E-Typ einmal anders: Audi 22/55 PS in „Stahlgewittern“

Der heutige Blogeintrag kommt mit gleich zwei Wortspielen daher – natürlich geht es hier nicht um den E-Typ von Jaguar, der mal wieder die Titelseite der „Motor-Klassik“ schmückt. Auch die Stahlgewitter sind nur als Anspielung zu verstehen.

Nichts gegen den Jaguar E-Type übrigens, formal wie technisch eines der begeisterndsten Autos, die je gebaut wurden. Sie sind nur nicht selten, wie man etwa hier sieht:

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Jaguar E-Types; Bildrechte Michael Schlenger

Dieses E-Type-Rudel fand sich 2016 auf dem Besucherparkplatz des Goodwood Revival Meeting in Südengland ein.  Man geht anerkennend daran vorbei – es gibt nun einmal Spannenderes – nicht nur in Goodwood, sondern auch hier.

Blenden wir 100 Jahre zurück (wir schreiben November 2017): Es herrscht Krieg in Europa. Vor einem Jahr, also im Dezember 1916, haben Deutschland und Österreich-Ungarn ein Angebot zu Friedensverhandlungen gemacht.

Dies geschah aus einer Position relativer Stärke der „Mittelmächte“. Es hätte dem Schlachten in Frankreich ein Ende machen können, in dem seit 1914 Millionen junger Männer von ihren Regierungen verheizt wurden.

Bei einem Friedensschluss 1917 wäre Europa wohl die russische Revolution, der Versailler Vertrag und das nationalsozialistische Regime erspart geblieben.

Doch die Gegenseite, die „Entente“ aus England, Frankreich und Russland, antwortete mit Forderungen, die auf die Zerstörung der staatlichen Einheit des Gegners abzielten.

Hinzu kam im April 1917 die Kriegserklärung der USA an Deutschland und Österreich-Ungarn. Das Schlachten sollte bis zum bitteren Ende 1918 weitergehen.

In Deutschland führte unterdessen die britische Seeblockade zu einer dramatischen Rohstoffverknappung. Dieses Originalfoto kündet davon:

Audi Typ E 22/55 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist eine Aufnahme, wie sie manche Freunde von Vorkriegsautos vielleicht noch nie gesehen haben. Sie führt eindringlich vor Augen, welche Improvisationen im 1. Weltkrieg auf Seiten der Mittelmächte erforderlich wurden.

Hier haben wir einen 6-sitzigen Tourenwagen, der an der Vorderachse  Stahlfederräder hat, mit denen man sich über den Mangel an Reifengummi hinweghalf.

Einer der Hersteller solcher Reifen war die Berliner Firma Seidel & Co., die im Krieg mit dem Markennamen AROP Reklame machte:

Originalreklame für AROP-Räder aus Sammlung Michael Schlenger

Autoräder ohne Pneu – dafür steht die Bezeichnung AROP. Mit den stahlgefederten Laufrädern dürfte der Hersteller ein gutes Geschäft gemacht haben.

Weiß ein Leser etwas über Laufeigenschaften und Haltbarkeit dieser Räder? Wie es scheint, bestand die Lauffläche aus einer Gummischicht, vergleichbar einem Vollgummireifen, nur dass die Stahlfedern für mehr Komfort sorgten.

Ein bemerkenswertes Detail zwar, doch interessanter ist der Wagen selbst – ein Audi, wie das Emblem auf folgender Ausschnittsvergrößerung erkennen lässt:

So eindeutig die Marke ist, so  schwierig ist die Ansprache des genauen Typs.

Die bis zum Beginn des 1. Weltkriegs gebauten Audis gehörten einer Typenfamilie an, deren Entstehung bis in das Jahr 1910 zurückreicht.

Die vier Typen A, B, C und D unterschieden sich hauptsächlich in der Dimensionierung ihrer Motoren mit vier paarweise gegossenen Zylindern.

Auch wenn es zu den raren frühen Audis eine hervorragende Publikation gibt – Audi-Automobile 1909-40 von Kirchberg/Hornung (Verlag Delius-Klasing) – mangelt es an Bildmaterial zu den einzelnen Typen.

So ist aus Sicht des Verfassers unklar, welcher Logik die drei bis Ende des 1. Weltkriegs verbauten Kühlerformen folgten:

  • Der 137mal gebaute Audi Typ A 1/22 PS (1910-12) besaß einen Flachkühler wie das Auto auf dem Foto, doch hat auch ein Modell mit Schnabelkühler überlebt.
  • Von 1912-17 wurde der Audi Typ B 10/28 PS gebaut, in 350 Exemplaren. Von ihm finden sich Fotos mit Flachkühler, allerdings ragt dort das Audi-Emblem in das Kühlergitter hinein.
  • Den parallel verfügbaren Audi Typ C 14/35 PS, der über 1100mal gebaut wurde, gab es noch vor Kriegsausbruch 1914 mit Flach- und Spitzkühler, wobei beim Flachkühler das Audi-Emblem ebenfalls in das Kühlergitter hineinragte.
  • Vom nur rund 50mal gebauten Audi Typ D 18/45 PS (ab 1911) ist dem Verfasser nur ein Foto in der Literatur bekannt, das einen Flachkühler zeigt, wiederum mit in das Kühlernetz hineinragendem Emblem.
  • Bleibt das Spitzenmodell, der Audi Typ E 22/55 PS (ab 1913), von dem 300 Stück entstanden. Im Museum Sinsheim steht ein frühes Exemplar dieses Typs mit einem ähnlichen Kühler wie beim Wagen auf unserem Foto.

Doch auch hier gibt es im Detail einige Unterschiede, die mit der Produktion in Manufaktur erklärbar sind. Vermutlich war die Kühlerversion je nach Kundenwunsch variabel, so wie auch Benz Flach- und Spitzkühler parallel anbot.

Zudem gab es keine Werkskarosserien, weshalb kein früher Audi dem anderen glich.

Wie lässt sich angesichts dieser Ausgangslage der Audi auf dem Foto als E-Typ 22/55 PS identifizieren? Nun, die schieren Dimensionen sprechen dafür.

Während es alle Typen mit einem Radstand von etwas über 3 Metern gab, waren die ganz langen Modelle den Typen D und E vorbehalten.

Dabei fiel der Audi E-Typ mit einem maximalen Radstand von fast 3,50 m aus dem Rahmen. Nur bei ihm erreichte auch der offene Tourenwagen eine Gesamtlänge von deutlich über 4,50 m.

Hinzukommt, dass vom annähernd gleich dimensionierten D-Typ wie erwähnt nur rund 50 Stück gebaut wurden. Somit spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass unser Foto Audis Spitzenmodell Typ E 22/55 PS zeigt. 

Mit diesem kraftvollen Wagen, der eine eher theoretische Spitzengeschwindigkeit von 100 km/h erreichte, verfügten die hinter der Front aufgenommenen Soldaten eine Fortbewegung, die man nur als privilegiert ansehen konnte:.

Die Herren, die uns hier über eine Kluft von über 100 Jahren ansehen, scheinen Unteroffiziere der sächsischen Armee gewesen zu sein, wie ein Leser mitteilt. Das Nummernschild deutet auf die Zugehörigkeit zum XIX. Armeekorps hin, dessen Einzugsgebiet in Sachsen lag und das an der Westfront eingesetzt wurde.

Die friedliche Aufnahmesituation war keine Garantie dafür, dass den Männern das Grauen der Materialschlachten und der Gräbenkämpfe erspart blieb, wie sie in Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ brutal-trocken geschildert werden.

So mag die Stahlbereifung des mutmaßlichen Audi Typ E 22/55 PS auf die heute unvorstellbaren Härten verweisen, denen diese Generation von einer auf allen Seiten gleichermaßen rücksichtslosen politischen Führung ausgesetzt wurde.

Übrigens ist der Verfasser wie immer dankbar für ergänzende oder auch korrigierende Anmerkungen zu dem abgebildeten Fahrzeug, das in jedem Fall zur Zeit des 1. Weltkriegs eine äußerst seltene Erscheinung gewesen sein muss.

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

 

 

 

 

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