ein Foto, das ebenfalls dafür spricht, hat mir Leser Matthias Schmidt (Dresden) zur Verfügung gestellt. Es zeigt wohl einen NAG C4 10/30 PS der frühen 1920er Jahre. aber sein Kühler scheint mir noch nicht so raffiniert ausgeführt zu sein wie später:
Ich mag mich irren, vielleicht hat hier ja jemand einen älteren NAG des K-Typs mit einem der modischen neuen Kühler nachgerüstet.
Jedenfalls kommt mir diese Ausführung noch etwas gröber vor als bei späteren Exemplaren des Typs C4, wofür auch die abweichende Gestaltung der Haubenschlitze und der Radnaben sowie die Montage von Gasscheinwerfern spricht.
Das NAG-Emblem auf der Scheinwerferstange lässt jedenfalls keinen Zweifel am Hersteller.
Noch ungewohnter wirkt schließlich die letzte Variante des NAG-Ovalspitzkühlers, die ich Ihnen heute zumute – sofern es sich um eine solche handelt:
Dieser Tourer bzw. dessen Konterfei macht mir seit Jahren zu schaffen. Das deutsche Kennzeichen will nicht viel heißen, ausländische Fabrikate finden sich zuhauf bereits in den frühen 1920er Jahren – vor allem solche aus dem französischsprachigen Raum.
Nach dem zuvor Gesagten und Illustrierten vermute ich, dass wir es hier mit einem frühen NAG des angeblich erst ab 1920 in Serie gebauten NAG-Typs C4 10/30 PS zu tun haben.
Ich will aber auch nicht ausschließen, dass wir es mit etwas ganz anderem zu tun haben – so selten auch die erwähnte Verbindung aus Ovalkühler und Spitzkühler ist. So gab es bei der französischen Manufaktur Delaunay-Belleville kurzzeitig eine ähnliche Frontpartie.
Damit wären mein Wissen und meine Phantasie für heute erschöpft, was dieses Rätselfoto angeht. Jetzt sind Sie an der Reihe, liebe Leser, und wie immer ist jeder Beitrag willkommen, ganz gleich, wie weit er hergeholt erscheint.
Alles muss gesagt werden dürfen, alles muss sich dem Prüfstein von Logik und Stand des Wissens stellen, alles muss auf Gehalt abgeklopft werden, bevor man es verwirft oder es als plausibel akzeptiert. Nur so kommen wir weiter – wie im richtigen Leben.
Das war’s für heute – ich gönne mir jetzt noch etwas rätselhaft Schönes der anderen Art:
Copyright: Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.