Vermeintliche Kenner der US-Automobil-Hierarchie der 1930er Jahre mögen jetzt schmunzeln – ein Mittelklasse-Sechszylinder von einem Anbieter der zweiten Reihe schafft es, hier als Fund des Monats präsentiert zu werden?
Nun, wir werden spätestens am Ende sehen, warum ich mich wohl mit gutem Grund für den Graham „Supercharged“ des Modelljahrs 1936 entschieden habe.
Dem einen oder anderen schießt jetzt der Gedanke durch den Kopf: „Supercharged“ – das bedeutet doch „aufgeladen“ – also ein Auto mit einem Kompressor, der die Ansaugluft verdichtet, bevor sie im Vergaser mit Kraftsstoff angereichert wird!
War das nicht das, was Mercedes seit langem an einzelnen extrem teuren Modellen zur temporären Leistungsteigerung anbot? Hatte das in den Staaten nicht auch Duesenberg im Programm – ebenfalls für weit mehr als nur eine handvoll Dollars?
Und so etwas in einem Sechszylinder, der in den USA in der mittleren Preisklasse angesiedelt war? Ist es das, was so sensationell am 1936er Graham ist?
Nun, nicht ganz. Denn der Kompressor den Graham entwickeln ließ, hatte mit den Geräten der genannten Luxusautomobile nur bedingt etwas zu tun.
Er sollte bezahlbar sein und vor allem: Er sollte ohne das lästige Geräusch des Verdichterrads auskommen, das nur eingefleischten Fans der teutonischen Brachial-Kompressoren gefällt. Im Graham sollte er dagegen permanent unauffällig mitlaufen.
Das erforderte eine Neukonstruktion des Verdichterrads und der zugehörigen Antriebsräder, was Graham mit Bravour gelang.
Nicht nur war das nervige Heulen Geschichte, auch wurde das Teil von herein so konstruiert, dass es preisgünstig hergestellt werden konnte – nebenbei eines der „Geheimnisse“ der US-Massenfabrikation, die das Auto demokratisierte.
Eingeführt wurde der Graham-Kompressor nicht erst 1936, sondern schon 1934 beim optisch sensationellen Achtzylindermodell „Blue Streak“ das ich hier bereits gewürdigt habe.
1936, als eine neue Generation des Graham „Supercharged“ auf den Markt kam, hatte sich das „Kompressor“-Konzept vollauf bewährt – wesentlich mehr Leistung, höhere Kraftstoffeffizienz, Geräuscharmut im Betrieb und besseres Kaltstartverhalten.
Neu war 1936 nur, dass dieses Konzept nun auch bei einem Sechyzlinder zum Einsatz kam. Neben den 80 bzw. 90 PS starken nicht aufgeladenen Versionen konnte man also den „Supercharged“ bekommen, der satte 110 PS schaffte.
Äußerlich erkennbar war diese Variante an der Gestaltung der seitlichen Entlüftungsschlitze in der Motorhaube und einem dort angebrachten Schriftzug „Supercharged“.
Genau so ein Gerät hatte sich einst in Deutschland der Herr beschafft, den wir auf dem folgenden Foto sehen – er ist offenbar gerade nach Hause gekommen und wird von seinen Hunden begrüßt:

Was diese schöne Aufnahme so besonders macht, ist weniger der Graham – auch in den 1930er Jahren gab es in Deutschland noch viele Käufer, die das amerikanische Styling, die souveräne Leistung und die komfortable Ausstattung von US-Modellen schätzten.
Bemerkenswert ist vielmehr, dass dieser spezielle Wagen – den Tarnleuchten nach zu urteilen – mitten im 2. Weltkrieg von einem offenkundigen Zivilisten bewegt wurde.
Dessen Erscheinungsbild hat nichts mit dem zu tun, was man sonst aus dieser Zeit auch an der „Heimatfront“ gewohnt ist. Mit Poloshirt und nicht gerade „schneidiger“ Frisur wirkt dieser Graham-Fahrer wie das perfekte Gegenbild zu den Klischees jener Zeit.
Das Kennzeichen mit dem für im Krieg zivil bewegte Autos typischen Winkel über dem Trennstrich zwischen Regionalcode und Ziffernfolge für den konkreten Ort verweist auf eine Zulassung im Raum Hessen. Genauer konnte ich es nicht herausfinden – wie es scheint, haben wir es mit einem Überführungskennzeichen zu tun (da beginnend mit Ziffer 0).
Rätselhaft ist auch die matte Lackierung des Wagens. Ein Wehrmachts-Fahrzeug ist das nicht, sonst fände sich ein Hinweis auf die Truppeneinheit auf dem Kotflügel aufgemalt.
Könnte es sich um ein Beutefahrzeug aus dem Feldzug gegen Frankeich handeln, vielleicht ein von britischen Truppen in Dünkirchen 1940 zurückgelassenes Fahrzeug?
Doch wie war das Auto dann in zivile Hände gekommen? Hatte die Wehrmacht den eher seltenen Wagen verschmäht, zumal ihr damals vieltausendfach gängige französische Modelle in die Hände gefallen waren, mit denen man sich auskannte und für die sich eine sinnvolle Ersatzteilbevorratung aufziehen ließ?
War der Graham daher quasi als Armee-Überschuss angeboten und von einem Privatmann gekauft worden?
Und nicht zuletzt die Frage: Was machte dieser offenbar gutsituierte Herr mit schöner Villa und gepflegtem Garten beruflich? Als erstes fällt einem natürlich ein Landarzt ein, der nicht an die Front musste – aber vielleicht kommt noch etwas anderes in Frage.
Sehen Sie jetzt, was mich an diesem Kriegsfoto so fasziniert, dass ich es als Fund des Monats präsentiere?
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