Achtender in den Schweizer Bergen: Oldsmobile von 1934

Zu den Ländern, die schon immer fast vollständig auf den Import von Automobilen angewiesen waren, gehört die Schweiz.

Das erstaunt, haben doch gerade die Schweizer etliche führende Adressen in den Bereichen Mechanik und Maschinenbau geschaffen. Dass sie auch hervorragende Automobile bauen konnten, zeigte bereits früh die Firma Martini.

Die Waffenfabrik aus Neuchatel begann noch vor 1900 mit eigenständigen Konstruktionen und machte bald mit Sporterfolgen von sich reden. Dazu passt diese Aufnahme aus einer Zeitung von 1908:

Martini_1908_Galerie

Martini-Voiturettes von 1908; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die Abbildung zeigt die Rennsportwagen, mit der Martini 1908 beim Grand Prix de Voiturettes in Dieppe antrat, vor der Abfahrt nach Frankreich.

Zu großer Form liefen die Martini-Wagen erst in der Zwischenkriegszeit auf, doch das ist sehr relativ – die Firma baute insgesamt nur 3.500 Wagen.

Da Martini als erfolgreichste Automarke der Schweiz gilt, kann man sich vorstellen, welche winzigen Stückzahlen die anderen Fabriken herstellten…

Zu erklären ist dies wohl damit, dass die Schweiz für einen nennenswerten Autoabsatzmarkt lange Zeit viel zu arm war.

Wenn die Schweiz heute zu den reichsten Ländern der Welt gehört, hat sie das zum einen klassischen Tugenden zu verdanken: Anstrengungsbereitschaft, Wissbegier, Erfindungsreichtum, Fleiß, Disziplin und Können.

Zum anderen hat die Volksherrschaft verhindert, dass das Land seine Energie in Kriegen, Revolutionen und anderen gegen die Interessen der Bürger gerichteten  Aktivitäten verpulvert.

Die wirtschaftlichen Früchte des Schweizer Modells begannen erst in den 1930er Jahren allmählich sichtbar zu werden.

Eindrucksvoll illustriert wird dies durch die folgende Aufnahme:

Oldsmobile L-Series von 1934; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn für uns das Fahrzeug im Mittelpunkt steht, kann man sich der dramatischen Wirkung dieses Fotos nicht entziehen.

Wie hier die das Gebäude nebenan, der Telegrafenmast und die Berglandschaft einbezogen wurden, alle Achtung. Ein Mehr an Kontrast und Tonwertreichtum ist kaum vorstellbar – hier wurde auch in der Dunkelkammer beste Arbeit abgeliefert.

Die vier Personen an dem Wagen waren es gewohnt, fotografiert zu werden – nur der kleine Hund schien keine Lust zu haben und musste festgehalten werden.

Die gelungene Inszenierung ist des Wagens würdig, den wir hier vor uns haben:

Dass das Auto aus amerikanischer Produktion der 1930er Jahre stammt, ist klar.

Der schrägstehende Kühlergrill mit den gedoppelten Zierleisten und die bis auf die Stoßstange hinuntergezogenen Vorderschutzbleche erlauben eine zeitliche Einengung auf die erste Hälfte der 1930er Jahre.

Die US-Autos jener Zeit wurden jedes Jahr stilistisch überarbeitet und alle Hersteller waren darauf bedacht, in gestalterischer Hinsicht nicht den Anschluss zu verlieren. Hier war bereits voll ausgeprägt, was in der Nachkriegszeit noch bizarre Blüten am US-Automarkt treiben sollte.

Ein eigenes Gesicht hatten damals von den großen Produzenten noch am ehesten die Fahrzeuge von Ford und Chrysler. Bei den Marken aus dem General Motors-Konzern fällt es mitunter schwer, die Typen auseinanderzuhalten.

Im vorliegenden Fall probierte der Verfasser erst einmal die üblichen Verdächtigen aus: Buick, Chevrolet und Cadillac. Dann kamen die unabhängigen Marken Hudson und Studebaker an die Reihe – ebenfalls Fehlanzeige.

Erst die Suche nach vergleichbaren Wagen von Oldsmobile lieferte einen Treffer: Das ist eindeutig ein Achtzylinder der L-Serie von 1934. Äußerlich sehr ähnlich, aber kürzer war die F-Serie mit Sechszylindermotor.

Leistungsmäßig nahmen sich die beiden Versionen nicht viel: ein Oldsmobile der F-Serie verfügte über 84 PS, beim Achtender der L-Serie waren es 90 PS.

Die in einem Oval eingefasste „8“ unten am Kühler verrät, dass sich der Käufer des Oldsmobile auf dem Foto einst für das Spitzenmodell entschieden hatte.

Das konnte sich in der Schweiz in den 1930er Jahren nur jemand leisten, der in Industrie, Handel oder Finanzen zu Geld gekommen war. Dazu will das Kennzeichen mit „ZG“ für den kleinen Kanton Zug nicht recht passen.

Möglicherweise ging der Besitzer aber im Nachbarkanton Zürich einer lukrativen Tätigkeit nach. Leider wissen wir nichts über Ort und Datum der Aufnahme.

Übrigens: Die bereits 1897 von R.E. Olds im US-Bundesstaat Michigan gegründete und 1908 vom General Motors-Verbund übernommene Marke verbaute schon seit 1916 eigene V8-Motoren in ihren Wagen.

Dies unterstreicht einmal mehr, wie weit ihrer Zeit voraus die amerikanische Automobilindustrie einst war.

Auch 1934 musste sich ein Oldsmobile mit seiner Einzelradaufhängung vorne noch nicht vor der inzwischen aufholenden europäischen Konkurrenz verstecken.

Bezieht man Ausstattung, Leistungsfähigkeit und Preis ein, waren die „Amerikaner“-Wagen dank industrieller Massenproduktion immer noch kaum zu schlagen. Erst nach dem Krieg gewannen die europäischen Hersteller die Oberhand.

Das Ergebnis ist bekannt – außerhalb der USA spielen amerikanische Autos schon lange keine wesentliche Rolle mehr.

Auch die Zeiten, in denen man in der Schweiz in den Großstädten noch jede Menge Ami-Straßenkreuzer sehen konnte, sind seit den 1970er Jahren vorbei.

Die ehrwürdige Marke Oldsmobile ging aber erst 2004 unter – nach 107 Jahren! Damit überlebte sie die erwähnte Schweizer Marke Martini um mehr als 80 Jahre.

Die Ironie der Geschichte will es, dass bei Martini im Jahr 1934 die Lichter ausgingen – just in dem Jahr, in dem in Michigan „unser“ Oldsmobile gefertigt wurde, der anschließend auf die lange Reise in die ferne Schweiz gehen sollte…

Mit etwas Glück gibt es den Wagen vielleicht noch – wer weiß?

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

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