Kultur beginnt jenseits aller Notwendigkeit – das ist eine meiner Überzeugungen, mit denen ich Sie hier immer wieder entgegen alle Notwendigkeit behellige. Aber da Sie ja freiwillig mitlesen, und das ziemlich regelmäßig, bestätigen Sie das eingangs Gesagte.
Gewiss: Nichts ist überflüssiger als ein Blog über Vorkriegsautos, noch dazu von jemandem, der kein Markenspezialist ist oder der Gilde der Automobilhistoriker angehört, die mit wissenschaftlichem Anspruch an die Sache gehen – sofern sie mal etwas publizieren.
Aber hier finden Sie etwas, was sonst nirgends gibt: eine mal zwanglose, mal leidenschaftliche, mal detaillierte, mal rein oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Kulturphänomen Automobil in der Welt unserer Vorfahren vor dem 2. Weltkrieg.
Das Ganze subjektiv, angreifbar, mehr oder weniger gelungen – aber immer spannend, weil spontan aus der Quelle einschlägiger Dokumente schöpfend, die sonst spurlos verschwänden. Niemand würde dadurch beeinträchtigt, aber wieviel Sehenswertes ginge doch verloren, was uns jenseits des schnöden Alltags zu fesseln vermag
Wie gesagt – zum kultivierten Dasein gehören lauter unnötige Dinge: Kunst und Kitsch, Humor und Horror, Spiritualität und Spott, Faulenzen und Fußballspiel – und nicht zuletzt: übermotorisierte und völlig unpraktische Autos!
Bevor wir uns der Betrachtung des heutigen Beweisstücks hingeben, noch ein Wort zum letzten Fotorätsel: Wieder konnten wir gemeinsam die wahrscheinliche Lösung finden – es handelte sich um einen Hanomag „Rekord“ Geländesportwagen mit Ambi-Budd-Karosserie.
Das Beispiel zeigt einmal mehr, was in der Richtung möglich ist, wenn man die Kräfte „zusammenspannt“, wie die Schweizer in ihrer bilderstarken Variante des Deutschen sagen. Ich beobachte Ähnliches in meiner internationalen Facebook-Gruppe zu dem Thema.
In Deutschland – der Heimat von „German Angst“, auch was die intelligente Nutzung von Online-Medien angeht – sieht es dagegen eher duster aus. Ein Forum für alle Koryphäen könnte unzählige Problemfälle lösen und jede Menge Lücken füllen.
Material und Wissen sind grundsätzlich vorhanden – notwendig ist nur der Willen, beides zentral und ohne Zugangshindernisse mit dem Publikum zu teilen. Das weiß ich nach 10 Jahren einschlägiger Bloggerei genau und das heutige Foto ist ein ideales Beispiel dafür:

Diese großartige Aufnahme eines grandios überdimensionierten deutschen Automobils der frühen 1920er Jahre sandte mir kürzlich Matthias Schmidt aus Dresden zu.
Er gehört seit Jahr und Tag zu denjenigen, die mich großzügig mit Fotos aus ihren Sammlungen versorgen – Aufnahmen, die oft die Bilder aus meinem eigenen Fundus in den Schatten stellen.
Völlig unkompliziert gestaltet sich die Zusammenarbeit mit ihm und einigen anderen regelmäßigen „Gästen“ in meinem Blog. Nie habe ich erlebt, dass einer davon mit der Aufbereitung der Bilder nicht einverstanden war – auch wenn diese höchst subjektiv ist und auch ganz anders ausfallen könnte.
Hauptsache, die Fotos gammeln nicht in irgendwelchen Privatsammlungen, bis sie von unverständigen Angehörigen entsorgt werden – das ist die Devise. Auf diese Weise haben auch sehr zahlreiche solcher Fotos in die Neuauflage des „Oswald“ (Deutsche Autos 1920-1945, Motorbuch-Verlag, 2019) geschafft und diese auf ein neues Niveau gehoben.
Ja, die Neuauflage enthält noch viele Fehler der älteren Auflage und sie enthält neue in Form falscher Bildbeschriftungen. Ich muss das wissen, weil auch meine Beiträge in Fotoform in erheblicher Zahl davon betroffen sind.
Aber: Ich jammere nicht herum, weil ich nicht wie einige Spezialisten es schlicht versäumt habe, meinen Beitrag zur Verbesserung und Erweiterung zu leisten.
Wie Stoewer-Experte Manfrid Bauer beispielsweise habe ich mein Bestes getan, die Neuauflage drastisch zu verbessern. Wer es verpasst hat, ebendies zu tun, darf die Schuld bei sich selbst suchen.
So findet sich in der Neuauflage des „Oswald“ auf S. 252 ein Foto, das Matthias Schmidt darauf brachte, dass das heutige Fotorätsel aus seinem Fundus einen „Joswin“ zeigen könnte.
Den Freunden von extrem motorisierten deutschen Wagen der frühen 1920er Jahre läuft bei der Nennung dieser Marke das Wasser im Munde zusammen.
Denn Joswin war die Marke eines Berliner Enthusiasten namens Josef Winsch, der ab 1921 nichts Besseres zu tun fand, als in Manufaktur spektakuläre Automobile mit großvolumigen Daimler-Sechszylindermotoren zu bauen.
Diese Aggregate leisteten 75 bzw. 95 PS und werden im „Oswald“ als übriggebliebene Daimer-Flugmotoren bezeichnet. So ganz glaube ich die Story nicht, denn die von Daimler für die deutsche Luftwaffe gebauten 6-Zylindermotoren waren wesentlich stärker.
Doch deshalb bringe ich den mutmaßlichen „Joswin“ ja auch als Rätselfoto.
Zwar hat Matthias Schmidt sehr wahrscheinlich mit seiner Markenzuschreibung ins Schwarze getroffen. Die Kombination aus gerundetem Spitzkühler, außenliegenden Auspuffrohren und markant gezeichnetem Vorderkotflügel mit angedeuteter seitlicher Schürze – das allles passt perfekt zum Joswin in der Neuauflage des Oswald.
Doch woher stammten die Motoren wirklich? Kann es sein, dass Joswin diese direkt von Daimler bezog, wo man ja zeitgleich ebenfalls ein 28/95 PS-Modell mit über 7 Liter großem Sechszylinder im Programm hatte?
Jetzt sind Sie an der Reihe, liebe Leser. Mehr kann ich nämlich zu dem Wagen auf dem heutigen Rätselfoto nicht beisteuern – nur dass er mir in seiner hinreißenden Maßlosigkeit sehr gut gefällt…
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Hallo Michael, hallo Herr Klioba,
auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn bzw. einen Otto. Freue mich, dass ich eventuell den richtigen Typ ins Spiel gebracht habe, ohne mich allerdings konkret auf das abgebildete Fahrzeug in diesem Blog zu beziehen. Das lag daran, dass ich bei meiner damaligen Recherche zu den Otto-Wagen nur Fotos mit drei, einem oder keinem Auspuffrohr fand und auch das Mercedes-Archiv damals nicht weiterhelfen konnte. Aber die Ähnlichkeit ist schon sehr stark. Jedenfalls habe ich 2 Fotos, zweier Otto-Wagen, von denen eines dem hier abgebildeten Fahrzeug auf dem Schmidt´schen Foto sehr ähnlich ist. Vor allem auch das Kühler-Emblem. Es ist ein Werksfoto und wurde von genau der anderen Seite bei offenem Motorraum aufgenommen. Das andere meiner Fotos hat einen Otto mit drei Auspuffrohren auf einer Seite, mit dem Ehepaar Otto am Steuer. Diese Gemeinsamkeit hielt nicht lange. Frau Otto ließ sich scheiden, Gustuv Otto nahm sich 1926 das Leben.
KD
Das ist ja interessant! Dann wäre der im „Oswald“ abgebildete Wagen falsch bezeichnet (nicht als einziger). Vom „Otto“ kann uns KD noch weitere Aufnahmen bieten, wie ich weiß. Ihnen schon jetzt besten Dank!
Hallo Herr Schlenger,
„KD“ hatte den richtigen Riecher. Ich habe in meiner Sammlung ein (leider verunstaltetes) Bild aus einer ebay-Auktion, das genau diesen Wagen von der rechten Seite zeigt und mit dem zeitgenössischen Stempel „Starnberger Automobil-Werk A.-G. (Otto-Werft)“ versehen ist. Es handelt sich also nicht um einen Joswin, sondern um einen Otto 27/85 PS von 1923/24. Das Bild sende ich Ihnen per Mail zu.
Das klingt deutlich plausibler als die „Wir halbieren einfach mal den Hubraum von 14 auf 7 Liter“-Story – besten Dank! Generell ist davon auszugehen, dass es von bewährten Konstruktionen Ausführungen mit ab Werk unterschiedlichem Hubraum gab. Das passt auch zu den überlieferten Motorisierungen von 60, 75 und 95 bzsw. 100 PS beim Joswin. Vermutlich wurden durchweg Aggregate mit obenliegender Nockenwelle und Königswelle verbaut, die konstruktiv weitgehend den großen Flugmotoren entsprachen, aber deshalb nicht identisch mit diesen sein mussten. Gut möglich, dass eine Variante der erwähnte kleine Daimler-Flugmotor war (wohl für Schulungsmaschinen), die anderen waren eventuell daran angelehnte oder daraus abgeleitete Motoren, wie sie auch in anderen PKW dieses Kalibers verbaut wurden. Vom parallel zum Joswin angebotenen Daimler 28/95 PS-Typ wird teilweise ebenfalls berichtet, dass es sich um einen Flugmotor gehandelt habe, was aber nicht zutrifft. Man muss also skeptisch sein und eine differenzierte Sicht einnehmen. Vermutlich könnte die Motornummer des Joswin in der Sammlung Louwman einen Hinweis darauf geben, woher das dort verbaute Aggregat wirklich stammte.
Hallo Herr Schlenger,
das Flugzeugforum teilte mir mit, dass es von Daimler den Flugmotor DF 80 gab. Der „DF80“ Motor, soll 7,2 Liter und um die 95Ps gehabt haben, bei diesem hätte man nichts ändern müssen.
Leider kann man hier keine Bilddateien posten, sonst hätte ich eine zeitgenössische Anzeige für einen Joswein aus den 1920er Jahren angehängt, in der ein Flugmotor als Aggregat explizit genannt wird.
Schöne Grüße,
KD
Ja, das wird heute so bisweilen gesagt und geschrieben. Technisch ist so eine Hubraumhalbierung prinzipiell machbar, aber in der Praxis extrem aufwendig, u.a. weil Ein- und Auslass neu konstruiert werden müssen. Ohne Verweis auf eine historische Quelle halte ich das für unplausibel, zumal wie gesagt Sechszylindermotoren dieser Größenordnung damals von einigen deutschen PKW-Herstellern (inkl. Daimler) in Serie gefertigt wurden. Davon unabhängig gab es nach dem 1. Weltkrieg einige Automobile, die von Flugmotoren mit unverändertem Hubraum angetrieben wurden, zwar gedrosselt, aber immer noch weit über 100 PS leistend, was ja auch Zweck der Übung war. Vgl. den Stoewer D7 mit Argus-Flugmotor.
Hallo Herr Schlenger,
Sie schreiben (11:49 Uhr):
„Daimler-Motor sicher, nur kein echter Flugmotor.“ Die Frage ist: Was ist echt?
Sowohl laut Auskunft der Flugmotoren-Spezialisten im Flugzeugforum, wie auch lt. Aussage des Louwman Museums handelt es sich um einen genuinen Mercedes D III Sechszylinder-Flugzeugmotor, der lediglich von den urspr. 14 Liter Hubraum adaptiert wurde auf gängige Hubraummaße für Automobile.
Noch eine Anmerkung zum Kommentar von Herrn Wulff:
Ich habe eine Joswin Anzeige aus dem Berliner Börsen Courier vom April 1923, in der mit der Motorleistung von 100 PS geworben wird.
KD
Danke für die Recherche. Die Story mit dem „angepassten“ Flugmotor kaufe ich dennoch nicht. Ein 14-Liter-Aggregat reduziert man nicht einfach so auf den halben Hubraum, auch wenn es prinzipiell möglich wäre. Auch die erforderlichen Anpassungen auf Ein- und Auslass sind komplex. Wie im Beitrag erwähnt baute Daimler ja ebenfalls ein 28/95 PS-PKW-Modell und als Lieferant großvolumiger 6-Zylindermotoren für den KfZ-Bedarf des Heeres wird man davon genügend Motorblöcke gehabt haben, um für Joswin ein paar abzuzweigen. Eventuell bewarb Joswin den Wagen auf zweideutige Weise – analog zu Maybach, dessen „Zeppelin“-Modell ja ebenfalls kein Luftschiffaggregat besaß.
Daimler-Motor sicher, nur kein echter Flugmotor.
Bei einem „kleinen“ Sechszylinder hat man evtl. nur zwei außenliegende Auspuffrohre verbaut – wer weiß…
Das ist sehr bedauerlich, der Verlag hatte etliche Markenspezalisten angeschrieben, aber nur wenige haben die Chance erfasst, andere hat man wohl übersehen. Der „Oswald“ war und ist nebenbei DAS Standardwerk zu deutschen Vorkriegsautos ab 1920 – es gibt – bei allen Mängeln – nichts annähernd Vergleichbares auf dem Sektor. Vielleicht klappt’s ja bei einer künftigen Neuauflage!
Hallo,
da sich die Spezialisten in der Frage: „Flugzeugmotor – ja oder nein?“ bisher vornehm zurückhalten, stecke ich als Laie meinen Kopf mal aus der Deckung. Hilfe erhielt ich von Kollegen aus dem Flugzeugforum. Dafür besten Dank!
Ich war von vornherein dem Gedanken zugetan, dass es sich um adaptierte Flugzeugmotoren handeln könnte, nicht nur weil Daimler ja sowohl Auto- als auch Flugzeugmotoren gebaut hatte, sondern weil auch andere Flugzeugmotorenbauer wie Gustav Otto jr. nach dem Krieg, als der Bau von Flugzeugen vorerst verboten war, in den Bau exklusiver Sportwagen in Manufakturfertigung einstieg. Ich habe Belegfotos des Ottowagens in meiner Sammlung.
In einer Webvorstellung des einzigen erhaltenen Joswin heißt es:
„Die Größe des Wagens erforderte einen leistungsstarken Motor. Winsch baute in diesem Wagen einen überzähligen Mercedes D III Sechszylinder-Flugzeugmotor ein…Dieser Motortyp wurde in vielen Flugzeugen der deutschen Luftwaffe verwendet, unter anderem in der Fokker D VII…Der ursprüngliche Hubraum von 14 Litern wurde auf ein mehr oder weniger normales Maß reduziert. Schließlich standen Motoren mit 75 PS (6462 ccm) oder 95 PS (7269 ccm) zur Auswahl.“
https://louwmanmuseum.nl/joswin-limousine-uiterst-zeldzaam-en-zeer-imposant/
Als kleine Nebenbemerkung: Das Getriebe war ein Soden-Getriebe, das im Herbst 1921 in Berlin auf der ersten Automobilausstellung nach dem ersten Weltkrieg dem Publikum vorgestellt wurde. Auch Szawe, präsentierten dort Fahrzeuge die mit Sodengetriebe ausgerüstet waren.
https://www.sodengetriebe.de/getriebe/
Von Szawe stammt übrigens auch die Karosserie des im Louwmanmuseum ausgestellten Joswin. So schließt sich der Kreis.
Schöne Grüße,
KD
Eigentlich müßte es ein JOSWIN sein. Mich irritiert aber, dass lediglich zwei Auspuffrohre zu sehen sind, während alle meine JOSWIN Dokumente immer drei zeigen. Hinter dem Reserverad läßt sich mE auch nichts verstecken, sonst stünde dies zu weit von der Karrosserie ab, von Hitze / Gummi Problemen gar nicht zu reden. Zu JOSWIN: In den von mir gesammelten JOSWIN Anzeigen wird 1921 der Motor mit 24/60 PS angegeben. 1924 und 1925 gab es dann lt. Anzeigen zwei Motoren zur Auswahl: 28/95 PS und 25/75 PS. Der Unterschied zwischen der stärksten und schwächsten Motorisierung ist so groß, dass es sich kaum um den identischen Motor handeln kann, insbesondere der 1921 verbaute Motor wäre viel zu schwach für einen Flugzeugmotor. Meine Schlußfolgerung: nicht nur Flugzeugmotoren wurden verbaut, sondern auch andere Aggregate.
Zur Neuauflage des „Oswald“ (Deutsche Autos 1920-1945, Motorbuch-Verlag, 2019).
Lieber Herr Schlenger, wie hätte ich hier als Spezi des Brandenburger Fahrzeugbaus u.a. mit Brennabor (als solcher bin ich u.a. im VFV registriert und in der VFV-Info so genannt) am Buch mit wirken können ? Ich wußte schlicht nichts von dem Projekt. Zudem gab es auch leider keine Nachfrage und keine Kontaktaufnahme. Sehr sehr gern hätte ich meinen Beitrag zur Verbesserung und Erweiterung geleistet.
Hier muß ich leider feststellen, wieder wurde vom „hundertsten Autor“ solcher Werke eine Möglichkeit verpasst. Warum auch immer.
Gruß Mario
Ein auf Facebook findbares Bild des Motors des im Lowman Museum stehenden Wagens deutet mit der obenstehenden Nockenwelle darauf hin, dass es doch ein Daimler Motor sein könnte. Ebenfalls sehr interessant ist die Tatsache dass dieses Fahrzeug ein Sodengetriebe hat.