US-Stilikone der 1930er – Graham „Blue Streak“

Eine Stilikone – das ist etwas, was als vollkommene Verkörperung einer bestimmten gestalterischen Idee gilt.

In der Nachkriegszeit gehörten in diese Kategorie Wagen wie der Austin „Mini“, der Citroen „2CV“, der Fiat „Cinquecento“, der VW „Käfer“ oder auch Alfa-Romeos „Giulia“.

An amerikanische Wagen würde man – von Ausnahmen wie der Chevrolet „Corvette“ und dem Ford „Mustang“ abgesehen – eher nicht denken.

In der Zwischenkriegszeit sah das anders. Damals waren US-Marken nicht nur technisch überlegen, sondern gaben auch in formaler Hinsicht den Ton an.

Wie stilbildend die US-Modelle damals waren, macht folgende Aufnahme deutlich, die irgendwann Mitte der 1930er Jahre in Amerika entstand:

diverse_US-Wagen_um_1935_Ausschnitt

US-Wagen um 1935; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der kleine Junge vorne links steht vor dem ältesten Fahrzeug auf diesem Bildausschnitt. Mit vertikalem Kühler und ebenso senkrechter Frontscheibe ist es typisch für die Autos der 1920er Jahre.

Auf diese aus den USA vorgegebene sachliche Linie schwenkten speziell deutsche Hersteller oft erst ab 1925 ein. Dann verschwanden die letzten Spitzkühler und es setzten sich Vorderradbremsen durch wie bei dem Wagen auf dem Foto.

Die Autos weiter rechts mit ihren abgerundeten Kühlern und tropfenfömigen Scheinwerfern verweisen auf einen neuen Trend -die Stromlinie:

Besonders interessant ist der Wagen ganz rechts: Er verfügt über etwas, das eine US-Marke 1933 einführte und was sich in Windeseile um den Globus verbreitete.

Die Rede ist von der seitlichen Verkleidung, die aus dem Vorderschutzblech auf einmal ein Radhaus macht. Sie verhinderte, dass das Vorderrad Straßenschmutz auf die Karosserie schleuderte und verbarg auch die wenig ansehnliche Rahmenpartie.

Dieses Element trägt im Deutschen die unschöne Bezeichnung „Kotflügelschürze“.  Nehmen wir das Detail zum Anlass für eine Hommage an den hierzulande kaum bekannten Wagen, bei dem es erstmal zum Einsatz kam – den Graham „Blue Streak“.

Wer jetzt denkt „Graham -was?“, dem sei vergeben. Denn darüber liest man in den hiesigen „Oldtimer“ und „Klassik“-Magazinen natürlich nichts. Dort schreibt man lieber 90er Jahre-Japaner zum Garagengold der Zukunft hoch…

US-Wagen der Vorkriegszeit werden in der einschlägigen Presse hierzulande meist ignoriert. Dabei steht das in krassem Gegensatz zur einstigen Verbreitung von Wagen selbst kleinerer amerikanischer Hersteller in Deutschland.

Zum Beweis werfen wir einen Blick zurück ins Berlin der 1930er Jahre:

Graham „Blue Streak“ von 1934; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein Wagen wie aus dem Bilderbuch, beinahe französisch-elegant und ungemein präsent wirkend. Die zwei Herren mit gelichtetem Haar waren sichtlich stolz auf das Prachtstück, das unzähligen europäischen Wagen zum Vorbild wurde.

Ohne besondere Kenntnis der amerikanischen Hersteller jener Zeit wäre die Identifikation von Marke und Typ schwierig. Doch zum Glück trägt der Kühler unten ein Emblem mit dem Schriftzug „Graham“.

Die namengebenden Gebrüder Graham kamen ursprünglich aus dem LKW-Geschäft, überließen dieses aber 1926 der Firma Dodge und wandten sich der Autoproduktion zu.

1927 schufen sie nach Übernahme der Firma Paige aus Detroit die neue Marke Graham-Paige, unter der ab 1928 eigenständige Wagen erschienen, die auf Anhieb ein Erfolg wurden. Ab 1930 entfiel der Namenszusatz „Paige“.

Auf den Einbruch der Verkaufszahlen während der Großen Depression Anfang der 1930er Jahre reagiert man bei Graham mit dem formal völlig neuen Typ „Blue-Streak“, der ab 1932 gebaut wurde.

Er verfügte nicht nur als erster Wagen über die erwähnten Seitenschürzen an den Vorderkotflügeln. Neu war auch die wie aus einem Stück wirkende Frontpartie, bei der das Kühlergehäuse sich nicht mehr als eigenständiges Bauteil abhob.

Außerdem bemühte man sich, die Vorderachse möglichst zu verdecken, indem man die Bleche an der Front weit hinunterzog.

Die Wirkung dieser gestalterischen Kunstgriffe kann man auch am Graham „Blue Streak“ des Modelljahrs 1934 auf unserem Foto nachvollziehen:

Typisch für den Graham „Blue-Streak“ von 1934 war die zweiteilige Stoßstange, die die schnittige Erscheinung des Wagens noch verstärkte.

Der „Blue Streak“ machte bei seinem Erscheinen 1932 einen solchen Eindruck, dass sich die Konkurrenten schon im Folgejahr von seiner Gestaltung inspirieren ließ.

So ist zu erklären, dass auch bei deutschen Herstellern ab 1933 Kotflügel mit Seitenschürzen und ähnliche windschnittige Kühlerpartien auftauchten.

Nur in punkto Leistung konnte in dieser Klasse hierzulande nach wie vor keine Marke mithalten. Der „Blue Streak“ wurde mit 6- und 8-Zylindermotoren angeboten, die anfänglich 80 bzw. 90 PS leisteten, später noch etwas mehr.

Ab 1934 baute Graham den „Blue Streak“ außerdem in einer 8-Zylinder-Kompressorversion, die eine Höchstleistung von 135 PS erreichte.

Neben einem leichten Geschwindigkeitszuwachs auf fast 140 km/h zeichnete sich die aufgeladene Variante vor allem durch ein deutlich höheres Drehmoment bei mittleren Drehzahlen aus. Damit war im bereits damals dichter werdenden Verkehr in den USA ein souveränes Überholen langsamerer Wagen möglich.

Vermutlich war Graham der einzige Hersteller, der seinerzeit ein Großserienauto mit permanent laufenden Kompressor anbot. Dabei ging die Aufladung nicht auf Kosten der Haltbarkeit der Motoren und erhöhte auch den Verbrauch nur moderat.

Von einem nervigen Kreischen des Kompressors, wie man es von Mercedes-Benz kennt, ist beim aufgeladenen Graham „Blue Streak“ nichts überliefert.

Die Tester des britischen Magazins „Motor“ zeigten sich 1934 sehr beeindruckt von dem Wagen. Sie beschrieben die Kompressorversion als: „ein Auto, das viele Vorurteile gegenüber der Aufladung zerstreut. Trotz einer Leistung, die einem teuren Sportwagen gut zu Gesicht stünde, ist der Motor extrem leise und von sanftem, flexiblen Charakter. Er startet auch kalt bereitwillig und verbraucht nicht über Gebühr viel Benzin.“

Dieses Urteil aus europäischer Sicht macht den technologischen Vorsprung deutlich, den amerikanische Hersteller in den 1930er Jahren hatten. Kein Wunder, dass Graham seinen „Blue Streak“ auch in Deutschland absetzen konnte.

Von einer solchen Führungsrolle – formal wie technisch – konnten US-Hersteller nach dem 2. Weltkrieg nur noch träumen. Auch Graham sollte den Trend hin zu technisch anspruchslosen und formal oft auf billigen Effekt getrimmten Massenfabrikaten nicht überleben…   

Quelle: http://auto.howstuffworks.com/1932-1935-graham-blue-streak1.htm

 

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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