Vor 100 Jahren: Ein Benz mit Schnabelkühler

Die Beschäftigung mit Vorkriegsautos anhand alter Fotos, wie sie auf diesem Oldtimerblog betrieben wird, hat gegenüber anderen Hobbys mehrere Vorteile:

  • Es gibt keinen technischen Fortschritt, der einen von der eigentlichen Sache ablenkt – wie das z.B. bei Fotoamateuren der Fall ist.
  • Es gibt Material ohne Ende, das noch nicht aufgearbeitet ist – die Literatur zum Thema ist oft jahrzehntealt und lückenhaft.
  • Es gibt die Möglichkeit, Autos zu „besitzen,“ die man sich in echt schon deshalb nicht leisten könnte, weil sie nicht verfügbar sind.

Das Originalfoto, das wir uns heute vornehmen, ist ein gutes Beispiel dafür. Es war fast völlig verblasst und ließ sich trotz aller Technik nur in engen Grenzen verbessern. Wir müssen daher wie Archäologen mit dem wenigen arbeiten, das wir vorfinden.

Aber was wir haben, ist grandios und vielleicht einzigartig:

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© Benz Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Naja, könnte man sagen, irgendein alter Tourenwagen irgendwo vor 100 Jahren aufgenommen, viel erkennt man da nicht.

Doch die Situation ist nicht alltäglich: Das zerstörte Backsteingebäude links verweist auf eine Entstehung zu Kriegszeiten. Der Holzverschlag im Hintergrund wirkt improvisiert und ausgerechnet davor steht ein majestätischer Tourenwagen.

Dieses Foto entstand mitten im 1. Weltkrieg, wann und wo genau wissen wir nicht. Die sieben Männer auf der Aufnahme deckt schon lange der kühle Rasen. Doch das grandiose Automobil übt auch nach 100 Jahren seine Faszination aus.

Schauen wir genauer hin, denn es lässt sich mehr zu dem Wagen sagen:

Was neben dem eindrucksvollen Radstand auffällt, ist die Frontpartie mit der langen Motorhaube, den nach hinten versetzten Luftschlitzen und dem markanten Kühler.

Der Verfasser dieses Blogs hat einige Zeit damit zugebracht, diesem Gefährt auf die Schliche zu kommen. Zunächst schien es sich um ein Modell mit Spitzkühler zu handeln, doch so ausgeprägte „Nasen“ kamen erst nach dem 1. Weltkrieg auf. Ob Horch, Opel, Presto oder Stoewer – in Deutschland huldigte man ab 1918 dieser Mode.

Wenn man noch genauer hinschaut, erkennt man jedoch, dass es sich gar nicht um ein Spitzkühlermodell handelt, denn die vorkragende Kühlermaske endet im Nichts.

Wenn nicht alles täuscht, haben wir es hier mit einem der seltenen Vertreter des „Schnabelkühlers“ zu tun. Das bedeutet, dass der Wagen einen flachen Kühlergrill besaß, die Kühlermaske aber oben vorsprang – wie der Schnabel eines Raubvogels.

Ein Schnabelkühler so ausgeprägt wie auf unserem Foto findet sich in der Literatur nur bei einer deutschen Marke: Benz. Bei Hansa und Horch gab es zeitweise ebenfalls Modelle mit Schnabelkühler, doch keines kam so aggressiv daher.

Im Standardwerk „Deutsche Autos – 1885 bis 1920“ von Halwart Schrader findet sich auf Seite 63 solch ein Wagen, ein Benz 16/40 PS mit satten 4-Liter Hubraum von 1914. Kühlerpartie, Motorhaube und Speichenräder stimmen vollkommen überein.

Der übrige Aufbau ist für die Identifikation nicht wesentlich, da er vom Baujahr bzw. vom Lieferanten der Karosserie abhing. Doch die Gesamterscheinung „passt“. Möglicherweise können Leser dieses Blogs hierzu noch Erhellendes beitragen.

Übrigens muss es einst ein kalter Tag gewesen sein, als dieses Foto mitten im 1. Weltkrieg entstand:

Der Soldat im Vordergrund, den die Fahrerbrille als Chauffeur ausweist, hat sich einen gewaltigen Schal umgebunden. Der gehörte bestimmt nicht zur Winterausstattung bei der deutsch-österreichischen Armee und war stattdessen von einer liebevoll besorgten Person in der Heimat gestrickt worden…

Solche das einstige Leben widerspiegelnde Situationen kommen bei heutigen Präsentationen der überlebenden Veteranen-Fahrzeuge hierzulande oft zu kurz.

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