Ein „Supercar“ der frühen 1920er Jahre von FIAT

In unseren Zeiten wird gern bei jedem neuen Elektronikgerät von Innovation gesprochen. Doch abgesehen von noch mehr Unterhaltungs- und Einkaufsmöglichkeiten im Netz ist echter Fortschritt rar geworden. Das sieht man auch an der Unfähigkeit der wenigen verbliebenen Autohersteller zu bahnbrechend neuen Lösungen.

Benzineinspritzung, Fahrwerksregelung und Airbag sind alles alte Hüte – weshalb viele Leute mit 20 Jahre alten BMWs, Mercedes oder Audis im Alltag glücklich sind. Und auch wenn uns Werbeleute – und vor allem technikferne Politiker – anderes einreden wollen, sind die systembedingten Nachteile elektrischer Autos im Wesentlichen dieselben geblieben.

Umso lehrreicher ist es, sich mit dem Innovationstempo im frühen 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Damals gab es im Autobau binnen fünf Jahren Entwicklungssprünge, für die man heute ein Vierteljahrhundert oder länger braucht.

Marken wie Fiat oder Lancia – heute nur noch ein Schatten ihrer selbst – gehörten damals zu Speerspitze des Fortschritts. Wer etwa bei Fiat nur an (brilliante) Klein-und Mittelklassewagen denkt, darf sein Bild angesichts dieses Fahrzeugs korrigieren:

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© Fiat 519 der 1920er Jahre; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir einen ab 1922 in Serie gebauten Abkömmling des „Super Fiat“, den der Turiner Hersteller ein Jahr zuvor als Machbarkeitsstudie vorgestellt hatte. Der „Super Fiat“ Typ 520 verfügte über einen 90 PS starken V12-Motor mit 4 Ventilen pro Zylinder (hängend), hydraulische Bremsen an allen vier Rädern und zahlreiche weitere Finessen.

Dieses technische Meisterwerk war zugleich ein gestalterisches Glanzstück. Fiat bot hier erstmals die klassisch-elegante Frontpartie, die typisch für die Marke bis in die späten 1920er Jahre bleiben sollte. Der legendäre Lancia Lambda trug ein ganz ähnliches Gesicht, kam aber erst ein Jahr später heraus.

Damit bewegte sich Fiat in jeder Hinsicht auf Augenhöhe mit Rolls-Royce, zeitweise war der Typ 520 sogar der einzige 12-Zylinder PKW weltweit.

Nach dieser eindrucksvollen Demonstration bot Fiat mit dem oben abgebildeten Typ 519 ein äußerlich fast identisches Modell an, das allerdings einen 6-Zylinder-Motor mit 2 Ventilen pro Zylinder hatte. Die knapp 80 PS Leistung erlaubten dem über 2 Tonnen schweren Wagen eine Höchstgeschwindigkeit von annähernd 130 km/h.

Interessant ist der Vergleich mit den zeitgleichen Kompressor-Mercedes der Typen 6/25/40PS und 10/40/65 PS. Sie wiesen mit ihren aufgeladenen, kleinvolumigen Motoren eine ganz andere Charakteristik auf, die man im Nachhinein als Sackgasse ansehen muss.

Der enorme bauliche Aufwand der ersten Kompressor-Mercedes schlug sich letztlich in keiner den schweren Aufbauten gewachsenen Leistung nieder. Jedoch künden auch sie vom energischen Willen, nach dem 1. Weltkrieg die Grenze des Machbaren auszuloten.

Zurück zum Fiat 519: Rund 2.400 Exemplare konnten die Turiner bis 1927 von ihrem Spitzenmodell absetzen, wie damals üblich meist mit Manufakturkarosserien nach Kundenwunsch. Auf unserem etwas verwackelten Foto, das bei einem zeitgenössischen Concours d’Elegance entstand, ist ebenfalls eine spezielle Karosserie zu sehen:

Diese Karosseriebauart, bei der die Passagiere über ein geschlossenen eigenes Abteil verfügen, während der Chauffeur davor im Freien sitzt, wurde in Frankreich als Coupé de Ville bezeichnet, in England als „Sedanca de Ville“. Im Deutschen gab es dafür die Bezeichnung „Außenlenker“.

Auf der Ausschnittsvergrößerung sind nicht nur die Reibungsstoßdämpfer an der Achse erkennen, sondern auch die großen, verrippten Bremstrommeln. Der Fiat 519 verfügte über dieselben hydraulischen Vierradbremsen wie der „Super Fiat“ und war damit der europäischen Konkurrenz um Jahre voraus.

Heute sollen noch rund 25 Exemplare des Fiat 519 existieren – in einer auf heutige Prestigemarken fixierten Sammlerszene sind das Wagen für echte Kenner.

Literaturtipp: Fiat, von Michael Sedgwick, 1974; ISBN: 0 7134 0473 6. Das antiquarisch erhältliche Werk des englischen Automobilhistorikers widmet sich ausführlich wie wohl kein anderes Buch den Vorkriegsmodellen von Fiat. Dabei werden nicht bloß technische Charakteristika wiedergegeben, sondern die einzelnen Fiat-Typen werden in ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext dargestellt und beurteilt – ein brilliantes Buch!

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