Nach drei Tagen Hochsommer haben die Hitze-Hysteriker die erhoffte Abkühlung bekommen: Tagsüber um die 18 Grad und immer wieder Regen, so präsentiert sich der Juli derzeit in meiner Heimatregion – der hessischen Wetterau zwischen Taunus und Vogelsberg.
Mir passt das Ganze gar nicht, denn ich hatte mich gerade daran gewöhnt, beim Fahren mit offenem Fenster geföhnt zu werden und bei der Gartenarbeit die Kleidung durchzuschwitzen – beides nach meinem Gusto als der Sonne und dem Leben draußen zugewandter Geist.
Während die bessere Hälfte schon wieder zu langärmeligen Oberteilen greift, reagiere ich trotzig und wende mich heute gezielt tropischen Gefilden zu. Der geografische Ort meines Ausflugs in die automobile Vergangenheit ist zwar das Gegenteil von dem, was ich als Reiseziel gutheißen würde, aber das kann den Chronisten nicht abhalten.
So geht es diesmal ins ferne Indien in eine Gegend, wo man sich als Mitteleuropäer schon eher mit dem Klima schwertut, wenn man sich Temperatur und Feuchte vergegenwärtigt.
Und dennoch hielten sich dort lange Zeit freiwillig die Briten auf, die sich einst berufen fühlten, ihre kleine Insel als Mittelpunkt der Welt zu betrachten und von dort global in die Verhältnisse fremder Völker hineinzuregieren, die ihnen nichts getan hatten und die schon über ihre eigene Herrschaftsschicht verfügten.
Immerhin scheint Indien nach der Abschüttelung der Fremdherrschaft inzwischen ökonomisch einen Rang ereicht, welcher es immer mehr Menschen dort erlaubt, mit ganz neuem Selbstbewusstsein auf die einstigen Unterdrücker zu schauen.
Ich kann es nicht beweisen, aber ich könnte mir vorstellen, dass es den Chefs der indischen Tata Group eine Genugtuung war, den beiden 2008 erworbenen urbritischen Marken Jaguar und Landrover auf Modellebene die Traditionslinie zu kappen.
Man ist nicht mehr auf das Erbe der einstigen Kolonialherren angewiesen und kann heute nach Belieben darüber verfügen – das scheint mir die Botschaft zu sein.
So sehr ich die englische Autohistorie schätze, so sehr gönne ich es den Indern, dass sich sich auch auf diesem Sektor „freigeschwommen“ haben. Sie haben das Zeug dazu, es China nachzumachen und Europa vorzuführen, dass es bestenfalls noch als Museum taugt.
Dagegen hätte ich nichts, wenn ich nicht leise Zweifel daran hegte, dass wir selbst das nicht mehr hinbekommen. Egal, dann muss man selbst das tun, was in seinen Möglichkeiten liegt – und sei es nur in der Dokumentation der Vorkriegsautohistorie anhand alter Fotos.
Man macht schöne Entdeckungen dabei, auch wenn man dafür – so paradox es klingt – bisweilen ins indische Kalkutta des Jahres 1936 reisen muss, so ist es jedenfalls auf der Rückseite dieses Fotos überliefert:
Morris Minor von ca. 1932, Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Angeblich ist die Aufnahme auf dem Grund des Botanischen Gartens der Millionenstadt entstanden, die heute international als Kolkata bezeichnet wird.
Die bereits im 18. Jh. entstandene Anlage gehört zu den eher wenigen Sehenswürdigkeiten Kalkuttas. Jedoch konnte ich das im Hintergrund zu sehende zweistöckige Gebäude nicht identifizieren, obwohl der Botanische Garten noch einzelne Bauten der Kolonalzeit beherbergt, darunter das verwunschene Roxburgh House.
Der Holzbau mit Welblechdach hinter dem Auto könnte eine Stallung gewesen sein. Sicher ist aber, dass auf dem Trittbrett Klein-Helga sitzt, deren mutmaßlich deutschsprachige Eltern es in der Vorkriegszeit nach Indien verschlagen hatte, vielleicht waren sie Diplomaten.
Das Auto, das hier als Kulisse dient, war indessen ein Fahrzeug für einkommensmäßig „kleine Leute“ – ich konnte den Wagen als Morris „Minor“ von ca. 1932 identifizieren. Das 1928 als Konkurrent des legendären Austin „Seven“ eingeführte Modell war ein Wagen der 800ccm-Klasse und leistete je nach Motorenversion (OHC oder Seitenventiler) rund 20 PS.
Das Auto wurde stetig weiterentwickelt und war ab Sommer 1933 serienmäßig mit hydraulischen Bremsen und mit hydraulischen Stoßdämpfern ausgestattet – für einen Wagen dieser Klasse bemerkenswert wie das synchronisierte 4-Gang-Getriebe.
Da auf unserem Foto noch konventionelle Reibungsstoßdämpfer zu sehen sind (rechts neben dem Nummernschild), ist eine Entstehung um 1932 anzunehmen, was durch die Gestaltung von Kühler und Kotflügeln unterstützt wird.
Vermutlich durch das Klima bedingt hatten sich zwischen den Glasflächen der Frontscheibe Flecken ausgebreitet, die zweifelhaft erscheinen lassen, ob dieser Wagen zum Aufnahmezeitpunkt im Frühjar 1936 noch im Straßenverkehr bewegt wurde.
Immerhin wies mich ein Mitglied meiner internationalen Vorkriegsautogruppe auf Facebook darauf hin, dass das numerische Kennzeichen zu einer Zulassung in Kalkutta passe.
Außer der Ansprache der zweitürigen Limousine als Morris „Minor“ von ca. 1932 ist für mich auf dieser Aufnahme einiges unklar. Wer war die kleine Helga und wurde das Foto wirklich am angegebenen Ort aufgenommen?
Es wäre nicht das erste Mal, dass solche handschriftlichen Angaben sich als unzuverlässig erweisen – sie wurden oft erst mit einigem zeitlichen Abstand vermerkt.
Das alles ändert nichts daran, dass es sich um ein schönes Zeitdokument handelt, das von längst vergangenen Abenteuern erzählt. Freuen wir uns also über das, was wir hier an Lebens- und Liebenswertem wahrnehmen und stören uns nicht an dem, was wir nicht wissen können – so wie auch sonst im Dasein…
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
So sehr ich gelungene Auto-Exoten mag, so wenig bin ich darauf festgelegt.
Ich kann mit dem Auto als Massenware sehr gut leben, vorausgesetzt es handelt sich um ein nützliches und ansehnliches Gefährt wie etwa mein Peugeot 202 UH.
Peugeot 202 UH, aufgenommen 2015; Bildrechte: Michael Schlenger
Wenn man schon Städte und Straßen verstopft, sollte wenigstens das Auge nicht zu kurz kommen dabei.
Deshalb ist mir auch die Vorstellung einer reinen Radlerstadt ein Graus, sofern die Leute diese unförmigen modernen Rahmen aus Verbundstoffen fahren und mit schreiend bunten Kunstfaser-Klamotten die Umwelt erst visuell und später auf der Müllkippe verpesten.
Auf dieses Thema kam ich wie so oft auf Umwegen.
So war ich heute wieder in Oberitalien auf dem Weg nach Umbrien unterwegs. Hinter dem Grenzübergang in Chiasso führt die Schnellstraße Richtung Milano an Como vorbei.
Man erhascht dabei nur einen kurzen Blick auf die prächtige Stadt am Südende des Comersees. Von der am Hafen gelegenen Piazza Cavour aus bot sich in die Gegenrichtung (die moderne Straße fehlt hier noch) einst dieser Blick:
Ansichtskarte aus Como (Oberitalien) um 1950; Original: Sammlung Michael Schlenger
Neben den schönen Dampfern erfreuen hier die vielen Autos der 1930er bis ganz frühen 1950er Jahre das Herz des Altblechliebhabers. Ganz vorne stellvertreten ein Fiat „Topolino“ der Vorkriegszeit – ein immer noch erschwingliches Automobil für Ästheten.
Wie es der Zufall wollte, überholte ich wenig später kurz hinter Como den Nachfolger des Fiat Topolino – den 500 Nuova, der ab 1957 in gigantischen Stückzahlen entstand und bis heute in Italien oft anzutreffen ist.
Der Kleine hoppelte mit Tempo 80-90 auf der rechten Spur, während ich mit 130 Sachen vorbeizog. Ein Kontrollblick auf den aktuellen Verbrauch bei dem Tempo ergab übrigens 6,8 Liter – nicht schlecht für einen 150 PS starken Benziner-SUV, meine ich.
Wer moderne Verbrenner immer noch als gravierende Umweltbelastung wahrnimmt, dem sei empfohlen, in die Abgasschwaden der wenigen Autos von einst einzutauchen.
Anno 1914 wie hier im französischen Seebad Deauville – mag das gerade noch akzeptabel gewesen sein:
Ansichtskarte aus Deauville (Frankreich) um 1914; Original: Sammlung Michael Schlenger
Eine frische Meeresbrise löste hier unangenehme Gerüche rasch auf, die damals auch noch von den vielen Pferdegespannen produziert wurden, was gern vergessen wird.
Ebenfalls nicht reproduzieren lässt sich hier das Geräusch der damaligen Motoren – im Einzelfall heute reizvoll und tolerabel, vor über 100 Jahren dagegen von wenigen wirklich leisen Konstruktionen abgesehen innerorts nur lästig.
Delage, Renault und Citroen ab Mitte der 1920er Jahre; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Die beste Figur gaben noch in den 1930er Jahren massenhaft versammelte Automobile eher im Stand ab.
Auf der folgenden Aufnahme von 1934 sehen wir eine Ansammlung in Stresa am Westufer des Lago Maggiore in Oberitalien:
Ansichtskarte aus Stresa (Oberitalien) von 1934; Original: Sammlung Michael Schlenger
Ich könnte noch weitere solche Auto-Massenphänomene bringen, aber einige davon sind für andere Gelegenheiten besser geeignet.
Fast zeitgleich kam es in Deutschland zu dem Massenauflauf, auf den ich heute eigentlich hinauswill.
Dabei versammelten sich – wenn ich nicht daneben liege – ausschließlich Automobile der unter dem Dach der Auto-Union zusammengefassten sächsischen Hersteller Audi, DKW, Horch und Wanderer.
Sehen Sie selbst nach, ob ich vielleicht doch ein Fremdfabrikat übersehen habe. Lassen Sie sich nicht von dem mit „Reichswehr“-Kennzeichen versehenen Horch im Vordergrund ablenken – alle übrigen Wagen scheinen zivile Nummernschilder zu tragen:
Auto Union-Sonderschau, Foto um 1934; Original: Sammlung Michael Schlenger
Die Datierung dieses aus zwei Fotos zusammenklebten Originalabzugs lässt sich recht genau vornehmen.
Die deutsche „Reichswehr“ wurde im Frühjahr 1935 in „Wehrmacht“ umbenannt, warum auch immer, und der neben dem Horch in vorderster Reihe zu sehende Audi kann erst 1933/34 entstanden sein.
Eventuell erlauben weitere hier zu sehende Autos eine noch genauere Eingrenzung. Da ich auf Reisen keinen Zugriff auf meine Literatur habe, überlasse ich diese Recherche gern den in Sachen DKW & Co versierten Lesern.
Was mich hier nachdenklich macht, ist der militärische Kontext. Man sieht im Hintergrund einige Schirmmützenträger und die Hallen könnten zu einer Kaserne gehört haben.
Gewiss, der Krieg lag noch ein paar Jahre in der Zukunft, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass schon einmal das Thema „Zivilwagen an die Front“ geprobt wurde.
Bei besonders regimetreuen Volksgenossen sollte es bald eine Frage der Ehre sein, den eigenen Wagen zur kriegsmäßigen Verwendung abzuliefern. Skeptischere Vertreter wurden mehr oder weniger subtil mit Angeboten überredet , die man nicht ablehnen sollte.
Übrigens landeten auch Fronttriebler massenhaft bei der Truppe – man denke nur an die Adler Trumpf-Wagen oder die in Frankreich geraubten Citroens des Typs „Traction Avant“.
Citroen Traction Avant, aufgenommen bei Troyes 1940; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Die schwächer motorisierten DKWs finden sich im Krieg in heimatnahen Verwendungen wie der Ausbildung weiteren Kanonenfutters dienenden Kasernen oder Flugplätzen.
Von den ebenfalls frontgetriebenen Audis finden sich nur wenige Aufnahmen bei der Truppe, was aber schlicht daran liegt, dass diese edlen Wagen ohnehin nur in sehr geringen Stückzahlen gebaut wurden.
Mehr will ich für heute gar nicht erzählen, ich meine, dass ich genügend Material aufgefahren habe, anhand dessen Sie sich vertieft mit dem Reiz des Massenphänomens Automobil befassen können – bin gespannt, was ich alles übersehen habe…
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Im Sommer 1914 spielten die sogenannten Eliten Europas mit dem Feuer – und konnten schon bald die Flammen, die sie mit auf Konfrontation angelegten Bündnissen und naiver Selbstüberschätzung entfacht hatten, nicht mehr löschen.
Am Ende standen fast alle Kriegsparteien als Verlierer da – vielleicht abgesehen von Italien und Rumänien, die ihr Territorium ab 1918 auf fragwürdige Weise erweitern konnten.
Zu den Gewinnern zählten neben den Vereinigten Staaten letztlich nur diejeinigen, die rechtzeitig ausgewandert waren – sofern sie nicht von den Kolonialmächten England und Frankreich als Kanonenfutter wieder zurück nach Europa geschickt wurden.
Dieses finstere Kapitel in der Geschichte Kanadas, Australiens und Neuseelands sowie Indiens und etlicher afrikanischer Staaten wird gern übergangen, dabei sprechen die Soldatenfriedhöfe in Frankreich auch in der Hinsicht eine erschütternde Sprache: Eine ganze Generation junger Männer aus aller Welt wurde für einen Krieg verheizt, dessen Ziel schon nach den ersten Monaten keiner der Schreibtischtäter mehr benennen konnte.
Dass Kriege eine fatale Eigendynamik entwickeln, aus der schwer bis unmöglich wieder herauszukommen ist, weil die Entscheider davon nicht direkt betroffen sind, sollte auch den neuerdings in Europa wieder fleißigen Kriegsertüchtigern zu denken geben.
Doch leider lehrt die Geschichte nur eines: dass die Menschen nur aus dem lernen, was sie am eigenen Leib erfahren haben – und die letzte Generation, für die das noch gilt, verlässt uns gerade. So mag man auf den Teppichetagen von heute wohl die Fehler von anno 1914 wiederholen oder andere kolossale Dummheiten begehen, die Dritte bezahlen müssen.
Genug davon – wir wollen uns heute mit einem Zeitzeugen beschäftigen, der im Sommer 1914 noch einmal davon gekommen ist – während es seinem Kameraden nicht gelungen ist.
Die Rede ist von einem Tourenwagen der Eisenacher Fahrzeugwerke, deren Automobile unter dem griffigen Markennamen Dixi verkauft wurden. Hier sehen wir einen davon:
Benz und Dixi-Tourenwagen ab 1914; Originalfoto: Sammlung Jason Palmer (Australien)
Moment mal, werden jetzt die Kenner sagen – hier ist doch eindeutig ein Benz zu sehen und links daneben ein Opel oder Dürkopp – jedenfalls der Kühlerform nach zu urteilen.
Tja, was den Benz betrifft, ist der Fall in der Tat klar. Die Marke zählt neben Daimler, NAG, Opel, Protos, Stoewer und Wanderer zu den häufigsten, die auf deutschen Fotos aus dem 1. Weltkrieg vertreten sind.
Speziell Benz-Automobile wurden so oft abgelichtet, dass ich noch längst nicht alle entsprechenden Fotos aus meinem Fundus oder dem von Sammlerkollegen hier gezeigt habe – das wäre auf die Dauer langweilig, so unglaublich das klingt.
Im vorliegenden Fall wollen wir aber auch dem Benz Gerechtigkeit zuteil werden lassen – offenbar ein mittelgroßes Flachkühlermodell aus der Zeit ab 1913/14, worauf die elektrischen Parkleuchten unterhalb der Windschutzscheibe hindeuten:
Die Interpretation von Details wie der Kennung vor dem Kühler und des runden Gegenstands neben dem in Fahrtrichtung links befindlichen Vorderrads überlasse ich gern sachkundigen Lesern – ich schätze fundierte Ergänzungen und auch Korrekturen sehr.
Vielleicht findet ja sogar jemand heraus, in wessen „Garage“ das deutsche Heer hier irgendwo in Belgien oder Frankreich ungebeten „eingezogen“ war.
Noch spannender bleibt aber die Frage, was es mit dem zweiten Wagen auf sich hat, der am Rand der Szene steht, aber für mich das viel interessantere Gefährt ist.
Jason Palmer aus Australien – selber Sammler von Vorkriegsfahrzeugen und Kenner früher europäischer Fabrikate – ist der Ansicht, dass wir hier einen Dixi von anno 1914 sehen:
Naja, wird jetzt vielleicht einer selbstgewiss denken, ein Opel oder Dürkopp hatte doch einen ganz ähnlichen Kühler und überhaupt: Wo findet man denn Dokumente, die zeigen, dass Dixi damals ebenfalls so einen birnenförmigen Kühler verbaute?
Wer sich leichtfertig auf die bisher verfügbare (teils veraltete) Literatur verlässt, der kann leicht übersehen, das Dixi ab 1913/14 tatsächlich zu einer neuen Kühlerform überging. Ob das bei allen Modellen der Fall war und ob womöglich – wie bei Benz – neue und alte Form parallel angeboten wurden, das kann ich bislang nicht sagen.
Jedenfalls fand ich in der Literatur (Dixi-Kapitel aus: H. Schrader, BMW-Automobile) nur eine einzige Prospektabbildung, die einen Dixi aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg mit genau so einem Kühler zeigt (Typ S 16).
Das ist vielleicht etwas dünn, um als Beleg zu gelten, zumal reine Prospektabbildungen stets mit Vorsicht zu genießen sind, sind sie doch oft idealisierend oder zeigen in etlichen Fällen Ausführungen, die zwar angeboten, doch nie verkauft wurden.
Heute sind wir aber in der glücklichen Lage, dass uns Jason Palmer als Eigner des Fotos aus dem 1. Weltkrieg auch die Evidenz mitgeschickt hat, die den Fall sonnenklar macht.
Und nun halten Sie sich fest: Gerade noch rechtzeitig vor Ausbruch des 1. Weltkriegs verließ im August 1914 ein Dixi des Mittelklasse-Typs R12 per Schiff Europa und kam nach einigen Wochen im fernen Australien an, wo sein Aufbau von der Firma TJ Richards & Son in Adelaide vervollständigt wurde.
Das wissen wir deshalb so genau, weil dieses Auto noch im Originalzustand existiert:
Dixi-Tourenwagen Typ R12 von 1914; Bildrechte: Sammlung Jason Palmer (Australien)
Man sieht: Wer seinerzeit das Glück hatte, nach „down under“ auszuwandern, hatte eindeutig die besseren Überlebenschancen – zumindest, wenn es sich um einen automobilen Zeitgenossen handelt.
Überhaupt hat sich Australien – noch so ein Land, aus dem man in Europa praktisch nichts erfährt, außer wenn irgendwo mal wieder der Busch brennt – geradezu als „Safe Haven“ für heute rare europäische und speziell deutsche Wagen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg erwiesen. Wir kommen bei Gelegenheit darauf zurück.
Ob nun der Dixi auf dem Foto aus dem 1. Weltkrieg ebenfalls ein Typ R12 oder ein anderes Modell aus der breiten Dixi-Palette anno 1914 war, sei dahingestellt. Jedenfalls hat die Einschätzung, dass es sich um einen Dixi und nichts anderes handelt, einiges für sich.
Damit übergebe ich das Wort an die Markenspezialisten…
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Der Jaguar gehört – das wissen die Großkatzenfreunde – gemeinsam mit Löwe, Leopard und Tiger zur Familie der „pantherae“, ist aber im Unterschied zu diesen seit fast 1 Million Jahren in Amerika beheimatet. Seine Urahnen freilich stammen aus der Alten Welt.
Und ebendort bleiben wir heute auch, wenn es darum geht, einem Vorläufer des Jaguar nicht auf vier Tatzen, sondern auf vier Rädern auf die Spur zu kommen.
Als Appetithappen hier schon einmal eine Vorschau auf das fragliche Geschöpf:
Standard Flying 12 oder 20 von 1936; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Kennern ist natürlich geläufig, dass die Marke „Jaguar“ sich auf die 1922 gegründete britische Firma „Swallow Sidecar“ zurückführen ließ, welche urspünglich Seitenwagen für Motorräder fertigte. Ab 1927 bot man auch sportliche Karosserien auf Chassis von Fremdherstellern an. Dazu zählte neben Austin die altehrwürdige Firma Standard.
Die auf Rahmen und Motor von Standard basierenden Fahrzeuge von Swallow wurden unter der Marke „SS“ verkauft. Das Kürzel ließ sich als „Swallow Sidecars“, Swallow Standard“ oder „Standard Swallow“ interpretieren – britischer Pragmatismus at its best.
Der erste „SS“, der als Vorläufer der späteren Jaguar-Tradition angesehen werden konnte, war der im Herbst 1935 vorgestellte SS „Jaguar 2.5 litre“. Der 6-Zylinder-Motor und das Chassis dieses ersten als Jaguar bezeichneten Wagens (die Herstellerfirma wurde erst 1945 entsprechend umbenannt) wurden von Standard zugeliefert.
Dieses Detail – dass der erste Jaguar zwar bereits einen 6-Zylinder besaß, wie das bis zum Erscheinen der 12-Zylinder Standard für die Marke bleiben sollte, aber dieses Aggregat gar kein Eigengewächs war – das mag überraschen, oder auch nicht.
Jaguar-Freunde wissen das wahrscheinlich, aber wie der Motorspender des ersten Jaguar aussah, das dürfte vielen dann noch nicht geläufig sein.
Damit sind wir zurück bei dem eingangs gezeigten Foto, welches 1938 in Belgrad entstand. Nun nehmen wir den Wagen näher unter die Lupe:
Auch ohne profunde Kenntnis britischer Vorkriegsautomobile, die in meinem Blog nur eine Randerscheinung darstellen, da sie auf dem Kontinent vergleichsweise selten blieben, ahnt man anhand des hohen und recht schmalen Kühlers, dass es sich um ein englisches Fabrikat handelt.
Der 1934 eingeführte Hansa 1100 bzw. 1700 besaß eine sehr ähnliche Kühlerpartie, doch fiel diese deutlich breiter aus, was freilich nichts daran ändert, dass der Hansa damals wohl der deutsche Wagen mit der „britischsten“ Optik war.
Nach einigen Recherchen kam ich im Fall der Belgrader Limousine auf den „Standard Flying“ von 1935/36. Dieser besaß eine nach damaliger Mode „stromlinienförmig“ gestalteten steil abfallenden Heckpartie mit mittig geteilter Rückscheibe.
Dieses Detail ist hier leider nicht zu sehen, wofür uns die „im Weg stehende“ junge Frau freilich vollauf entschädigt. Wir sind ihr keineswegs böse, ist sie es doch, welche diesem Autofoto das Quentchen Lebendigkeit einhaucht, welches das Sammelgebiet für mich und viele Gleichgesinnte erst so reizvoll macht.
Sie mag zwar nicht die Besitzerin des Wagens gewesen sein, vielleicht war sie sogar bloß eine Passantin, die sich von ihrem Begleiter neben dem Auto ablichten ließ. Vielleicht wusste sie dennoch mehr darüber als wir.
Zumindest ich kann hier nur „Standard“ liefern – also den Hersteller und die Bezeichnung der Modellfamilie „Flying“, welche sich auf das neugestaltete Emblem der Marke bezog.
Fraglich bleibt indessen vorerst, welche Ausführung wir hier vor uns haben. Die drei Vierzylinderversionen 9, 10 und 12 (was sich auf die britischen Steuer-PS bezieht) besaßen nämlich wie der parallel verfügbare 6-Zylindertyp „20“ eine fast identische Karosserie.
Nur der Vorderwagen scheint sich in Details sowie in der Länge unterschieden zu haben. Wie man sich das genau vorzustellen hat, das konnte ich auf die schnelle nicht herausfinden.
Immerhin ist es mir gelungen, ein prächtiges Foto eines praktisch identischen Exemplars von 1936 zu finden, das die an diesem Modell seltenen Scheibenräder besitzt, die auch an dem Belgrader Exemplar zu sehen sind.
Auch die eigenwillige Gestaltung der seitlichen Luftschlitze in der Motorhaube stimmt genau überein. Inwieweit diese einen Hinweis auf die Motorisierung geben, kann vielleicht ein sachkundiger Leser sagen oder ein fleißiger Mitstreiter herausfinden.
Sollte sich am Ende ergeben, dass wir es nur mit dem „großen“ Vierzylindertyp 12, nicht aber mit dem Spitzenmodell 20 mit dem für den ersten Jaguar ausgeborgten Sechszylindermotor zu tun habe, wäre das nicht weiter schlimm.
Meine kleine Geschichte vom Urahn des Jaguar würde auch dann noch passen. Denn SS bot parallel zum 6-zylindrigen „Jaguar 2.5 litre“ 1935/36 auch einen Vierzylindertyp an, den SS „Jaguar 1.5 litre“, dessen Motor ebenfalls von Standard stammte.
Genau das war nun eine für mich erstaunliche Erkenntnis – ganz am Anfang der unter anderem für ihre seidenweichen Sechszylinder legendären Marke Jaguar stand doch tatsächlich für kurze Zeit (auch) ein Vierzylinder…
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Zur Monatsmitte steht eine neue Folge der Beckmann-Spurensuche an, die ich dank der Dokumente und Informationen von Christian Börner unternehmen darf. Er ist der Urenkel von Paul Beckmann, der 1898 im damals noch schlesischen Breslau mit dem Bau von Automobilen begann.
Die Geschichte dieser einst durchaus bedeutenden Marke ist bislang nicht umfassend und in die Tiefe gehend dokumentiert. Was ich hier in Sachen Beckmann präsentiere, kratzt sicher nur an der Oberfläche, weckt aber vielleicht bei dem einen oder anderen Sammler das Interesse und führt so hoffentlich zu neuen Materialien und Erkenntnissen.
Leider habe ich heute nicht viel Zeit, um mir ein Konzept zurechtzulegen, denn ich habe es ein wenig eilig – geht es doch morgen für rund 10 Tage auf Reisen. Doch Herr Börner hat vorgebaut und so können wir es diesmal sportlich angehen.
Die Jahre 1906/07, denen wir uns heute widmen, waren nämlich für die inzwischen florierende Firma Beckmann von Wettbewerbseinsätzen geprägt, die interessante Spuren hinterlassen haben.
Doch wollen wir bei der Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, dass Paul Beckmann bereits ab 1902 an solchen Prüfungen teilgenommen hatte und die Qualitäten seiner Wagen unter Beweis stellen konnte. Dazu übergebe ich das Wort an Christian Börner:
„Mein Urgroßvater Paul Beckmann wollte sich bereits frühzeitig durch Teilnahme an Automobil-Wettbewerben Gewissheit über die Fähigkeiten seiner Wagen verschaffen und den damit verbundenen Werbeeffekt nutzen.
Sein erster mir bekannter Einsatz war die Teilnahme an der „Qualitätsfahrt Breslau-Wien“ über eine Distanz von 450 km im Juni 1902. Die drei gestarteten Beckmann-Wagen errangen die drei ersten Preise, Beckmann kam mit seinem Mitfahrer als zweiter ins Ziel. Weiß jemand mehr über die übrigen Teilnehmer an dieser Fahrt?
Im Jahr darauf – also 1903 – nahm Paul Beckmann wiederum persönlich an der 800 km langen „Zuverlässigkeitsfahrt Breslau-Frankfurt a.M.“ teil, an der elf Fahrzeuge beteiligt waren. Von den drei ausgesetzten Ehrenpreisen fiel einer an Beckmann, die beiden anderen Preise ergatterten zwei Opel-Wagen. Auch hier wären ergänzende Informationen, zeitgenössische Berichte und Abbildungen willkommen.“
Bilddokumente konnte mir Christian Börner dann erstmals für Sporteinsätze anno 1906 zur Verfügung stellen. Hier haben wir den Chef höchstselbst auf dem beeindruckenden 40-Beckmann-Wagen mit dem er damals die „Herkomer Konkurrenz“ bestritt:
Paul Beckmann am Steuer des 40 PS-Modells, 1906; Originalabbildung via Christian Börner
Das ist das bislang mit Abstand beeindruckendste Foto eines „Beckmann“, das wir anlässlich unserer Spurensuche bewundern dürfen.
Ein Tourenwagen dieses Kalibers kann anno 1906 nicht bloß der Spleen eines lokalen Nischenherstellers aus Schlesien gewesen sein – Beckmann-Wagen stießen tatsächlich überregional auf Interesse, auch wenn das in der Literatur teils anders zu lesen ist.
Besagte „Herkomer-Konkurrenz“ fand im Juni 1906 zum zweiten Mal statt. Dazu wieder O-Ton von Christian Börner:
„Diese Fahrten waren Zuverlässigkeitsprüfungen auf langen Distanzen, ergänzt durch Sonderprüfungen. Für die 1906er Fahrt hatten sich sage und schreibe 155 Teilnehmer mit Fahrzeugen 46 unterschiedlicher Hersteller aus dem In- und Ausland angemeldet.
Paul Beckmann witterte die Werbewirksamkeit einer Teilnahme und hatte sich ebenfalls registrieren lassen. Die Herkomer Konkurrenz nahm ihren Ausgangspunkt in Frankfurt am Main (auf der Hanauer Landstraße an Kilometer 3, um genau zu sein) und führte dann über die spektakuläre Distanz von 1.600 km über München, Salzburg, Wien, Klagenfurt, Innsbruck zurück nach München, wobei zwischendurch diverse Sonderprüfungen zu bewältigen waren.
Hier sehen wir Paul Beckmann auf seinem wackeren 40 PS-Wagen beim Zieleinlauf nach der „Schnelligkeitsprüfung“:
Beckmann 40 PS-Modell bei der Herkomer Konkurrenz 1906; Originalabbildung via Christian Börner
Bei dieser Geschwindigkeitsprüfung auf der 5,5 km langen Strecke im Forstenrieder Park erreichte Paul Beckmann eine hervorragende Durchschnittsgeschwindigkeit von 92 km/h und damit den 7. Wertungsplatz. Dabei ließ er manche weit stärkere Wagen, z.B. von Mercedes oder Métallurgique, hinter sich.
In der Gesamtwertung der Herkomer Konkurrenz 1906 wurde Beckmann ein silbernes Ehrenschild zuerkannt – was auch immer das bedeutete.“
Der Bekanntheit der Marke im Deutschen Reich – und vielleicht sogar darüber hinaus – konnte das jedenfalls nur zuträglich sein.
Paul Beckmann sorgte anno 1906 konsequenterweise auch für einen repräsentativen Stand seiner Firma auf der Berliner Automobil-Ausstellung:
Beckmann-Stand auf der IAA in Berlin 1906; Originalabbildung via Christian Börner
Sieht so die Präsenz eines Nischenherstellers von lediglich lokaler Bedeutung auf einer der wichtigsten Automessen Europas aus?
Ganz bestimmt nicht – und von daher müssen Beckmann-Automobile mehr Spuren hinterlassen haben als die wenigen, die sich in der kargen und veralteten Literatur zu der Marke finden.
Christian Börner weiß zu berichten, dass die Marke Beckmann auch das Jahr 1907 wieder „sportlich“ angehen ließ.
„Im Januar 1907 fand in Schweden eine äußerst anspruchsvolle Winter-Fernfahrt von Stockholm nach Göteborg über 515 km statt – der Schwedische Winterpokal)
Daran nahm ein gewisser H.P. Janek aus Helsingborg mit seinem Beckmann-Doppelphaeton 12/14 PS teil. Er startete zwar mit der Nummer 1, musste aber auch bereits als erster schon nach 8 Minuten aufgeben – ein glatteisbedingter Unfall setzte seinen Ambitionen ein jähes Ende.“
Hier haben wir den Unglücksraben beim Start:
Beckmann 12/14 PS beim Schwedischen Winterpokal 1907; Originalabbildung via Christian Börner
Interessant ist diese Episode natürlich deshalb, weil sie den wohl ersten dokumentierten ausländischen Besitzer eines Beckmann zeigt. Auch in dieser Hinsicht sind weitere Dokumente wünschenswert, die im Idealfall noch frühere Beispiele dafür liefern.
1907 fand zudem eine neuerliche Ausgabe der Herkomer Konkurrenz statt. Wieder ließ es sich Paul Beckmann nicht nehmen, selbst an dem vielbeachteten Wettbewerb teilzunehmen. Christian Börner weiß dazu folgendes:
„Insgesamt waren 189 Teilnehmer gemeldet, davon sind 161 angetreten, ins Ziel gekommen sind nach sechs Tagen lediglich 108 – offenbar fand eine harte Auslese statt.
Der Start war diesmal in Dresden, die Route war 1.818 km lang und ging über Leipzig, Eisenach, Würzburg, Mannheim, Freudenstadt, Lindau, München und Augsburg zum Ziel in Frankfurt am Main.
Eine Sonderprüfung auf Geschwindigkeit gab es abermals im Forstenrieder Park bei München, außerdem eine Bergwertungsprüfung am Kesselberg (Lkr. Bad Tölz).“
Beim Start in Dresden entstand damals diese Aufnahme des teilnehmenden Beckmann:
Beckmann 40 PS-Modell bei der Herkomer Konkurrenz 1907; Originalabbildung via Christian Börner
„In Anbetracht der großen Konkurrenz mit vielen wesentlich stärkeren Fahrzeugen, darunter 12 Mercedes, 16 Benz, je 7 Adler und Opel, war es eine achtbare Leistung von Paul Beckmann und seinem 40 PS-Phaeton, in der Gesamtwertung als 16. das Ziel strafpunktfrei erreicht zu haben. Hierfür wurde ihm eine goldene Plakette verliehen.“
Mit der Erwähnung dieser sportlichen Lorbeeren für die Beckmann-Wagen in den Jahren 1906/07 will ich die heutige Spurensuche beenden.
Zwar gab es Ende 1907 noch eine beeindruckende Neuerung der Breslauer Autofirma zu bestaunen, doch die betraf genau genommen das Modelljahr 1908 und wird daher der Ausgangspunkt, wenn wir Mitte Dezember wieder auf Entdeckungsfahrt auf den Spuren der Beckmann-Automobilbaus gehen.
Nach diesem sportlich in die Tastatur gehämmerten Blog-Eintrag werde ich mir nun einige Stunden des Schlummers gönnen, bevor es morgen (eigentlich schon heute) wieder einmal gen Süden geht. Italien lockt auch im November mit seinen Reizen…
Ende November nehme ich meine Niederschriften in diesem Online-Tagebuch wieder auf – bis dahin muss ich auf das inzwischen reichliche Material in meinem Blog und in den begleitenden Galerien verweisen – zu beidem können Sie gegebenfalls gern beitragen.
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Zurückgekehrt aus dem Süden muss ich mich in deutschen Landen stets erst wieder ein wenig einfinden. Dass wir doch alle bloß „Europäer“ seien, das behaupten nur Leute, die nichts mit den Kulturnationen unseres Kontinents anfangen zu wissen.
Gerade weil jenseits des Alpenhauptkamms und vor allem südlich der Po-Ebene so vieles großartig anders ist, zieht mich Italien von jeher so an wie kein anderes Land.
Bei der Gelegenheit sei versichert, dass der träge dahinfließende Po randvoll ist – die im Hochsommer verbreiteten Panikmeldungen erweisen sich regelmäßig als Märchen.
Wer übrigens von falscher Bewirtschaftung und Windindustrie verschonte gesunde Wälder sehen möchte, dem sei angeraten, statt der Tour an die Adria kurz vor der Küste die Abfahrt „Cesena Nord“ zu wählen und die Route nach Süden einzuschlagen – ins grüne Herz von Umbrien hinein.
Mehr als zwei Stunden lang geht es durch wildromantische Täler, die auch nach einem langen Sommer mit üppigen Laubwäldern aufwarten, bis man in der umbrischen Ebene anlangt.
Dort bietet sich dem Reisenden, Pilger oder Wanderer eine seit 2500 Jahren gepflegte Kulturlandschaft, die bis heute intakt ist:
Blick auf Spello (Umbrien) am 25. September 2023; Bildrechte: Michael Schlenger
In diese in Deutschland nur wenig bekannte Region Italiens zog es mich kürzlich wieder – diesmal weil mir der Sinn nach Entdeckungen auf zwei Rädern stand.
Dass sich dabei ausgerechnet ein Fiat 501 als einer der Höhepunkte erweisen sollte, das konnte ich nicht ahnen. Wer in meinem Blog bereits länger mitliest, weiß natürlich um die Meriten dieses frühen Großserienmodells der Turiner Firma.
Als erster europäischer Hersteller überhaupt brachte Fiat 1919 mit dem 1,5 Liter-Typ 501 ein für die Massenfabrikation geeignetes Automobil auf den Markt. Rund 80.000 Exemplare davon wurden in alle Welt verkauft.
Auch nach Deutschland mit seiner der Marktnachfrage nicht annähernd gewachsenen Autoindustrie gelangten zahlreiche Fiats dieses für seine Robustheit berühmten Vierzylindermodells.
Dort fanden sogar 501er mit Sonderkarosserie Absatz wie dieser sportlich angehauchte Tourer (ausführlicher Beitrag):
Fiat 501 Sport-Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Mit minimalistischen Kotflügeln – die ihren Namen in diesem Fall besonders verdienen – , ungewöhnlich niedriger Gürtellinie und Verzicht auf ein Trittbrett wirkt der Fiat kompakt, geradezu unscheinbar.
Dass der 501 in Wahrheit ein beeindruckend dimensioniertes Fahrzeug war, speziell in der Ausführung als serienmäßiger Tourer, das war mir lange Zeit nicht bewusst.
Sicher: mir war das Modell von zeitgenössischen Bildern vertraut, die ich im Blog besprochen habe. Doch trotz seiner einstigen Verbreitung in deutschen Landen war mir noch nie ein Exemplar in natura begegnet.
Das sollte sich erst ändern, als ich in ganz anderer Mission in Italien unterwegs war, nämlich auf zwei Rädern ganz ohne Motorkraft. Anlass dazu gab eine Veranstaltung für historische Fahrräder, die von Enthusiasten im umbrischen Foligno ausgerichtet wird.
Wem der Name Foligno nichts sagt, der sollte wissen, dass in der uralten Stadt inmitten der Valle Umbra der spätere Stauferkaiser Friedrich II. seine ersten Lebensjahre verbrachte, außerdem wurde dort die erste Ausgabe von Dantes Commedia Divina gedruckt.
Leider haben alliierte Bombardierungen der Altstadt im 2. Weltkrieg schwere Schäden zugefügt, weshalb Foligno nicht mehr mit der makellosen Schönheit anderer umbrischer Städte aufwarten kann. Dennoch ist auch dort die Identifikation mit der Region groß und Traditionen wie die Giostra della Quintana werden begeistert fortgeschrieben.
Von Foligno aus findet jährlich im September eine Ausfahrt mit klassischen Stahl-Rennrädern und sonstigen historischen Drahteseln statt – die Francescana Ciclostorica.
Auf zwei Rundkursen geht es durch die Valle Umbra – und im Fall der längeren Route auch hinauf in die über dem Tal liegenden Orte wie Assisi, Spello, Trevi und Montefalco, allesamt von modernen Entstellungen verschont und mit grandiosen Kunstschätzen gesegnet.
Der sportliche Aspekt ist nebensächlich – der Genuß der Landschaft und der guten Gesellschaft Gleichgesinnter steht im Vordergrund. Unterwegs wird wiederholt gehalten, um sich mit kulinarischen Köstlichkeiten zu stärken, wozu einer der ausgezeichneten Weine der Region gehört – also nichts für Verzichtsfetischisten.
Ich hatte mir für die Teilnahme auf Basis eines Rahmens der Torpedowerke aus Frankfurt/Main einen „Halbrenner“ gebastelt, wie er von 1900 bis 1930 beliebt war. Die Anbauteile dazu hatte ich meinem Fundus entnommen und nach eigenem Gusto montiert.
Hier präsentiert sich das Gerät vor dem Einsatz:
Torpedo „Halbrenner“ in Collepino (Umbrien); Bildrechte: Michael Schlenger
Wenn Sie sich spätestens jetzt fragen, was das Ganze mit Vorkriegsautomobilen zu tun hat, dann kann ich nur zu etwas Geduld raten – es lohnt sich auszuharren.
Ich hatte mich in Anbetracht der nicht vorhandenen Gangschaltung für den kürzeren Kurs entschieden, welcher lediglich 35 km umfasste und sich – vom kurzen Anstieg zu einem Weingut abgesehen – auf ebene Strecken beschränkte.
Am Morgen der Fahrt präsentierte sich das Wetter den über 500 Teilnehmern zunächst unfreundlich. Doch 10 Minuten nach dem vorgesehenen Starttermin hörte es auf zu regnen und nach dem frenetischen Absingen der italienischen Nationalhymne ging es auf die Reise.
Ich hatte mir ein zum Rad passendes Outfit zugelegt und noch am Vortag letzte Details wie die passende Krawatte ausgewählt – so konnte man sich als Deutscher durchaus sehen lassen, meine ich:
Start zur La Francescana Ciclostorica 2023 in Foligno: Bildrechte: Luca Petrucci
Die Fahrt gestaltete sich trotz wiederholter Regenschauer sehr erfreulich.
Das lag nicht zuletzt daran, dass die zahlreichen weiblichen Teilnehmer große Sorgfalt auf die in Italien noch ausgiebig gepflegten Äußerlichkeiten verwendet hatten, ohne welche keine den Niederungen des Notwendigen enthobene Kulturnation bestehen kann.
Mit spektakulären Hüten, Frisuren und Kleidern sowie maximal unpraktischem Schuhwerk begaben sich die Vertreterinnen des schönen Geschlechts gutgelaunt auf die von mancher Pfütze und kühler Brise begleitete Tour.
Hin und wieder war ein kurzer Zwischenhalt erforderlich, damit die lokale Polizei den Radlern freie Bahn auf den wenigen Passagen verschaffen konnte, die über öffentliche Straßen führten.
Dann ergab sich Gelegenheit, mit der Nachbarin anzubandeln oder Studien bei den Vorausfahrenden zu betreiben:
La Francescana Ciclostorica; Bildrechte: Michael Schlenger
Selbstredend mussten solcherlei Anstrengungen früher oder später dazu führen, dass sich Appetitgefühl einstellt.
Bei der von mir gewählten kurzen Tour waren gleich drei Pausen vorgesehen, bei denen man sich zuverlässig durch das regionale Angebot an Köstlichkeiten essen konnte.
Gleich der erste Halt führte zum Weingut Arnaldo Caprai, dessen Weine (keineswegs nur der lokale Sagrantino) nach meiner Einschätzung zu den besten Umbriens gehören, ohne (vor Ort) übermäßig teuer zu sein.
Um dorthin zu gelangen, war die einzige nennenswerte Steigung zu bewältigen, welche der Autor selbstredend im ersten und einzigen Gang absolvierte, während es etliche andere Teilnehmer offensichtlich weniger militant angingen:
La Francescana Ciclostorica 2023, Weingut von Arnaldo Caprai bei Montefalco (Umbrien); Bildrechte: Michael Schlenger
Jetzt sind wir quasi in Sichtweite dessen, was im Titel des heutigen Blog-Eintrags angekündigt wurde – eine Entdeckung auf zwei Rädern, welche sich als absolut beeindruckender Fiat 501 entpuppte.
Denn als wir Pedalisten auf dem Weingut der Familie Caprai angelangten, hatten sich dort zu unsere Begrüßung bereits einige Vertreter der Fiat-Dynastie versammelt.
Sie umfassten gleich drei Generationen der Turiner Automobile, obwohl zwischen dem ältesten Vertreter und dem jüngsten nur rund 20 Jahre liegen.
Die ganze Zeitspanne von 1919 bis 1939 sehen wir hier – in automobiler Hinsicht wie auch sonst eine Periode ungeheurer Umwälzungen, doch in diesem Fall vollkommen beschaulich:
Fiat Vorkriegswagen auf dem Weingut Arnaldo Caprai bei Montefalco (Umbrien), September 2023; Bildrechte: Michael Schlenger
So interessant das Nebeinander von gleich drei Versionen des Erfolgsmodells 508 „Balilla“ auch ist, gilt unsere besondere Aufmerksamkeit heute den beiden Fiats ganz links.
Sie kontrastieren in außerordentlicher Weise und illustrieren den Sprung in die Moderne, den Fiat Ende der 1930er Jahre mit dem 1100er („Millecento“) vollzog, dessen geschmeidiger und drehfreudiger Motor noch bis in die 1960er Jahre kaum verändert gebaut werden sollte.
Leider kann ich in diesem Fall nur mit einer Ausschnittsvergrößerung mäßiger Qualität aufwarten, da ich zum Aufnahmezeitpunkt noch nicht wusste, was ich daraus in meinem Blog machen würde:
Jedenfalls wird hier schlagartig deutlich, wie grundlegend sich die Gestaltungsprinzipien bei Fiat – aber auch bei anderen Herstellern – zwischen 1919 und 1939 wandelten.
Denn diese beiden Wagen stehen jeweils stellvertretend für diese Baujahre.
Dass der weit moderner geformte Millecento keineswegs ein Kleinwagen war, auch wenn er neben dem 20 Jahre älteren Tourer so wirkt, dass begreift man, wenn man einmal direkt davor steht.
Dazu bot sich bei einem späteren Halt die Gelegenheit, auch wenn sich das Wetter zwischenzeitlich gegen uns Zweiradfahrer verschworen hatte und die Aussicht auf eine Fortsetzung der Tour in einem solchen Automobil durchaus verlockend erschien:
Fiat 1100 „Musone“; Bildrechte: Michael Schlenger
Wer sich hier an den Ford „Eifel“ erinnert fühlt, liegt mit seinem Bauchgefühl nicht schlecht.
Auch Fiat folgte Ende der 1930er Jahre – wie übrigens auch Renault – stilistischen Tendenzen, welche die damals führende US-Autoindustrie entwickelt hatte.
Mit dem spitz zulaufenden Kühler sollte der Millecento bis in die späten 1940er Jahre gebaut werden. Hier haben wir ihn in Bestzustand mit originaler Zulassung in der umbrischen Hauptstadt Perugia.
So wenig es an dem markant gestalteten, technisch ausgereiften und bestens verarbeiteten 1100er Fiat auszusetzen gibt, so verblasst er mit seinen beinahe modernen Proportionen aus meiner Sicht gegen den älteren 501, der uns in eine frühe Ära mit vollkommen anderen Gestaltungsprinzipien transportiert.
So etwas wie Familienähnlichkeit will sich jedenfalls nicht erkennen lassen, wenn man dann direkt vor einem Exemplar von Fiats erstem Großserienerfolg steht:
Fiat 501 Tourer; Bildrechte: Michael Schlenger
Hätte ich die Wahl, würde ich mich für das ältere Modell entscheiden – wobei mir die Tatsache entgegenkommt, dass ich bereits Besitzer eines originalen Fiat 1100 aus den 1960er Jahren bin, dessen kultivierter kopfgesteuerter Motor wie gesagt eine Vorkriegskonstruktion ist.
Mit nur 23 Pferdestärken statt deren 32 wie im 1100er war der 501 natürlich nicht annähernd so leichtfüßig zu bewegen. Doch seine Stärken entfaltete der langhubige Motor gerade auf hügeligen Strecken, wie sie in Italien überwiegen, und früh erlangte er legendären Ruf für astronomische Laufleistungen – die damals noch aufwendige Pflege vorausgesetzt.
So begegnet einem der Fiat 501 in allen Weltregionen – selbst im fernen Australien haben einige davon überlebt. Nun stand ich in Italien endlich vor einem Original und diese Entdeckung gehörte zu den schönsten, die ich auf zwei Rädern machen durfte.
Das war eigentlich schon alles, was ich Ihnen erzählen wollte. Beim nächsten Mal kehre ich wieder zum üblichen Muster der Besprechung historischer Fotos von Vorkriegswagen zurück.
Nur für den Fall, dass Sie den Autor noch einmal in Bewegung sehen wollen, habe ich ein kurzes Video meiner Ankunft in Foligno eingefügt…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
„Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – diese überzeitliche Erkenntniss formulierte einst Goethe – der am vielseitigsten begabte deutsche Kulturmensch aller Zeiten, der im Unterschied zu anderen nur klugen Köpfen Lebensweisheit mit Lebensfreude vereinte.
Mit dem wohlwollenden Segen des Meisters aus Weimar irren, das fühlt sich doch gleich ganz anders an – vor allem, wenn man sich auf gelungene Weise zu korrigieren weiß.
Genau das werde ich heute tun, liebe Leser. Die Abonnenten unter Ihnen hatten kürzlich noch das exklusive, doch letztlich zweifelhafte Vernügen, einen prächtigen Sport-Tourer von Mitte der 1920er Jahre als Austro-Daimler ADM verkauft zu bekommen.
„Unterwegs mit Franzy„, so war der inzwischen gelöschte Blog-Eintrag betitelt und führte unter anderem an den Wörthersee im schönen Österreich. Diesen Teil der Geschichte muss ich nicht neu schreiben, auch die hübsche Franzy wird wieder darin vorkommen!
Doch führt uns die Reise diesmal nicht von Wien – dem Sitz von Austro-Daimler – an den Wörthersee, sondern sie beginnt im französischen Suresnes westlich von Paris. Wie konnte es zu einer solchen Kursänderung kommen?
Nun, ich will sie an meiner Irrfahrt teilhaben lassen, damit Sie sehen, dass ich durchaus meine Gründe hatte, zunächst Wien für den Ausgangspunkt der Tour mit Franzy zu halten.
Auch wenn es die Geschichte geografisch komplizierter macht, muss ich außerdem noch einen Abstecher ins bayrische Augsburg machen. Dort nahm die Sache nämlich auf gewisse Weise ebenfalls ihren Anfang und zwar hiermit:
Austro-Daimler ADM Sport-Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Diese außergewöhnliche Aufnahme wollte ich eigentlich noch eine Weile für mich behalten – jetzt brauche ich sie, um besagten Irrtum zumindest erklärbar machen zu können.
Dieser sportlich flach gehaltene Tourenwagen mit gepfeilter Frontscheibe und dynamisch wirkendem Türausschnitt ist nämlich eine besonders attraktive Variante des Austro-Daimler Typ ADM, der ab 1922 mit einem hochkarätigen 6-Zylindermotor mit Ventilsteuerung über obenliegende Nockenwelle angeboten wurde.
Der Typ ADM wurde vor allem als klassischer Tourenwagen verkauft, wie hier zu sehen:
Es handelte sich um den ersten Wagen der Wiener Marke, welcher nach dem 1. Weltkrieg ohne den bis dato noch verbreiteten Spitzkühler (Typen AD6-17 und ADV) daherkam.
Anfangs leistete das Modell nur 45 PS aus 2,6 Liter Hubraum, doch legte man rasch nach, da der Motor erhebliche Leistungsreserven bot und das Publikum nach deutlich mehr verlangte, um souverän Fernreisen und Alpenpässe absolvieren zu können.
So könnte das oben abgebildete Exemplar bereits über die Zweivergaser-Ausführung verfügt haben, die den Ansprüchen eher angemessene 60 Pferdestärken bot.
Doch woran ist denn so ein Austro-Daimler ADM zu erkennen, abgesehen vom markentypischen Flachkühler, den auch das spätere Modell ADR besaß?
Nun, ansatzweise ist das für den geschulten Betrachter bereits auf der obigen Aufnahme aus dem Fundus meines Sammlerkollegen Matthias Schmidt zu erkennen.
Besser sieht man es indessen auf der folgenden Aufnahme aus meinem eigenen Bestand:
Austro-Daimler ADM (linkes Fahrzeug); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Auch wenn diese Aufnahme dazu einlädt, sich mit der unbekannten dunklen Limousine mit sechs Seitenfenstern und drei Sitzreihen zu befassen, widmen wir unsere Aufmerksamkeit dem Tourer dahinter.
Unverkennbar wieder ein Austro-Daimler, doch diesmal ist das entscheidende Merkmal gut sichtbar, das ihn von seinen äußerlich ähnlichen Nachfolger ADR unterscheidet.
So ist die Hinterachse dieses Wagens am Ende einer Längsblattfeder angebracht, deren vordere Aufhängung sich weit vorne befindet. Diese sogenannte Cantilever-Aufhängung findet sich bevorzugt bei Wagen jener Zeit mit sportlicher Charakteristik.
Der auf den Austro-Daimler ADM folgende Typ ADR besaß dieses Detail nicht, seine Pendelachse wies Querblattfedern auf.
Besagte Cantilever-Federung findet sich auch an dem raffinierter geschnittenen Austro-Daimler ADM Sport-Tourer, der einst in Augsburg abgelichtet wurde. Möglich, dass es sich um die ab 1924/25 angebotene 3-Liter-Version handelt, die 70 PS (später 100 PS) leistete:
Studieren Sie noch einmal die Kühlerpartie, behalten Sie die Drahtspeichenräder mit den mächtigen Bremstrommeln vorn im Hinterkopf und prägen sich die Form von Windschutzscheibe und Türausschnitt ein.
Abgespeichert? Gut, dann geht es jetzt von Augsburg gedanklich über Wien weiter, wo einst Austro-Daimler das Modell ADM fertigte.
Mit dieser naheliegenden Reiseroute im Kopf ist man dermaßen beschränkt, dass man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch den folgenden Wagen gleich als Austro-Daimler ADM mit sportlichem Tourenwagenaufbau einsortiert, oder?
Talbot DC10 Sport; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Dass es sich ebenfalls um eine Variante des Austro-Daimler ADM handeln dürfte, diese Vermutung liegt auch deshalb nahe, weil der Wagen auf einer einst in Österreich versandten Postkarte abgebildet war.
Adressatin war die fesche „Franzy“, die im Wagen zu sehen ist. Sie war die Gattin eines österreichischen Majors namens Dvorak, mit dem sie in Pörtschach am Wörthersee residierte – in der großartigen Villa Seehort, die noch existiert (gönnen Sie sich ruhig einen Blick darauf, so etwas kann heute keiner mehr).
Ebendorthin schickte anno 1929 ein gewisser Fredy die Postkarte:
Die Frau Major – also Franzy – wird hier als „tapfere Schlachtenbummlerin“ während irgendwelcher Manöver im Jahr 1929 angesprochen.
Ich vermute, dass Sie ihren Gatten bei dieser Gelegenheit im Wagen begleitete. Außerdem nehme ich an, dass sie im Haushalt Dvorak in der Villa Seehort die Hosen an und die Hand auf dem Portemonnaie hatte.
Denn ein Major – wenn es kein Generalmajor ist – ist kein hoher Offiziersrang, mit dem ein Einkommen verbunden war, welches den Besitz eines derartigen Luxuswagens ermöglichte wie dem, in dem sich Franzy offensichtlich sehr wohl fühlte:
Ein kurioses Detail auf dieser Aufnahme ist nebenbei die Schiefertafel, auf die jemand in expressiver Schrift „Heute keine Probe“ geschrieben hatte – das bezog sich auf den örtlichen Männer-Gesang-Verein.
Wenn ich es richtig lese, befand er sich in Friedberg (Steiermark), aber vielleicht irre ich mich, da ich selbst in Friedberg zur Schule gegangen bin, wenngleich in Hessen.
Ob der Soldat, der Franzy anschaut, ihr Ehemann Major Dvorak war? Und in welcher Beziehung mögen die übrigen Herren zu ihr und zueinander gestanden haben?
Wichtiger ist indessen etwas anderes: Der Kühler erweist sich trotz gleicher Grundform als nicht zu einem Austro-Daimler zugehörig. Das typische verschlungene Markenemblem fehlt, stattdessen sieht man ein unlesbares Firmenzeichen mit einer hell gehaltenen Diagonale.
Diese Gestaltung findet man nicht bei Austro-Daimler, sondern bei einer anderen Marke:
Talbot Typ DC10; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Darauf kam ich allerdings erst, als mich ein französisches Mitglied meiner englischsprachigen Vorkriegsauto-Gruppe bei Facebook darauf aufmerksam machte.
Tatsächlich handelt es sich bei dem Auto, mit dem Franzy in Österreich die Manöveraktivitäten ihres Gatten Major Dvorak verfolgte, um ein französisches Fabrikat – einen Talbot!
Damit ist klar, dass unser Ausflug an den Wörthersee im Talbot-Werk in Suresnes bei Paris begann – Augsburg und Wien hatte ich irrtümlich als Zwischenstationen angesehen.
Sehr wahrscheinlich war es ein Modell DC10, ein Vierzylindertyp mit zwar nur 1,6 Liter Hubraum, der aber dank im Zylinderkopf hängenden Ventilen eine Charakteristik aufwies, die mit 2-Liter-Wagen mithalten konnte.
Der Typ DC10 besaß wie der Austro-Daimler Vorderradbremsen eine Cantilever-Hinterradfederung (oft verdeckt, aber nicht immer), zudem waren Drahtspeichenräder mit Rudge-Zentralverschlussmutter als Extra erhältlich.
Vor allem aber gab es ihn mit einem sportlichen Tourenwagenaufbau, welcher dem des Austro-Daimler ADM sehr ähnlich sieht (Beispiel hier).
So ist am Ende der kuriose Befund zu konstatieren, dass „Franzy“ einst mit einem Franzosen unterwegs war, während ihr Mann im Dienst des Vaterlands irgendwelche Truppenübungsplätze frequentierte.
Festzuhalten bleibt: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – aber Goethe macht im Faust aus der Not gewandt auch eine Tugend, indem er sagt: „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen. Ein Werdender wird immer dankbar sein.“
Genauso verhält es sich: Alles vermeintliche Wissen ist vordergründig und vorläufig – daher traue man keinem Hohenpriester, der drohend ewige Wahrheiten verkündet, und auch keinem „Experten“, der selbstgewiss und mit schönen Worten bisweilen Irrtümer predigt…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Heute werfe ich nach längerer Pause wieder einmal einen Blick auf ein frühes Fahrzeug aus britischer Produktion. Das Mutterland der Individualisten und Exzentriker bietet natürlich auch reiche Jagdgründe, was eigenwillige Autokonstruktionen angeht – von denen viele ein erstaunlich langes Leben hatten.
Dass ein Hersteller wie Morgan im 21. Jahrhundert immer noch Fahrzeuge nach Traditionen der Vorkriegszeit baut und sogar wieder einen fabelhaften Threewheeler anbietet, das ist nur in England möglich.
Ein weit früheres Beispiel für eine Autofirma, die sich mit einem reinen Nischenkonzept entgegen alle Wahrscheinlichkeit eine ganze Weile hielt, stelle ich heute vor. Ermöglicht hat mir das der deutsche Zusender des folgenden Fotos, der ungenannt bleiben möchte:
GWK von 1913; Originalfoto aus Familienbesitz (via Ulrich A.)
Diese Aufnahme aus dem Familienalbum ist 1913 in England entstanden (eventuell im Umland von Manchester), soviel sei dazu überliefert, so Ulrich A.
Ob ich herausfinden könne, was das für ein Fabrikat sei, wollte er wissen. Und ob das eventuell ein Wagen mit Heckmotor sein können, weil sich hinter dem Fahrerabteil eine seitliche Klappe befinde.
Davon hatte ich noch nie gehört, aber warum sollte ich auch – gab es doch einst tausende von Autoherstellern alleine in Europa. Tausende, nicht etwa nur hunderte oder zwei Dutzend.
Der noch in den Anfängen befindliche Automobilmarkt entwickelte sich völlig ohne öffentliche Einflussnahme, staatliche Subventionen oder gar eine zentrale Planwirtschaft, wie sie neuerdings hierzulande (wieder) zunehmend praktiziert wird.
Niemand wusste, welche technischen Konzepte sich durchsetzen würden und welche neuen die bereits etablierten verdrängen würden. Das blieb dem freien Wettbewerb von unzähligen Tüftlern, Erfindern und Unternehmen um die Gunst der Kunden überlassen.
Unter diesen Bedingungen bekamen auch unkonventionelle Konzepte ihre Chance – manche erwiesen sich zwar als Sackgasse, bewährten sich aber eine ganze Weile in einer Nische.
So war das auch mit dem GWK-Wagen, der seinen Namen vom ersten Buchstaben der drei Gründer Grice, Wood und Keiller erhielt.
Die Herren waren sich anno 1910 einig, dass es in Großbritannien einen Markt für einen leichten Zweisitzer gibt, der über einen Mittelmotor und ein Reibradgetriebe verfügt. Damit bauten sie auf bereits existierenden Konzepten auf.
Für den Friktionsantrieb nutzte man das Patent des Amerikaners John W. Lambert aus dem Jahr 1904 (die Information verdanke ich Enrico Busuito, Turin). Er hat sogar eine Abbildung aus der originalen Patentschrift aufgetrieben:
Abbildung aus dem Friktionsgetriebe-Patent von John W. Lambert, 1904; via Enrico Busuito (Turin)
Die Idee eines solchen Reibradantriebs ist auf dem Papier bestechend einfach: Am Ende der Antriebswelle befindet sich eine beschichtete Scheibe, die eine weitere, mit der Antriebsachse verbundene Scheibe antreibt, welche im Winkel von 90 Grad auf der Oberfläche der Antriebsscheibe läuft.
Durch seitliches Verschieben der auf der Achse befindlichen Scheibe lässt sich stufenlos das Übersetzungsverhältnis zwischen den beiden rotierenden Scheiben verändern. Verschiebt man die Scheibe an der Achse über das Zentrum der Antriebsscheibe hinaus in die andere Richtung, kehrt sich die Bewegungsrichtung um, das ist der Rückwärtsgang.
In der Praxis kommt es jedoch auf die Wirksamkeit und Haltbarkeit der Beschichtung an, welche die Reibung zwischen den Scheiben sicherstellt und ein Durchdrehen vermeidet. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Form des Kraftschlusses nur für leichte Fahrzeuge mit niedriger Motorleistung in Frage kommt.
Die Herausforderung wurde von GWK so erfolgreich gemeistert, dass man schon ein Jahr nach dem Bau des Prototyps mit der Serienproduktion beginnen konnte, das war 1912.
Den Motor kaufte man von Coventry-Simplex zu. Es handelte sich um ein bewährtes wassergekühltes Zweizylinderaggregat mit 1 Liter Hubraum und 8 PS Leistung. Damit soll eine Spitzengeschwindigkeit von gut 70 km/h möglich gewesen sein:
GWK Reklame von Anfang 1913; Bildquelle: Grace’sGuide
Ab 1913 nahm die Produktion des GWK Cyclecars richtig Fahrt auf – es sollte das erfolgreichste britische Automobil mit Reibradantrieb werden.
Über 1.000 Stück davon wurden gebaut – zeitweilig war es sogar über ein Kaufhaus erhältlich. Besagtes Kaufhaus war freilich nicht irgendeines, sondern das berühmte „Harrods“ in London, wo eine solvente Käuferschicht einzukaufen pflegte.
Mir war völlig neu, dass das Nobelkaufhaus (übrigens auch architektonisch von einer Klasse, die heute keiner der angeblichen Konsum“tempel“ mehr erreicht) vor dem 1. Weltkrieg weitere Autos im Angebot hatte, darunter solche von Humber, Morris und Singer:
GWK Reklame von Anfang 1913; Bildquelle: Grace’sGuide
Nach dem 1. Weltkrieg versuchte GWK sein Glück mit einem neuen Modell, das nun einen Vierzylinder-Frontmotor (wiederum von Coventry-Simplex) besaß, aber immer noch den altbewährten Reibradantrieb.
Trotz einiger Anfangschwierigkeiten konnte man nochmals an die alten Erfolge anknüpfen und fertigte bis 1926 rund 1.700 Fahrzeuge. Die Firma als solche existierte noch bis 1931, doch entstanden ab 1927 keine Autos mehr.
Die Fabrik in Maidenhead westlich von London wurde zwischenzeitlich von Streamline Cars genutzt, wo der bemerkenswerte Burney-Stromlinienwagen mit Heckantrieb entstand.
1931 schloss GWK für immer die Tore, nachdem man im Vorjahr nochmals einen Prototypen entwickelt hatte, nunmehr einen mit Motor hinter der Hinterachse.
Was von 20 Jahren Firmengeschichte nach rund 90 Jahren bleibt, sind nicht nur die hier gezeigten Reklamen und Fotos aus privaten Familienalben. Es gibt auch noch eine Reihe überlebender GWK-Wagen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.
Einen entsprechenden Schnappschuss hat mir freundlicherweise Catherine Strutt aus Australien zur Verfügung gestellt. Sie ist selbst eine große Vorkriegsenthusiastin und hat im August 2022 diesen GWK fotografiert, dessen Besitzer sie kennt:
GWK von 1913/14; Bildrechte: Catherine Strutt (Australien)
So schlecht kann das Ursprungskonzept von GWK also nicht gewesen sein, wenn nach weit über 100 Jahren immer noch fahrtüchtige Exemplare existieren.
Ein Auto, das einst sogar im Luxuskaufhaus Harrods erhältlich war, erweist sich am Ende als vielleicht „nachhaltiger“ als das, was heute so unter diesem Label angepriesen wird.
Wenn irgendwann im energetisch und geistig verarmten Europa die Lastenräder und Rikschas wie einst in kommunistischen Musterstaaten dominieren, dann schlägt die Stunde solcher Veteranen – den Sprit dafür gibt’s dann in der Apotheke, das wusste schon Bertha Benz…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich unter dem Motto „Ganz‘ netter Versuch“ den Kleinstwagen Standard Superior vorgestellt – ein am Markt vorbeikonstruiertes Gefährt nach Entwurf des eigenwilligen Ingenieurs und Motorjournalisten Josef Ganz.
Heute ist ein auf den ersten Blick ganz ähnliches Auto an der Reihe, das jedoch meines Wissens nicht auf Ganz‘ direkten Einfluss zurückgeht.
Tatsächlich wurde das Konzept solcher heck- bzw. mittelmotorgetriebener Kleinwagen mit Einzelradaufhängung und Stromlinienoptik seit den 1920er Jahren von etlichen Konstrukteuren verfolgt.
Sie mögen sich einander beeinflusst haben, waren wie Ferdinand Porsche und Hans Ledwinka beispielsweise auch gut miteinander bekannt, aber setzten doch letzlich alle individuelle Akzente bei ihren Entwürfen auf gemeinsamer Basis.
So kam es, dass auch C.F. Borgward 1933 einen auf den Massenmarkt abzielenden Kleinwagen entwickeln ließ, der mit luftgekühltem Zweizylinder-Zweitakter und glatter Karosserie Ähnlichkeiten mit dem zeitgleich erscheinenen Standard Superior aufwies.
Dass die Rechnung nicht aufging, sieht man schon daran, dass der Wagen nur bis 1934 gebaut wurde und zeitgenössische Fotos davon äußerst selten sind. Kürzlich ist es mir gelungen, an eines heranzukommen, das nach einigen Ausbesserungen präsentabel ist:
Hansa 400 oder 500; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Bei aller Ähnlichkeit der Karosserieform fällt sofort auf, dass der Hansa wesentlich erwachsener wirkt. Tatsächlich war er dank 40 cm längeren Radstand ein vollwertiger Viersitzer, was sich vom Standard Superior nicht behaupten ließ.
Dass es sich beim Hansa nicht um einen primitiven Kleinstwagen handelte, sieht man auch am Vorhandensein einer Stoßstange und großer Chromradkappen. Äußerlich hatte Borward hier alles richtig gemacht.
Was die Motorisierung angeht, lagen der Standard Superior und der Hansa jedoch nahe beieinander. Die ersten Versionen besaßen beide einen 400ccm Zweizylinder-Zweitaktmotor mit 12 PS.
Geliefert wurde das Aggregat im Fall des Hansa von Ilo, während der Standard Superior mit einem Motor aus eigener Fertigung ausgestattet wurde. Der kleinere und leichtere Standard hatte einen Geschwindigkeitsvorteil von 5 km/h, doch das war vernachlässigbar.
Letztlich mussten sich beide von der Effizienz her ihrem stärksten Konkurrenten geschlagen geben, dem DKW F2. Dieser war nicht sehr viel teurer, war schneller und sparsamer, bot mehr Platz und war überdies in der beliebten Ausführung als Cabrio-Limousine erhältlich.
Für die begrenzte Zahl der deutschen Haushalte, für die überhaupt ein eigener Kraftwagen in finanzieller Reichweite war, erwies sich das DKW-Angebot als das rundherum überlegene. Da kam es auch auf 2-300 Reichsmark Preisdifferenz nicht an.
So sagt der zufriedene Gesichtsausdruck dieses Besitzerehepaars neben ihrer DKW F2 Limousine bereits alles über das Angebot von Hansa: „Gut, aber für uns nicht gut genug.“
DKW F2; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass DKW mit dem Frontantrieb auch das in dieser Klasse zukunftsweisendere Antriebskonzept bot.
Das dürfte Käufer in bergigen Regionen zusätzlich überzeugt haben dürfen, erst recht bei Schnee wie auf dieser Aufnahme aus meinem Fundus, welche ich hier erstmals zeige. So populär und adrett die DKW-Fronttriebler auch waren, verdienen aber auch die zum Scheitern verurteilten Versuche alternativer Kleinwagen die Dokumentation.
Im Fall des Hansa 400 (nach einem Jahr auf 500ccm erstarkt) handelte es sich immerhin um ein Fahrzeug der Kategorie „Ganz gut“, während es beim Standard Superior aus meiner Sicht leider nur für die Note „Ganz nett“ reichte…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Wir schreiben das Jahr 2021. Ein politisch unbedeutender Zwergstaat in Mitteleuropa träumt von einstiger Größe und möchte gern die Welt belehren – in punkto Bürgerrechte (die gerade im eigenen Land abgeräumt werden), in punkto „Klimarettung“ (wofür das Land selbst irrelevant ist) und in punkto Geopolitik (obwohl das Land keinerlei Machtmittel hat).
Sie ahnen es: Die Rede ist von Deutschland.
Im dreizehneinhalb Flugstunden von Berlin entfernten Tianjin hat man für deutsche Ambitionen vermutlich nur ein Lächeln übrig. Die Millionenstadt gehört zu den wohlhabendsten in China und über den Hafen läuft ein Großteil der Exporte, von denen die Bundesrepublik längst so abhängig ist wie ein Drogensüchtiger.
Vor etwas mehr als 100 Jahren sah die Welt ganz anders aus. Die Großmächte Europas – England, Frankreich, das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn – besaßen exklusive Handelskonzessionen im seinerzeit noch Tientsin genannten Umschlagplatz.
Damit konnte das rückständige China mit Waren aller Art versorgt werden, für deren Herstellung dort das technologische Wissen und die Fachleute fehlten.
Zur Wahrnehmung der Handelsinteressen gab es damals eine kleine deutschsprachige Gemeinde in Tientsin, die über alle Annehmlichkeiten der Moderne verfügte. Dazu konnte auch ein Automobil wie dieses gehören:
Protos von ca. 1912 in Tientsin; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Datiert ist dieser Abzug, den mir Matthias Schmidt (Dresden) zur Verfügung gestellt hat, auf November 1915. Neben dem Datum ist lediglich der Ort auf der Rückseite vermerkt.
Zur Identifikation des Wagens fehlen hier alle Anhaltspunkte. Der Aufbau als Landaulet mit halboffenem Chauffeurabteil ist in keiner Weise markentypisch – er konnte prinzipiell zu allen möglichen Automobilen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg gehören.
Immerhin verrät der harmonische Übergang von der Motorhaube zur Frontscheibe – als Windlauf, Windkappe, bisweilen auch Torpedo bezeichnet – dass dieser Wagen frühestens 1910 entstanden sein kann. Vorher stieß die Haube nämlich stumpf auf die Scheibenpartie.
Während links vor der Motorhaube der chinesische Fahrer steht – damals sicher einer der ersten seiner Profession in China – sieht man im Heck zumindest einen Teil der deutschen Familie, der dieser Wagen gehörte:
Mitten in der Fremde lebte man so europäisch, wie das nur irgendmöglich war – auf die Idee, sich an chinesischen Sitten zu orientieren, wäre kaum jemand gekommen.
Das einzige Feld, auf dem man den Chinesen nicht überlegen war – die Bevölkerungszahl – wurde damals von weitsichtigen Zeitgenossen zwar bereits thematisiert, war aber weit davon entfernt, irgendeine Relevanz außer der Größe des Absatzmarkts zu besitzen.
Was für einen Wagen wird diese deutsche Familie im Fernen Osten gefahren haben? Nun, sofern man aus der Hauptstadt stammte, war es Ehrensache, dass man auch einer Berliner Marke treu blieb.
In Frage kämen dann in erster Linie die Hersteller NAG und Protos, die auch über ein internationales Exportnetz verfügten. Im vorliegenden Fall bestätigt sich die Vermutung, denn zum Glück gibt es ein weiteres Foto aus derselben Quelle, welches den Wagen von vorne zeigt – bloß etwas früher aufgenommen, nämlich im Oktober 1913:
Protos von ca. 1912 in Tientsin; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Hier ist alles Wesentliche zu sehen, denn das opulente Jugendstilornament auf dem Kühler würde auch ohne den Schriftzug auf dem Kühlergitter klar auf die Marke Protos verweisen.
Sehr gut zu erkennen ist hier übrigens, dass der erwähnte Windlauf noch vergleichsweise steil aufragt. Dies spricht für eine Datierung bis etwa 1912, da kurz vor dem 1. Weltkrieg allgemein die Haubenoberseite und der Windlauf bereits eine Linie bildeten.
Schwierig zu beantworten ist die Frage, um was für einen Typ es sich bei diesem Protos handelt. Ausschließen darf man den zwar verbreiteten, aber recht kleinen Vierzylindertyp G2 mit lediglich 18 (später: 22) PS.
Die Spitzenmodelle E1 und E2 mit sehr leistungsfähigen Vier- bzw. Sechszylindermotoren (4,6 bzw. 6,8 LIter Hubraum) kommen meines Erachtens ebenfalls nicht in Betracht. Sie besaßen meist auch kräftiger ausgeführte Vorderkotflügel.
So dürften wir es am ehesten mit einem der mittleren Typen 10/22 und 12/26 PS (zuletzt 30 PS) zu tun haben, die bis 1912 gebaut wurden.
Immerhin sind die Vornamen der beiden Insassen auf der zweiten Aufnahme bekannt: Eduard und Lulu. Das gibt diesem schönen Foto noch eine zusätzliche persönliche Note, die ich bei solchen Dokumenten immer schätze.
Was aus diesen Mitgliedern der kleinen deutschen „Kommune“ in Tientsin während des 1. Weltkriegs und danach wurde, darüber ist leider nichts bekannt. Es kann gut sein, dass sie ihre einstige privilegierte Stellung verloren wie so viele ihrer Zeitgenossen.
Insofern mahnen diese beiden Fotos uns Nachgeborene, unsere heutige Lage realistisch einzuschätzen und dem wirtschaftlichen und technologischen Giganten China mit Respekt und Demut zu begegnen, denn Europas große Zeit ist definitiv vorbei.
Wer sich für die Geschichte des 2. Weltkriegs interessiert – weil man dabei (auf allen Seiten) das Schlechteste und Beste im Menschen komprimiert studieren kann – der wird beim Stichwort „Enigma“ nicht an irgendein Rätsel denken, erst recht kein automobiles.
Die Enigma war eine deutsche Maschine zur Verschlüsselung und Entschlüsselung militärischer Funkbotschaften, die der Gegner zwar mithören, aber nicht verstehen und lange Zeit auch nicht dekodieren konnte.
Man war in Deutschland sehr zufrieden mit diesem genialen Gerät und wie immer, wenn man sich aus Hybris für überlegen hält, läuft man Gefahr, über kurz oder lang von anderen genialen Geistern überflügelt zu werden – so auch im Fall der Enigma.
Die Briten setzten erhebliche Ressourcen ein, um den Enigma-Code zu knacken und kamen der Auflösung auch schon recht nahe, doch dauerte die meist nur teilweise mögliche Entschlüsselung zu lange, um militärischen Nutzen darauf zu ziehen.
Wie so oft bewirken kleine Vorkommnisse in der Geschichte Großes – eine Erfahrung, die auch angesichts gegenwärtiger Verhältnisse vielleicht etwas hoffnungsfroh stimmt.
So gelang es, aus einem deutschen U-Boot, das bei einem britischen Luftangriff beschädigt und von der Besatzung bereits aufgegeben worden war, ein Exemplar der Enigma mit den Kodierrollen unversehrt zu bergen.
Damit waren die Alliierten nun in der Lage, die Funksprüche der deutschen Kriegsmarine in Echtzeit mitzulesen und wussten speziell über die Standorte der U-Boote genau Bescheid.
Die Folge waren sich massiv steigernde, oft erfolgreiche Angriffe aus dem Nichts heraus. Diese ließen zwar an der Front Zweifel an der Sicherheit der Enigma aufkommen, aber für die Schreibtisch-Herrenmenschen in Berlin war es undenkbar, dass die „Tommies“ den verschlüsselten deutschen Funkverkehr abhören konnten.
Daraus lernt man zweierlei: Zum einen hüte man sich vor Selbstüberschätzung – bei den „Eliten“ im längst zum Zwergenstatus geschrumpften Deutschland immer noch virulent – zum anderen unterschätze man die Macht des Zufalls nicht.
Damit wären wir endlich beim Enigma, um das es heute eigentlich geht – dieses hier:
Hupmobile „Century Eight“ von 1929; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Eine schöne Aufnahme wie diese weckt stets mein Interesse – nicht nur, weil ich gelungene Beispiele für das alte Thema „Paar posiert vor dem PKW“ mehr mag als meist seelenlose Aufnahmen von Automobilen allein.
Nein, hier hatte ich auch gleich erkannt, dass dieser Wagen kein leichter Fall sein würde, was die Identifizierung von Hersteller und Typ angeht. Solche Exemplare erwerbe ich besonders gern, wenn der Preis niedrig angesetzt ist (d.h. um die 5 EUR).
Vom Stil des Aufbaus lag ein Fahrzeug der späten 1920er Jahre nahe. Nun kenne ich mich mit den gängigen Wagen aus dem deutschsprachigen Raum einigermaßen aus und konnte keinen passenden Kandidaten finden, obwohl einige Marken wie Horch oder Adler stilistisch vergleichbare Automobile fertigten.
Französische oder englische Wagen wiesen damals meist deutliche Eigenheiten auf. Auch belgische Fabrikate wie Minerva ließen sich ausschließen, obwohl sie Ende der Zwanziger ebenfalls eher dem US-Stil folgten.
Damit blieb nur ein US-Fahrzeug als wahrscheinlichster Kandidat – da die amerikanischen Hersteller damals genau diese Ästhetik pflegten, die von den bis dato meist rückständigen deutschen Marken eifrig kopiert wurde.
So finden sich die nach hinten versetzten Luftschlitze in der Motorhaube nicht nur beim sächsischen Horch 8 Typ 375 von 1929, sondern schon ab 1926 beim amerikanischen Cadillac.
In Verbindung mit den Initialen „VW“ oder „MW“ auf den Radkappen sollte sich doch das mutmaßliche US-Fabrikat ermitteln lassen, so dachte ich:
Doch weit gefehlt. Auch die über 1.600 Seiten starke „Bibel“ mit den wichtigsten der einst abertausenden US-Vorkriegsautomarken („Standard Catalog of American Cars“ von Kimes/Clark) lieferte keinen passenden Herstellernamen.
An dieser Stelle kommt eine Institution ins Spiel, die ich lange belächelt oder gar verachtet hatte (da ist sie wieder, die deutsche Arroganz….) – Facebook nämlich.
Niemand „braucht“ natürlich dieses für die Aktionäre der Firma (bin selbst im kleinen Stil einer) hochprofitable Online-Medium zur Selbstdarstellung. Man kann aber damit ziemlich geniale Sachen machen – was einem leider kein deutsches Unternehmen ermöglicht.
So kann man zu praktisch jedem noch so exotischen Sammlerthema eine Facebook-Gruppe aufmachen, der sich Gleichgesinnte auf der ganzen Welt unkompliziert anschließen können und in der man sich – ganz privat und ungestört – über alle Aspekte des Hobbys austauschen kann, mit Tipps und Bildern, Videos und Angeboten.
Die internationalen Mitglieder beider Gruppen haben in etlichen Fällen binnen kürzester Zeit Fahrzeuge identifiziert, an den ich mir die Zähne ausgebissen hatte. So dauerte es im vorliegenden Fall nur einen Tag, bis ein Kenner aus den USA das Enigma geknackt hatte.
Er verwies darauf, dass die Radkappen wahrscheinlich Zubehörteile waren, auf denen der Besitzer seine eigenen Initialen oder die seiner Firma hatte gravieren lassen. Davon abgesehen entspreche der Wagen zu 100 % dem 1929er Modell „Century Eight“ des unabhängigen amerikanischen Herstellers Hupmobile.
Tatsächlich finden sich alle Details exakt auf zeitgenössischen Aufnahmen dieses 80 PS leistenden Wagens der gehobenen Mittelklasse (nach US-Maßstäben) wieder. Das 1929er Modell markierte freilich auch das Ende des rapiden Wachstums, das die seit 1909 existierende Nischenmarke aus eigenen Kräften hingelegt hatte.
Bis 1941 sollte die Agonie der Marke noch anhalten – im selben Jahr gelang es übrigens , eine Enigma aus dem deutschen Unterseeboot U-110 zu bergen.
Wer sich nun nicht in die überaus spannende Geschichte der Enigma des 2. Weltkriegs vertiefen will, dem bleibt vielleicht noch Zeit für ein ausführliches Videoporträt eines erhaltenen Hupmobile des Typs „Century 8“ von 1929:
Nachtrag: Das Rätsel der Radkappen ist ebenfalls gelöst worden: Dabei handelt es sich tatsächlich um Zubehörteile, die von Kelsey-Hays gefertigt und unter dem Markennamen „Motor Wheel“ vertrieben wurden – daher das „MW“-Akronym.
Für den heutigen Blogeintrag hatte ich eigentlich ein majestätisches Automobil französischer Provenienz vorgesehen – stattdessen befasse ich mich mit einem ganz und gar bürgerlich erscheinenden Fahrzeug.
Immerhin stammt es ebenfalls aus Frankreich, wenngleich es kein reinrassiger Gallier mit Stammbaum bis zurück zu Vercingetorix ist. Vielmehr trägt es helvetische Gene in sich, doch das macht es interessant und – für mich als Bewunderer schweizerischen Bürger- und Geschäftssinns – zusätzlich sympathisch.
Man mag sich an dieser Stelle fragen, weshalb ausgerechnet die Schweizer mit ihrer technischen Exzellenz und Qualitätsversessenheit nur wenig zur Entwicklung des Automobils beigetragen haben.
Ich vermute, es hat nicht nur mit der geringen Größe des Landes zu tun, sondern auch mit dem allgemein noch niedrigen Entwicklungsstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Schweiz zunächst keinen ausreichenden Absatzmarkt darstellte.
Der Hersteller, um den es heute geht, ist der schlagende Beweis dafür, dass Wille und Können durchaus vorhanden waren, aber das Betätigungsfeld im eigenen Land fehlte. Dass ich das auf sehr gefällige Weise illustrieren kann, verdanke ich Leser Klaas Dierks.
Er schickte mir heute ein Foto zu, das er gerade an Land gezogen hatte, und wollte wissen, was für ein Auto das sei, das mit schweizerischem Kennzeichen darauf zu sehen ist:
Zedel um 1920; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
Die Aufnahme zeichnet sich durch das noble Ambiente aus – eine barocke Anlage, die ich weniger in der Schweiz als in Frankreich verorten würde – vielleicht erkennt jemand den Bau.
Der Tourenwagen ist geschickt platziert, er wurde gleichermaßen als Gefährte der Personen inszeniert, die daneben abgelichtet sind. Das Auto ist denkbar schlicht gezeichnet und würde in einem anderen Umfeld vielleicht etwas bieder wirken, doch so kommt er würdevoll daher – und im gehobenen Bürgertum dürfen wir auch die Insassen vermuten.
Aber was ist das nun für ein Fahrzeug? Zunächst lässt es sich anhand äußerlicher Merkmale zeitlich recht gut einordnen. So weist es noch einige stilistische Elemente der Zeit vor dem 1. Weltkrieg auf, die Gestaltung der Vorderkotflügel beispielsweise:
Andererseits verweisen die elektrischen Scheinwerfer und die moderne Form des Kühlers auf die Nachkriegszeit. Das Fehlen von Vorderradbremsen verrät, dass dieser Wagen vor Mitte der 1920er Jahre entstanden sein muss.
„Frühe 1920er Jahre“ würde ich an dieser Stelle als vorläufiges Fazit einer rein stilistischen Betrachtung ziehen. Doch zum Glück geht es noch etwas genauer.
Vermutlich haben Sie bereits das Emblem in der unteren Ecke des Kühlers bemerkt, das die Buchstaben Z und L enthält. Das stand aber nicht für „Zürcher Ladykiller“ oder was auch immer man dahinter vermuten könnte.
Vielmehr war das der Name des Herstellers, allerdings etwas anders ausgesprochen: „ZEDEL“. Hinter diesem Kürzel verbargen sich die Namen der beiden Gründer der Firma Zürcher & Lüthi & Cie SA, Ernest Zürcher und Hermann Lüthi.
Sie verlegten ihre Motorenproduktion 1903 ins unweit der schweizerischen Grenze gelegene Pontarlier in Frankreich, das den weit größeren Markt repräsentierte und den Verkauf ohne Einfuhrzölle ermöglichte. 1906 begann ZL dort mit der Fabrikation von Autos.
Bis 1908 entstanden auch einige Exemplare in der Schweiz, aber offensichtlich lohnte sich die Produktion nicht. Nach dem 1. Weltkrieg (1919) entwickelte ZL zwei neue Typen mit Vierzylinder-Hülsenschiebermotor (nach Knight-Patent).
Da ZL 1923 von Donnet übernommen wurde und die dort weitergebauten Modelle als Donnet-Zedel firmierten, muss der ZL auf dem Foto einer dieser frühen Nachkriegstypen sein – ein C 11CV (2,1 Liter) oder ein P 15CV (3,2 Liter).
In beiden Fällen handelte es sich um Wagen traditioneller Bauart, die nur die relative Laufruhe ihrer ventillosen Schiebermotoren auszeichnete. Wäre da nicht der Kühler, hätte dieses Auto ein beliebiger Tourer sein kann, wie er so auch in Deutschland gebaut wurde.
Doch da wir wissen, dass es sich um einen Zedel aus Frankreich (mit schweizerischen Genen) handelt und das Umfeld so aristokratisch wirkt, besitzt dieses Fahrzeug einen gewissen Adel, den ein äußerlich ganz ähnlicher Brennabor Typ P etwa nicht hat.
Die einstigen Besitzer werden indessen in gediegenen bürgerlichen Verhältnissen gelebt haben – nicht vom Luxus verwöhnt, doch materiell weit überdurchschnittlich ausgestattet:
Wie steht es aber nun um reinrassige schweizerische Automobile der Vorkriegszeit? Nun, auch dazu hat sich etwas gefunden, doch zuvor habe ich noch einige andere Sachen in petto. Und eingangs erwähnter „echter“ Gallier will auch noch gewürdigt werden…
Wenn ich heute ein wenig automobile Ahnenforschung betreibe, ist das nicht nur mit einiger Hin- und Herreiserei über den Atlantik verbunden – es geht dabei auch rund 350 Jahre zurück in die Vergangenheit:
1658 kam in einem Städtchen in der südfranzösischen Region Okzitanien ein gewisser Antoine Laumet auf die Welt. Als junger Mann studierte er nach kurzer Militärkarriere Rechtswissenschaften.
Aus obskuren Gründen wanderte er in die französische Kolonie Acadia an der nordamerikanischen Ostküste aus. Dort schlüpfte er in die Identität eines Adligen aus seiner Heimatregion und nannte sich fortan Antoine de la Mothe, Sieur de Cadillac.
Unter diesem Namen führte er eine schillernde und in weiten Teilen fragwürdige Existenz als Händler, Entdecker und Militärbefehlshaber. Als solcher vollbrachte er zumindest eine Tat, die ihm bleibenden Ruhm verschaffte. So gründete Antoine de la Mothe, Sieur de Cadillac, im Jahr 1701 das Fort Pontchartrain du Détroit.
Damit dürfte klar sein, woher der die 1902 in Detroit gegründete Marke Cadillac ihren Namen hatte. Sogar das von Antoine de la Mothe erfundene Familienwappen wurde als Logo übernommen – so erinnert noch heute jeder Cadillac an einen Hochstapler.
Auf diesem Cadillac von 1930 prangt das Wappen gleich zweimal – auf dem Kühler und auf dem Deckel, der die Öffnung für die (nur im Notfall benötigte) Starterkurbel verschließt:
Cadillac von 1930; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Es ist eine Ironie, dass dieser majestätische Luxuswagen einst ausgerechnet im sogenannten „Arbeiter- und Bauern-Staat“ DDR überlebt hat, der so „demokratisch“ war wie der Adelstitel von Antoine de la Mothe, Sieur de Cadillac, echt war.
An der Frontpartie dieses Cadillac sind also gleich mehrere Lügengebäude verewigt. Der Qualität und Schönheit des Wagens mit seinem Achtzylindermotor (knapp 100 PS) tut das freilich keinen Abbruch – er trägt dieses historische Erbe mit Würde.
Bevor es nochmals zurück über den Atlantik auf Ahnenforschung geht, nutze ich die Gelegenheit, um ein zweites Foto desselben Cadillac aus dem Modelljahr 1930 zu zeigen:
Cadillac von 1930; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Hier begegnet uns nicht nur das erfundene Familienwappen von Antoine de la Mothe, Sieur de Cadillac, auf der Nabenkappe wieder – wir sehen auch die durchgehende Reihe an Luftschlitzen, an der das Modelljahr zu erkennen ist.
In vorangegangenen Modelljahren (seit 1926) reichten die Luftschlitze beim Cadillac nämlich stets nur bis zum Beginn des vorderen Haubendrittels. Einen entsprechenden Vergleich anhand mehrerer Fotos bringe ich bei Gelegenheit.
Nun aber nochmals zurück ins Dunkel der Geschichte – ins Jahr 1643. Damals wurde in Rouen (Normandie) ein gewisser René Robert Cavelier geboren. Nach kurzem Aufenthalt als Novize im Jesuitenorden brach auch er nach Amerika auf.
Zwar wechselte er ebenfalls zwischen diversen Professionen hin und her, doch letztlich machte er sich einen bleibenden Namen als Erforscher der Großen Seen und des Mississippitals bis hinunter zum Golf von Mexiko.
Im Unterschied zum Sieur de Cadillac erhielt René Robert Cavelier einen echten Adelstitel und durfte sich von nun an nach einem Familienanwesen in der alten französischen Heimat Sieur de La Salle nennen.
Auch wenn La Salle keinen direkten Bezug zur späteren US-Autometropole Detroit aufwies, wurde er zum Namenspatron einer dort neu geschaffenen Marke, die 1927 im General Motors Konzern zwischen Buick und Cadillac platziert wurde.
Auch für LaSalle musste das Familienwappen des Namensgebers herhalten, welches immerhin authentischer war als das des Sieur de Cadillac. Man findet es von Schwingen eingerahmt auf dem Kühler auch dieses Autos:
LaSalle Cabriolet, Modelljahr 1930; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Zugegebenermaßen ist das Emblem hier kaum zu erkennen, aber auf dem Originalabzug ist es deutlich genug sichtbar.
Zudem entspricht die gesamte Frontpartie fast vollständig der des Cadillacs von 1930, sodass das abweichende Kühleremblem nur die etwas preisgünstigere Schwestermarke LaSalle als Kandidaten übrig lässt.
Die hier zu sehenden Drahtspeichenräder sind ein optionales Zubehör, ansonsten halten sich die Unterschiede in Grenzen – zumindest am Vorderwagen.
Sehr interessant ist der Aufbau als vierfenstriges Cabriolet mit geteilter Frontscheibe. Ich dachte erst an eine in Europa gefertigte Ausführung- der abgebildete Wagen besitzt ein französisches Kennzeichen – doch tatsächlich haben wir es mit einer serienmäßigen Karosserie (Series 340 All-Weather Phaeton) zu tun.
In Abgrenzung zum Cadillac des Modelljahrs 1930 war der LaSalle etwas kompakter und sein Achtyzlindermotor leistete bei gleichen Abmessungen „nur“ 90 PS. Zu den bemerkenswerten Extras zählte übrigens ein Autoradio.
Damit wären wir fast am Ende, wenn da nicht noch die Personen auf dem Trittbrett zu würdigen wären. Wie es der Zufall will, können wir auch hier Ahnenforschung betreiben, denn auf dem Abzug ist umseitig in feiner Frauenhandschrift folgendes vermerkt:
„Ma fille, son père et son fils“. Mein Schulfranzösisch reicht aus für die Übersetzung: „Meine Tochter, ihr Vater und ihr Sohn“. Das passt perfekt zum Alter der Personen:
Leider nicht überliefert ist der Rufname des Hundes, der sich hier wie die meisten seiner Artgenossen gern bei solchen Familienfotos „auf den Arm nehmen“ lässt.
Der Kleidung nach zu urteilen, könnte dieses Foto sowohl vor dem Zweiten Weltkrieg als auch kurz danach entstanden sein. Möglicherweise gibt das Nummernschild Aufschluss diesbezüglich (ggf. Kommentarfunktion nutzen).
Auch eine regionale Einordnung wäre eine schöne Abrundung dieses heutigen Kapitels zur Ahnenforschung, das zwar räumlich und zeitlich ein wenig ausgeufert sein mag, aber dafür vielleicht die eine oder andere wenig bekannte Facette zutagegefördert hat.
Jedenfalls bin ich sicher, dass Sie, liebe Leser, künftig beim Anblick eines Cadillac und seines Emblems an den fragwürdigen Charakter des Sieur de Cadillac denken müssen und ein wenig schmunzeln werden – die heutigen Besitzer solcher Wagen wohl weniger…
Auch wenn der Fund des Monats Januar noch ein paar Tage warten muss, komme ich ihm mit dem heute präsentierten Wagen schon ziemlich nahe.
Gewiss, die Autos der einstigen Norddeutschen Automobilwerke (NAW) aus Hameln gelten unter Kennern nicht unbedingt als Exoten – speziell der ab 1913 gebaute Typ „Sperber“ war einst recht verbreitet und in meiner NAW-Galerie finden sich mehr als ein Dutzend Dokumente dieses Typs.
Markenenthusiasten sind natürlich auch mit NAWs Erstling vertraut – dem 1908 eingeführten Zweizylindermodell „Colibri“. Ein Originalfoto davon habe ich (hier) bereits ausführlich vorgestellt. Angeblich verkaufte er sich einst auch im Ausland gut.
Ein veritabler Exot ist aber der „Colibri“, der Sammlerkollege Klaas Dierks auf seinen Streifzügen durch die automobile Botanik der Vorkriegszeit ins Netz gegangen ist:
NAW „Colibri“ Typ 6/15 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
Dies die erste mir bekannte historische Aufnahme, welche die ab 1910/11 (die Angaben variieren) gebaute Ausführung Colibri 6/15 PS mit 1,6 Liter-Vierzylindermotor zeigt.
Dass sich die genaue Typbezeichnung bei einem Modell wie diesem herleiten lässt, obwohl es in der Literatur und im Netz nur spärlich dokumentiert ist, hat viel mit Glück zu tun.
Werfen wir zunächst – ganz entgegen sonstiger Übung – einen Blick auf die Seitenpartie:
Glücklich schätzen können wir uns schon einmal deshalb, weil die Modellbezeichnung „Colibri“ hier gut sichtbar an der Flanke prangt. Diese außergewöhnliche Praxis findet sich beim Nachfolgetyp „Sperber“ ebenfalls (wenn auch nicht durchweg).
Recht eigenwillig ist zudem die nach innen gewölbte Ausführung der (wohl in Blech ausgeführten) Schwellerpartie zwischen Rahmen und Trittbrett. Hinter der dort annähernd mittig angebrachten Klappe befand sich vermutlich Werkzeug zur Behebung der damals noch häufigen Reifenschäden.
Charmant ist hier die „Befestigung“ des Reservereifens: dieser ruht einfach in der Vertiefung zwischen Trittbrett und Schwellerblech und ist mit einem Lederriemen lose angebunden. Das sieht schwer nach einer nachträglichen Improvisation aus.
Werfen wir nun einen Blick auf die Frontpartie, die in wünschenswerter Genauigkeit wiedergegeben ist:
Leider nur auf dem Originalabzug ist der Schriftzug „COLIBRI“ auf dem Oberteil des Kühlers zu erkennen. Ohne das Typenschild an der Flanke wäre das ein schwerer Fall, denn die Kühlerform weist keinerlei Eigenheiten auf.
Dennoch lassen sich auch hier Details festhalten, die letztlich die Ansprache als NAW „Colibri“ in der Vierzylinderausführung 6/18 PS bestätigen.
Da wäre zum einen das Seitenteil der Motorhaube, das im Unterschied zum Zweizylinder-Colibri ganz ohne Luftschlitze auskommt. Offenbar wurde hier die heiße Abluft nach unten weggeleitet, um ein glattflächigeres Erscheinungsbild zu ermöglichen.
Markant sind zum anderen die Blech“schürzen“ am vorderen Ende der Kotflügel, die verhindern sollten, dass Straßenschmutz auf die Oberseite der Bleche gelangt – ein schönes Beispiel dafür, dass auch rein funktionelle Details dem Auge schmeicheln können.
Ähnlich laufen übrigens auch die hinteren Kotflügel aus – in der Kombination war das nach meinem Eindruck eher selten.
Durch einen glücklichen Zufall findet sich nun in der Literatur(H. Schrader, Deutsche Autos 1885-1920, S. 269) eine Prospektabbildungvon 1911 (aus Sammlung Reinhard Burkart), die einen NAW Colibri Vierzylinder mit genau diesen Details und aus fast identischer Perspektive zeigt.
Zwar fehlen dort Reservereifen, Hupe, Windschutzscheibe und Beleuchtung – doch so wurde der NAW offenbar in der Basisausführung ab Werk geliefert.
Das Glück bleibt uns über diesen Zufall hinaus treu. Auch wenn dieses NAW-Modell ansonsten beinahe unauffindbar ist – eine überzeugende Darstellung der Typenhistorie im Netz ist mir nicht bekannt – wird man bei einem Enthusiasten aus Frankreich (!) fündig.
Selbst wenn man annimmt, dass die beiden jungen Damen in traditioneller Tracht eher kleingewachsen waren, wirkt dieser NAW Colibri recht groß. Zudem besitzt er einen Aufbau als Sport-Zweisitzer mit minimalistischen Kotflügeln, den man kaum beim gerade einmal 8 PS leistenden Colibri-Zweizylinder erwarten würde.
So oder so ist das ein außergewöhnliches Dokument, zeigt es doch, dass zumindest ein NAW Colibri 6/15 PS einst den weiten Weg aus Hameln in den Fernen Osten geschafft hat, wo es damals noch keine eigenständige Autoindustrie gab.
Auch in der Gegenwart hat jemand hier einen überlebenden NAW Colibri 6/15 PS sehr wirkungsvoll in Szene gesetzt – diesmal nicht in Japan, sondern daheim „im Kurpark“.
Wie immer freue ich mich über Anmerkungen, Korrekturen und Ergänzungen durch Markenkenner, damit meine Dokumentation von NAW vielleicht irgendwann dieser reizvollen Marke besser gerecht wird.
Pünktlich zu Weihnachten 2020 erreichte mich ein Brief mit einer besonderen Gabe, die ich heute vorstellen möchte. Verfasst war das Schreiben von einer Französin in feiner Handschrift und in ausgezeichneten Deutsch.
Die Absenderin – Colette Wittich – hatte mich zuvor per E-Mail um Hilfe bei der Identifikation eines Autofotos gebeten, das sie im Nachlass ihres verstorbenen Mannes gefunden hatte, der Deutscher war.
Anhand der Bilddatei konnte ich ihr mitteilen, dass die Aufnahme eindeutig einen NSU aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zeigt, eventuell ein Modell 6/30 PS oder 7/34 PS.
Daraufhin bedankte sich Frau Wittich herzlich und überraschte mich sodann mit besagter Weihnachtspost, die das Foto im Original enthielt.
„Es gehört von nun an Ihnen und Sie können nach Belieben darüber verfügen. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie es veröffentlichen.“
Selten hat mich eine Leserzuschrift so berührt. Mir wurde damit ein persönliches Andenken aus alter Zeit anvertraut, damit ich es aufbewahre und den Liebhabern von Vorkriegsautos eine Freude damit mache – und das tue ich gern:
NSU Typ 8/40 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger (aus Schenkung)
Bevor ich die Geschichte dieses Autos erzähle, wie sie mir Madame Colette berichtet hat, kurz ein paar Worte zur Identifikation des Typs.
Der Flachkühler mit dem dreieckigen oberen Abschluss nach Manier antiker Tempel (und Vorbild von Fiat) sowie das Emblem darauf verraten, dass wir hier einen NSU ab 1926 vor uns haben, übrigens mit Zulassung im Raum Heilbronn:
Die ebenfalls in Heilbronn ansässigen NeckarSUlmer Fahrzeugwerke verkauften damals vor allem das kompakte Modell 5/25 PS. Allerdings sehen wir auf dem Foto eine Sechsfenster-Limousine, wie sie es serienmäßig nicht auf Basis des NSU 5/25 PS gab.
Dafür kommt vielmehr der große Bruder 8/40 PS in Betracht, dessen 2-Liter-Motor eine damals beachtliche Höchstgeschwindigkeit von über 100 km/h ermöglichte.
Zwar hatte ich in meiner ersten Reaktion auf die Nachricht von Colette Wittich auch das Sechszylindermodell 6/30 PS bzw. den Nachfolger 7/34 PS in Betracht gezogen. Diese wurden jedoch erst ab 1928 gebaut, während auf dem Foto „1927“ vermerkt ist.
Daraus darf man schließen, dass diese schöne Aufnahme einen NSU 8/40 PS zeigt, wie er nur 1926/27 gebaut wurde. Was aber wissen wir noch über den Wagen?
Nun, dazu konnte mir Frau Wittich einiges verraten. Der NSU gehörte ihrem SchwiegervaterMarkus Wittich, der Unternehmer war.
Leider war er blind, und um seine Kunden besuchen zu können, ließ er sich von seinem Fahrer im NSU dorthin bringen – die Geschäfte müssen demnach sehr gut gelaufen sein.
Auf dem Foto sehen wir aber noch zwei weitere Persönlichkeiten:
Die eine posiert geduldig auf dem Trittbrett – leider ist der Name dieses vierbeinigen Familienmitglieds nicht überliefert.
Hinter dem Steuer sehen wir die andere Persönlichkeit, die damals noch ein Bub war. Es handelt sich um den Sohn Helmut, den älteren Bruder von Colette Wittichs Ehemann.
Die Aufnahme wirkt für sich genommen wunderbar heiter, aber der Eindruck verflüchtigt sich, wenn man weiß, dass das Leben des jungen Helmut schon 16 Jahre später endete – im Jahr 1943 als Soldat an der Ostfront.
Sein jüngerer Bruder, der später Colette Wittich aus Frankreich heiraten sollte, überlebte ihn 45 Jahre. In all dieser Zeit begleitete ihn dieses Foto seines Bruders.
Nun, da er selbst nicht mehr da ist, bin ich der Hüter dieses Dokumentsund der Geschichte, die damit verbunden ist.
Für dieses wunderbare Geschenk sage ich „Merci beaucoup et bonne année, chère Madame Wittich!“
Der Schwerpunkt meines Blogs für Vorkriegsautos auf alten Fotos liegt auf Fahrzeugen, die einst im deutschsprachigen Raum und im benachbarten Ausland gebaut oder verkauft wurden.
Ziel ist, auf lange Sicht ein möglichst umfassendes Bild der enormen automobilen Vielfalt auf dem europäischen Kontinent zu zeichnen, die sich damals aus dem Wettbewerb aberhunderter Marken ergab – trotz Zollgrenzen, Sprachbarrieren und weit weniger Kommunikationsmittel als heute.
Dabei stütze ich mich hauptsächlich auf zeitgenössische Fotos und Dokumente, die ich am hiesigen Markt erwerbe oder die mir Leser zur Verfügung stellen.
Gewissermaßen ein Abfallprodukt bei dieser Vorgehensweise sind Aufnahmen von Wagen, die außerhalb meines Rechercheraums entstanden, aber als Foto oder Postkarte an Verwandte hierhergelangten.
Meist handelt es sich um Dokumente aus den Vereinigten Staaten, wo viele deutsche Auswanderer ihr Glück machten, die dann zum Beweis Bilder ihrer Automobile in die alte Heimat sandten.
In vielen Fällen sind sie sogar deutsch beschriftet, doch meist fehlt die Angabe von Hersteller und Typ – irgendeinen Wagen zu besitzen, genügte bereits vollauf, um die Zurückgebliebenen sprachlos zu machen.
So war auch der folgenden Aufnahme keinerlei Hinweis zu entnehmen, was für ein Fahrzeug darauf zu sehen ist:
Rider-Lewis Typ IV; Originalfoto aus Sammlung von Michael Schlenger
Motiv des Erwerbs war hier nicht die Qualität des Abzugs und nicht einmal die Aussicht, jemals das Fahrzeug identifizieren zu können, dessen Frontpartie weitgehend verdeckt ist.
Mich reizte vielmehr die Situation mit den sechs Damen, die den Wagen in Beschlag genommen zu haben scheinen, während der Fahrer danebensteht.
Zwar entsprechen die langen Kleider und opulenten Hüte ganz der europäischen Mode vor dem 1. Weltkrieg, doch verweist die schlichte Holzbauweise des Hauses im Hintergrund klar auf die USA.
Der Wagen hätte vor diesem Hintergrund alles Mögliche sein können. Seinerzeit gab es praktisch in jeder größeren Stadt in den Vereinigten Staaten Automobilhersteller, deren Produkte zwar technisch unterschiedlichen Pfaden folgten, aber äußerlich kaum zu unterscheiden waren.
Selbst wenn die Kühlerpartie nicht verdeckt gewesen wäre, hätte ich anhand eigener Ressourcen keine Chance gehabt, das Auto zu identifizieren.
Doch im weltweiten Netz ist nichts unmöglich – dort ist heutzutage ein Wissen zu Vorkriegsfahrzeugen verfügbar, das früheren Generationen an Automobilhistorikern so kaum zugänglich war.
Auch wenn ich mich ansonsten aus Online-Netzwerken weitgehend heraushalte, da mir mein reales Dasein Abwechslung, Austausch und Anregung genug bietet, habe ich die Möglichkeit schätzen gelernt, das global zerstreut vorliegende Wissen zum Thema Vorkriegswagen im Netz in strukturierter Form anzapfen zu können.
Für meine Zwecke hat sich dabei insbesondere die Facebook-Gruppe „Cars of the 1900s to 1930s“ als ergiebig erwiesen. Dort sind mehr als zehntausend Freunde und Kenner von Vorkriegswagen angeschlossen, die vor allem ein kolossales Wissen zu den unzähligen Autoherstellern haben, die es einst in in den USA gab.
Und so präsentierte ich dort mein Foto in der leisen Hoffnung, dass sich da draußen jemand findet, der mir sagen kann, was für ein Wagen darauf zu sehen ist.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis mir eines der kenntnisreichen Mitglieder besagter Gruppe – Varun Coutinho – die Lösung in Form dieser zeitgenössischen Ansichtskarte liefern konnte:
Postkarte eines Rider-Lewis, digitale Kopie bereitgestellt von Varun Coutinho via Facebook
Bereits hier fiel mir die praktisch vollständige Übereinstimmung der beiden Fahrzeuge ins Auge – auch in Details wie dem markant geformten Kasten am Ende des Trittbretts, hinter dem sich die vordere Aufhängung der Blattfeder verbirgt.
Das Beste dabei ist natürlich, dass die zur Verfügung gestellte Postkarte den Hersteller und sogar den genauen Typ des Fahrzeugs nennt.
Demnach haben wir es mit dem Vierzylindermodell Type IV des Herstellers Rider-Lewis aus dem US-Bundesstaat Indiana zu tun, das laut dem „Standard Catalog of American Cars“ von Kimes/Clark nur 1910/11 gebaut wurde.
Die Firma wurde 1908 vom Konstrukteur Ralph Lewis und seinem Geldgeber George Rider gegründet und baute anfänglich einen 45 PS leistenden Sechszylinderwagen mit fortschrittlichen Details wie kopfgesteuerten Ventilen.
1910 folgte dann der Vierzylindertyp, den wir hier sehen, doch schon im selben Jahr wurde das von Anfang an defizitäre Unternehmen unter Gläubigeraufsicht gestellt.Im Jahr 1911 erfolgte dann die Liquidation.
Rund 250 Automobile sind in dieser Zeit von Rider-Lewis gefertigt worden, womit das Unternehmen das Schicksal tausender anderer teilte, denen nur ein kurzes Dasein vergönnt war.
Somit erwies sich das von mir aus ganz anderen Motiven erworbene Foto am Ende als veritable Rarität –zumindest hier in Europa. In den USA dagegen scheint es durchaus noch mehr solcher Dokumente zu geben.
So verwies mich Varun Coutinho auf diese zweite Aufnahme eines Rider-Lewis, die ein gewisser John Frankenberger vor längerem ins Netz gestellt hatte:
Postkarte eines Rider-Lewis, hochgeladen von John Frankenberger (Ort unbekannt), digitale Kopie bereitgestellt von Varun Coutinho via Facebook
Hier finden sich weitere übereinstimmende Details wie zum Beispiel das geschwungene Profil der Motorhaube vor der Schottwand und die senkrechte Linierung des Federkastens am Trittbrettende.
Dass auf meinem Foto die Windschutzscheibe fehlt, will nichts besagen, sie war bei den damaligen offenen Fahrzeugen demontierbar. Für mich besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass die sechs Damen und der Fahrer einst mit einem Rider-Lewis posierten.
An diesem schönen Beispiel lässt sich gut illustrieren, welchen Nutzen globale Kontakte via Internet stiften können, wenn es um die Identifikation von Vorkriegsfahrzeugen geht, an denen man sich bislang die Zähne ausgebissen hat.
Dumm nur, dass sich m.W. für europäische Marken bislang keine vergleichbar große kritische Masse im Netz zusammenschließen konnte, um solche Fälle markenübergreifend zu lösen. Daher habe ich selbst eine solche Facebook-Gruppe ins Leben gerufen, in der alle Kenner der Vorkriegsszene in Europa willkommen sind.
Bevorzugte Sprache ist Englisch, aber ich moderiere/übersetze gern auch deutschsprachige Anfrage und Beiträge und freue mich über neue Mitglieder! Besonders interessante Rechercheergebnisse sollen auch in diesen Blog einfließen.
Die Historie der Fiat-Typen bis zum 2. Weltkrieg ist für viele Altautofreunde vermutlich ein Buch mit sieben Siegeln.
Dass der legendäre Fiat 500 der Nachkriegszeit auf dem brillianten „Topolino“ der 1930er Jahre basierte, darf man zwar noch voraussetzen.
Doch dass die Turiner Marke bereits kurz nach dem 1. Weltkrieg etliche Modelle anbot, die auch im deutschen Sprachraum großen Anklang fanden, ist kaum bekannt.
Auf originalen Fotos lassen sich mühelos jede Menge Fiats der 1920er Jahre identifizieren, die über deutsche, italienische oder tschechische Kennzeichen verfügten. Fiat war damals tatsächlich bereits ein echter Großserienhersteller.
Doch kann ich mich nicht entsinnen, auf einer Klassikerveranstaltung in Deutschland jemals einem Fiat aus der Zeit vor 1935 begegnet zu sein – merkwürdig angesichts der Qualität und der einstigen Verbreitung dieser Wagen.
Schon vor dem 1. Weltkrieg – damals baute Fiat noch überwiegend Luxuswagen – unternahm man erste Versuche, sich mit dem in der Mittelklasse angesiedelten Modell „Zero“ im deutschsprachigen Raum zu etablieren:
Fiat.Reklame für das Modell „Zero“ aus der Zeitschrift „Motor“ von Januar 1914; Original aus Sammlung Michael Schlenger
Fiat baute 1914 gerade einmal etwas mehr als 3.200 Autos – der lokale Markt war damals noch völlig unbedeutend – strebte aber bereits nach internationalem Absatzerfolg, wie diese Anzeige deutlich macht.
Im Ersten Weltkrieg baute Fiat dann in großer Zahl den Typ 3 bzw. speziell für das Militär den Typ 3 „TER“ mit kürzerem Chassis.
Folgende Aufnahme aus meiner Sammlung, die im Januar 1918 entstand, zeigt wohl einen solchen Fiat Tipo 3, hier allerdings auf Seiten der „Mittelmächte“ also dem Deutschen Reich und dem Österreichisch-Ungarischen Imperium.
Italien hatte anfangs noch zu diesem Bündnis gehört, weshalb ein Fiat Tipo 3 bei den deutsch-österreichischen Truppen nicht abwegig erscheint. Es könnte aber auch ein Beutewagen aus den jahrelangen Kämpfen im Alpenraum sein, nachdem Italien 1915 in Hoffnung auf Gebietsgewinne die Seiten gewechselt hatte:
Fiat Tipo 3 (wahrscheinlich); Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger
Trotz der mäßigen Qualität dieses über 100 Jahre alten Abzugs erkennt man hier schemenhaft den birnenförmigen Kühler, der für Fiat-Wagen noch einige Jahre typisch bleiben sollte. Auch Form und Position des Markenemblems passen zum Fiat Tipo 3.
Nach dem Ende des 1. Weltkriegs richtete Fiat seine Produktion mit am amerikanischem Vorbild geschulter Konsequenz auf Massenproduktion weniger Typen aus. Dazu gehörte die Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse der Großserienproduktion bereits bei der Konstruktion.
Die Entwickler bekamen also nicht „lange Leine“, um sich selbst und ihre genialen Einfälle zu verwirklichen, sondern mussten sich den Anforderungen des Marktes unterwerfen – derart nüchternes Denken legte damals unter den deutschen Herstellern wohl nur Brennabor an den Tag.
Mit den neu entwickelten Vierzylindertypen 501 und 505 (1,5 bzw. 2,3 Liter) gelang Fiat ab 1919 ein Riesenerfolg: Bis 1925 entstanden fast 100.000 Exemplare dieser kaum zerstörbaren Wagen, die weltweit Absatz fanden, viele davon auch in Deutschland.
Hier eine Auswahl entsprechender Originalfotos aus meiner Sammlung, die ich bereits vorgestellt habe.
Fiat 501 Roadster
Fiat 505 Tourenwagen
Neben diesen beiden Vierzylindermodellen, die 23 bzw 33 PS leisteten, bot Fiat zeitgleich mit dem 510 einen Sechszylinder an, eine Höchstleistung von 46 PS aufwies.
Dieser Wagen war optional bereits mit Vierradbremsen erhältlich, außerdem gab es eine auf 53 PS erstarkte Sportversion. Auch wenn vom Fiat 510 weniger Exemplare gebaut wurden (rund 13.500), wurden davon einige in Deutschland verkauft.
Hier haben wir so einen Fiat 510, der 1930 in Cottbus aufgenommen wurde:
Fiat 510; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Der Sechszylinder-Fiat 510 bekam 1922 einen leistungsstärkeren, optisch ähnlichen Bruder zur Seite gestellt, den Typ 519 mit satten 77 PS aus 4,8 Liter Hubraum.
Auch das ist ein Modell, das heute praktisch völlig unbekannt ist. Dabei handelte es sich um den ersten in Serie gebauten Fiat mit im Zylinderkopf hängenden Ventilen.
Eines dieser auch äußerlich beeindruckenden Fahrzeuge findet sich auf folgender Aufnahme, die bei einer Concours-Veranstaltung in Deutschland entstand:
Fiat 519; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Doch abgesehen von solchen stückzahlenmäßig unbedeutenden Ausflügen in die Oberklasse – selbst ein 12-Zylinder wurde in 5 Exemplaren gebaut! – blieb Fiat auf das Kleinwagensegment ausgerichtet.
Als Nachfolger der Vierzylindertypen 501 und 505 brachte man 1926 mit identischem Hubraum die Typen 503 und 507 auf den Markt, außerdem den kompakten Typ 509.
Ausgerechnet der kleine Typ 509 mit seinem 1 Liter-Aggregat war die modernste Konstruktion in dem Dreigestirn. Er verfügte nämlich über eine obenliegende Nockenwelle, die den Motor ohne Abstriche an der Robustheit ungemein drehfreudig machte, was für Jahrzehnte Markenzeichen der kleinen Fiats bleiben sollte.
Vom stärkeren 503 bzw. 507 ist der Fiat 509 äußerlich durch die Lichtmaschine zu unterscheiden, deren rundes Gehäuse am unteren Ende des Kühlers hervorlugt:
Mit dieser neuen Generation von Vierzylindern war Fiat ab 1926 auch zu einer radikal veränderten Optik übergegangen.
Der aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg stammende birnenfömige Kühler war einem kantigen Kühler gewichen, dessen Formgebung analog zu Rolls-Royce auf klassische Vorbilder wie die von Säulen getragenen Dreiecksgiebel antiker Tempel verwies.
Dasselbe Bild kühler Klassik findet sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre natürlich auch an der Frontpartie der Sechszylindertypen, hier des Fiat 512 mit 3,5 Liter Hubraum, der der Nachfolger des 510 war:
Fiat 512; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Aufnahme zeigt übrigens einen Fiat mit Zulassung in der Provinz Bozen, also aus dem nach 1918 von Italien vereinnahmten Südtirol. In der mehrheitlich von Österreichern bewohnten Region waren solche Fiats damals keine Seltenheit.
Vom Fiat 512 ist der Weg nicht mehr weit bis zum Fiat 520, dem Endpunkt der heutigen Betrachtung. Er wurde ab 1927 dem 512 als kleinerer Sechszylinder zur Seite gestellt (2,3 Liter statt 3,5 Liter Hubraum).
Wie alle Fiats der ab 1925 gebauten neuen Generation verfügte er über serienmäßige Vierradbremsen, allerdings waren die Motoren mit Ausnahme des erwähnten 509 weiterhin seitengesteuert und damit weniger auf Drehzahl ausgelegt.
Die eher dem amerikanischen Standard entsprechende Charakteristik, die sich auf Hubraum und entsprechende Elastizität statt Agilität stützte, machte die großen Fiat-Modelle jener Zeit zu einer reizvollen Alternative zu US-Modellen.
Tatsächlich sind wir speziell dem Fiat 520 hier schon einige Male begegnet:
Bei aller Ähnlichkeit lässt sich der Fiat 520 anhand zweier Elemente von den parallel erhältlichen Vierzylinder-Typen unterscheiden:
die Frontscheinwerfer sind von einem großen, profilierten Chromring eingefasst,
direkt entlang der seitlichen Kante der Motorhaube verläuft eine breite Leiste.
Außerdem ist die Kühlerfläche beim Fiat 520 größer als bei den schwächeren Typen und zumindest im Vergleich zum Fiat 509 fehlt der Dynamo unterhalb des Kühlers.
Nachvollziehen lassen sich alle diese Elemente anhand einer „neuen“ Aufnahme, die ich Leser Franz Langer verdanke:
Fiat 520; Originalfoto aus Familienbesitz (Franz Langer)
An der Identifikation des Wagens als Fiat 520 von 1927-29 besteht kein Zweifel, wie der Vergleich mit dem großen Foto in der vorherigen Bildergalerie zeigt.
Interessant ist aber, dass hier das Lenkrad in Fahrtrichtung rechts angebracht ist, obwohl der 520 der erste Fiat mit serienmäßiger Linkslenkung war.
Die Erklärung liegt im Aufnahmeort des Fotos. Das Bild ist nämlich nach Angabe von Franz Langer in Troppau entstanden, einer Stadt im mährisch-schlesischen Grenzland, das ab 1918 von Österreich an die Tschechoslowakei fiel.
Offenbar war in der Tschechoslowakei in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre noch Linksverkehr üblich, wo eine Rechtslenkung von Vorteil ist. Vielleicht kennt sich ein Leser genauer damit aus (ggf. bitte Kommentarfunktion nutzen).
Auch dieses schöne Bild zeigt, dass der über 20.000 Mal gebaute Sechszylinder-Fiat 520 in mehreren Ländern Mitteleuropa Käufer fand. Bisher konnten wir ihn in Deutschland, Südtirol, der Tschechei und in Polen dingfest machen.
Wie im Fall der wesentlich häufigeren Fiat-Vierzylindermodelle der 1920er Jahre – davon entstanden fast 140.000 Stück – fragt man sich: Wo sind sie geblieben?
Wenn jemand in Deutschland mit einem Vorkriegsfahrzeug Furore machen will, ohne sich zu ruinieren, dann würde das wohl mit einem der raren überlebenden Fiats der 1920er Jahre gelingen – verfügbar dürften diese allerdings nur noch in Italien sein…
Das Automobilangebot im Deutschland der späten 1920er Jahre war von geradezu tropischer Vielfalt. Zu verdanken war das nicht zuletzt den unzähligen Importmarken aus anderen europäischen Ländern und aus Übersee.
In der Einsteigerklasse konnte zwar Opels 4 PS-Modell „Laubfrosch“ einen erheblichen Marktanteil verbuchen, doch war das Modell bloß ein Plagiat des Citroen 5CV. Hier eine bislang unpublizierte Aufnahme eines Opel 4/14 PS von 1925:
Opel Typ 4/14 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Ohne das bewährte französische Vorbild bekam man in Rüsselsheim offenbar keinen Kleinwagen mehr hin, obwohl Opel vor dem 1. Weltkrieg in dem Segment durchaus erfolgreich gewesen war – eine Erklärung dafür konnte ich bislang nicht finden.
In der Mittelklasse schnitt sich neben der einheimischen Marke Brennabor aus Brandenburg vor allem Fiat ein ordentliches Stück aus dem Kuchen heraus.
Allgegenwärtig im deutschsprachigen Raum waren die Volumenmodelle Fiat 503 und 509. Hier haben wir einen Typ 503 mit 27 PS starkem 1,5 Liter-Motor, der einst einem Wiener Autobus-Unternehmer gehörte:
Fiat 503; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Das hier erstmals gezeigte Foto ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass die Kühlerfigur – in diesem Fall ein Adler – nicht zwangsläufig einen Hinweis auf den Hersteller gibt.
Doch auch ohne das Markenemblem auf dem Kühler wäre dieses Auto leicht als Fiat zu identifizieren gewesen – die kantige Frontpartie, deren Silhouette sich in der Kontur der Frontscheibe wiederholt, war typisch für die Fiats ab Mitte der 1920er Jahre.
Bei den Wagen der gehobenen Klasse dagegen hatten im deutschsprachigen Raum vor allem die US-Hersteller einen heute unvorstellbaren Anteil.
Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, welche Marken aus Übersee hierzulande aktiv waren und welche oft exotisch anmutenden Modelle deutsche Käufer fanden (Fotogalerie).
Heute befassen wir uns mit diesem Exemplar:
Studebaker Big Six „President“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Auf den ersten und auch auf den zweiten Blick ist das ein schwerer Fall. Dass diese mächtige Sechsfenster-Limousine mit den Dopppelstoßstangen vorn und hinten nicht von einem europäischen Hersteller stammte, ist klar.
Aber welche US-Marke für diesen Koloss verantwortlich war, war für mich lange Zeit ein Rätsel. Zum Glück sind die amerikanischen Hersteller der Vorkriegszeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – hervorragend dokumentiert.
Leider gibt es für deutsche Hersteller keine Gesamtschau von ähnlicher Breite und Tiefe wie sie der „Standard Catalog of American Cars“ von B.R. Kimes und H.A. Clark für die US-Wagen bis 1942 bietet.
Nach mehreren Anläufen fand sich auf Seite 1.422 in der 3. Auflage dieses unverzichtbaren Standardwerks die Lösung.
Der Wagen auf dem Foto, das einst irgendwo in Deutschland entstand, ist ein großer Sechszylinder des Typs „President“ der seit 1902 bestehenden Marke Studebaker.
Der 5,8 Liter-Motor entwickelte seine Spitzenleistung bei 2.400 Umdrehungen pro Minute und erlaubte dem schweren Fahrzeug eine angemessene, natürlich nicht sportliche Fortbewegung.
Die siebensitzige Limousine des Typs „President“ ist – wie auf dem Foto – an dem gegenüber dem „Standard Six“ verlängerten Radstand zu erkennen.
In den USA konnte ich den großformatigen Abzug einer Werksaufnahme des Studebaker „President“ von 1927 erstehen, das genau den Typ auf obigem Foto zeigt:
Studebaker Big Six „President“, Abzug eines Werksfotos aus Sammlung Michael Schlenger
Auf den ersten Blick mag die Ähnlichkeit vielleicht nicht ins Auge springen.
Doch beim Vergleich der Gestaltung der Scheibenräder mit Zweifarbschema, des unteren Abschlusses der Frontscheibe, der Form der Türgriffe, der doppelten Seitenleiste und der Heckpartie wird die Übereinstimmung deutlich.
Der Studebaker auf dem Werksfoto wirkt nur deshalb anders, weil bei ihm die Frontpartie erkennbar ist, er eine Zweifarblackierung trägt und der Blick auf die hintere Haubenpartie nicht verdeckt ist.
Weshalb der Studebaker auf dem einst in Deutschland entstandenen Foto scheinbar keine Zweifarblackierung besaß, erscheint merkwürdig.
Möglich, dass diese einem anderen Farbschema folgte als auf dem Werksfoto und dass dies in Schwarz-Weiß lediglich nicht erkennbar ist. Einen so massigen Wagen nur einfarbig zu lackieren, wäre in den 1920er Jahren untypisch gewesen.
Aber vielleicht wollte der inländische Käufer das so und dann wurde das spätestens bei Eintreffen des Studebaker in Deutschland umgesetzt. Von einer Produktion der Marke hierzulande ist mir übrigens nichts bekannt, vielleicht weiß ein Leser mehr.
Jedenfalls war ein solcher dicker „Brummer“ Ende der 1920er Jahre nicht irgendein Importgefährt vom eher bürgerlichen Rang eines Ford, Buick oder Chevrolet. Dieses mächtige Automobil war damals eindeutig der Chefetage vorbehalten…
Bei Autos aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg gibt es ein beinahe untrügliches Indiz für die Herkunft aus dem deutschsprachigen Raum – den Spitzkühler.
Noch vor Kriegsbeginn 1914 begannen deutsche und österreichische Hersteller ihre Wagen oft mit schnittigen Kühlermasken auszustatten, die an den Bug von Schnellbooten erinnerten.
Spitzkühler wurden nicht nur ab Werk angeboten, sondern auch als Zubehörteil, was uns im 21. Jahrhundert einige Schwierigkeiten beschert, was die Identifikation der Wagen auf alten Fotos angeht.
Die nachfolgende Collage zeigt Beispiele solcher Spitzkühlermodelle, die der Verfasser bislang keiner Marke zuordnen konnte, darunter einige Fotos von Lesern:
Dieses Bilder-Potpourri vermittelt eine Vorstellung von der unglaublichen automobilen Vielfalt in der Vorkriegszeit, von der wir heute nur träumen können.
Wer meint, dass die Fälle keine Probleme bereiten, bei denen das Firmenemblem auf dem Spitzkühler lesbar ist, muss sein Urteil heute womöglich revidieren.
Ein Leser aus Australien, dem wir bereits ein herrliches Foto eines Komnick-Tourers (und einiges mehr, was noch vorgestellt wird) verdanken, hat nämlich folgende Aufnahme eingereicht, die auf den ersten Blick unproblematisch erscheint:
NSU 40 PS-Modell; Originalfoto aus Sammlung Jason Palmer
Klar ist, dass wir es hier mit einem NSU aus der Zeit von 1921-25 zu tun haben, als man auch in Neckarsulm der Mode folgend Spitzkühler an seinen Autos verbaute.
Allerdings wird sich trotz der guten Qualität dieses über 90 Jahre alten Abzugs die genaue Ansprache des Wagens als schwierig erweisen.
Dass wir es tatsächlich mit einem NSU zu tun haben, verrät uns folgende Ausschnittsvergrößerung, auf der nicht nur das Kühleremblem, sondern auch der Schriftzug auf der Nabenkappe des Vorderrads lesbar ist:
Der aufmerksame Leser wird hier neben den zehn Luftschlitzen in der Haube die Bremstrommeln an den Vorderrädern registrieren.
Diese Details verraten uns schon einmal, dass wir keinen der populären NSUs der kleinen Typen 5/15 PS oder 8/24 PS vor uns haben.
Laut Literatur besaß nur das seit 1921 gebaute 14/40 PS-Spitzenmodell von NSU Vorderradbremsen – das war auch angemessen, denn dieser Typ erreichte ein Tempo von an die 100 km/h.
Jetzt könnte man es dabei bewenden lassen, doch ein Detail lässt einen stutzen:
Auf dem Dunlop-Reifen ist die Größenangabe 820×120 zu lesen.
Dieses Reifenformat wurde laut Literatur (Klaus Arth: NSU Automobile, S. 302) erst ab 1926 am 8/40 PS-Modell von NSU montiert. 1926 besaßen NSU-PKW jedoch einen Flachkühler und keinen Spitzkühler mehr.
Was schließen wir daraus? Zwei Möglichkeiten kommen in Betracht:
Wir haben hier eines der neuen 8/40 PS-Modelle vor uns, das noch mit dem Spitzkühler des Vorgängers 14/40 PS ausgestattet wurde.
Es handelt sich um einen 14/40 PS-Typ, der aus welchen Gründen auch immer mit dem Reifenformat des Nachfolgers umherfuhr.
Für die zweite Variante spricht, dass das Erscheinungsbild des NSU von den Reifen abgesehen vollständig den Gegebenheiten beim großvolumigen 14/40 PS-Typ entspricht.
Der spätere Typ 8/40 PS mit seinem kompakteren Aggregat (2,1 Liter) wies nicht nur einen Flachkühler auf, sondern auch eine Reihe schmaler (und zahlreicherer) Luftschlitze in der Haube, was in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zeitgemäß war.
Das auf der Website von Audi abgebildete angebliche NSU 14/40 PS-Modell von 1921 ist tatsächlich ein solches späteres Flachkühlermodell…
Übrigens wird in der Literatur die tatsächliche Leistung des NSU 14/40 PS mit 54 Pferdestärken angegeben – ein eindrucksvoller Wert im damaligen Deutschland.
Viele Exemplare des „großen“ NSU, der stolze 13.000 Reichsmark kostete, werden nicht entstanden sein. Doch die wenigen Besitzer konnten stolz auf den geräumigen Wagen sein, der mit seinem 80 Liter messenden Tank und markentypischer Zuverlässigkeit ein idealer Reisewagen war.
Wer sich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ein derartiges Qualitätsauto leisten konnte, hatte häufig auch einen angestellten Fahrer – wie auf dem Foto:
Die Schirmmütze gehörte damals gewissermaßen zum „Dienstanzug“ von Chauffeuren und trug häufig das Emblem der Wagenmarke. Hier ist es leider nicht zu erkennen, dafür sieht man aber die außenliegenden Betätigungshebel für Gangschaltung und Handbremse – weitere Hinweise auf eine frühe Entstehung des NSU.
Wer genau hinschaut, kann außerdem oberhalb des Schwellers das Emblem der Karosseriewerke Weinsberg (KW) erahnen, wo die Serienaufbauten von NSU entstanden.
Der tiefe Glanz des Lacks spricht dafür, dass der NSU zum Aufnahmezeitpunkt noch recht neu war. Solche Fotos machte man häufig, wenn das Auto gerade frisch angeliefert worden war.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir es hier mit einem Manufakturauto der gehobenen Klasse zu tun haben, ist schwer zu begreifen, dass vermutlich keines davon in der hier zu sehenden Ausführung überlebt hat.
Wieder einmal erzählt ein über 90 Jahre altes Foto davon, was alles an einstiger Pracht verlorengangen ist, und das nicht nur in automobiler Hinsicht…
Nach dem 1. Weltkrieg buk man bei der damals noch unabhängigen Traditionsfirma Benz kleinere Brötchen. Die Zeit der Hubraumriesen mit Leistungen von 50 bis 100 PS war erst einmal vorbei.
Hauptstütze des Geschäfts bis Anfang der 1920er Jahre war das Vorkriegsmodell 8/20 PS, das nunmehr mit modischem Spitzkühler ausgestattet war. Etliche zeitgenössische Fotos zeugen von der Verbreitung dieses „Brot-und-Butter“-Benz.
In manchen Fällen lässt sich kaum noch ermitteln, ob man einen Benz 8/20 PS oder vielleicht doch eines der zeitgleich angebotenen stärkeren Modelle mit 30 oder 45 PS vor sich hat – die Wagen unterschieden sich praktisch nur in den Proportionen.
Dann gibt es Kandidaten, bei denen man den Eindruck hat, dass ein Benz 8/20 PS der Vorkriegszeit nachträglich auf „modern“ getrimmt wurde, indem man ihnen mehr schlecht als recht einen Spitzkühler verpasste:
Benz 8/20 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Fotos wie dieses und die Konzentration auf das Basismodell 8/20 PS künden von der Not der frühen Nachkriegsjahre.
Verschärft wurde die Lage durch die erdrosselnden Auflagen des sogenannten Friedensvertrags von Versailles, der Deutschland in einer Weise knebelte, dass selbst Vertreter der alliierten Seite darin die Saat für einen neuen Krieg sahen.
Umso erstaunlicher ist – oder vielleicht umso verständlicher, dass man bei Benz noch 1918 daran ging, etwas komplett Unvernünftiges zu tun – und das gründlich.
Als sei nichts gewesen, brachte man als erste Neukonstruktion nach dem Krieg ein Vierzylindermodell vom Feinsten heraus – zwar bloß mit 1,6 Liter Hubraum und 18 PS, aber mit Ventilsteuerung über obenliegende Nockenwelle, die ihrerseits von einer Königswelle angetrieben wurde.
So etwas Irrationales zu tun, bestätigt ein Bonmot von Richard Wagner: „Deutsch ist, die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen zu treiben“ (Quelle: Deutsche Kunst und deutsche Politik, von Richard Wagner, hrsg. 1868).
Nun, verrückt – oder auch verständlich – nach dem überstandenen Krieg baute Benz bis 1921 eine wohl überschaubare Stückzahl dieses 6/18 PS-Modells. Leider sind die genauen Produktionszahlen unbekannt.
Doch die ungeheure Seltenheit von Fotos dieses Benz 6/18 PS spricht für sich. Leser Gottfried Müller hat uns nun eine Originalaufnahme aus seiner Sammlung zur Verfügung gestellt, offenbar ein Werksfoto:
Verständlicherweise ist dieses im Original großformatige, knackscharfe und kontrastreiche Foto hier nur in einer datenreduzierten Version verfügbar.
Leider gibt es nämlich Zeitgenossen, die hochaufgelöste Bilder von Vorkriegsautos im Internet zur Fälschung „historischer“ Aufnahmen auf altem Fotopapier nutzen.
Man erkennt aber auch so, dass wir es hier mit einem bezaubernden Baby-Benz zu tun haben – noch dazu in der rassigen Zweisitzer-Sportausführung mit Spitzheck und außenliegendem Auspuff.
Man findet ein ähnliches Fahrzeug auf S. 108 des Standardwerks „Benz & Cie.“, hrsg. von der Mercedes-Benz AG, 1. Auflage, 1994.
Dieser hinreißend gezeichnete Zweisitzer mit raffinierter Zweifarblackierung wog leer gut 800 kg und war für ein Spitzentempo von 85 km/h gut.
Wer das heute belächelt, möge einmal in einem fast 100 Jahre alten Wagen mit blattgefederten Starrachsen, Reifen in Motorradformat und Zweiradbremsen auf einer kurvenreichen Schotterpiste richtig Gas geben. Da ist ein beherzter Fahrer gefordert, kein ängstlicher Milchbart, der mit Fahrradhelm Brötchen holen fährt.
Womit wir bei einem der Vollgashelden der 1920er Jahre wären, der hierzulande so ziemlich in jeder Kategorie und auf Wagen von Benz, Bugatti, Mercedes und Simson Erfolge einheimste – Karl „Charly“ Kappler.
Hier haben wir einen originalen Ausschnitt aus der Berliner Illustrirten Zeitung aus dem Jahr 1923, die einen weiteren Sieg von Kappler dokumentiert, hier auf genau dem Benz 6/18 PS Sportmodell, das das vorherige Bild zeigt:
Demnach trat Karl Kappler im Juli vor genau 95 Jahren – wir schreiben das Jahr 2018 – in einem Benz 6/18 PS Typ beim Auto-Turnier in Baden-Baden an.
Dabei galt es, sich in mehreren Kategorien durchzusetzen, darunter einer Bergprüfung und einer Geschicklichkeitsprüfung, bei der wir Kappler im Benz 6/18 PS sehen.
Kappler gehörte zu den vielseitigen Talenten jener Zeit, die nicht nur das Durchhaltevermögen für knüppelharte Langstreckenrennen besaßen, sondern auch das Gespür für die seinerzeits üblichen Geschicklichkeitstest.
Damit wären wir bei einem der sympathischsten Protagonisten des deutschen Motorsports der Zwischenkriegszeit angelangt. Er und der Benz 6/18 PS Sport haben gemeinsam, dass man ihnen in der gedruckten „Oldtimerpresse“ kaum begegnen wird.
Hier dagegen findet nach 95 Jahren zusammen, was zusammengehört – ein alter Zeitungsausschnitt und ein Werksfoto, die denselben Typ Benz 6/18 PS Sport zeigen…
Buchtipp:
„Im Donner der Motoren. Karl Kappler.“ von Martin Walter, hrsg. im Wartberg Verlag, 2004, 79 Seiten, viele zeitgenössische Fotos, ISBN: 3-8313-1101-3