Fund des Monats: Ansaldo 8/32 PS mit Reutter-Aufbau

Im letzten Blog-Eintrag gab sich der Verfasser etwas voreilig Hoffnungen auf ein baldiges Nahen des Frühlings hin – vermutlich unter dem verwirrenden Einfluss der beiden Fotomodelle, mit denen Mercedes einst so raffiniert warb.

Leider sind zwischenzeitlich wieder spätwinterliche Verhältnisse in die sonst von mildem Lokalklima geprägte Wetterau zurückgekehrt. Da helfen nur ein Glas Rotwein und ein neuer Beitrag zur Rubrik FUND DES MONATS.

Kurioserweise wirft der heutige Kandidat nicht die geringsten Rätsel auf – die beiden Originalaufnahmen sind akkurat beschriftet und auf den Tag genau datiert.

Bemerkenswert ist aber eines: Da hat tatsächlich jemand im Jahr 1925 bei der renommierten Stuttgarter Karosseriebaufirma Reutter einen großzügigen Aufbau als 6-Fenster-Limousine für einen italienischen Ansaldo bestellt.

In deutschen „Oldtimer“-Magazinen mit ihrem beschränkten Markenhorizont und Hang zu ordinären Gebrauchtwagen der 1980er und 90er Jahre kommt ein solches Fabeltier natürlich selten bis nie vor.

Doch auch eingefleischte Vorkriegsenthusiasten haben vermutlich kaum je ein Fahrzeug dieses Typs zu Gesicht bekommen:

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Ansaldo 8/32 PS; Reutter-Werksfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses majestätische Automobil mit großzügigem Passagierabteil – wie wir noch sehen werden – wurde von Reutter im Auftrag des Stuttgarter Autohauses Fuchs & Börner gefertigt.

Leider wissen wir nichts über den Käufer des Wagens. Wer auch immer es war, muss ein Faible für das Außergewöhnliche gehabt haben. Denn Autos des traditionsreichen Turiner Herstellers Ansaldo waren stets teure Manufakturprodukte.

Wer so etwas in Stuttgart Mitte der 1920er Jahre haben wollte, enttäuschte wohl bewusst die Erwartungshaltung seiner schwäbischen Mitbürger – eine Einstellung, die in Zeiten grassierender politischer Korrektheit hochaktuell ist.

Die Beschriftung der Werksaufnahme von Reutter verrät uns neben dem Entstehungsdatum „3.8.1925“ auch die Motorisierung des Ansaldo: 8/32 PS.

Demnach haben wir es wahrscheinlich mit einem der „kleinen“ Vierzylindermodelle des Typs 4D von Ansaldo zu tun.

Auf den ersten Blick erscheint das angesichts der Dimensionen des Wagens unglaubwürdig – unter dieser Haube könnte auch ein Sechszylinder stecken:

Viel Vergleichsmaterial ließ sich bislang nicht auftreiben – der Ansaldo-Konzern betrieb ähnlich wie Hanomag – den Automobilbau eher nebenher.

Doch im Fundus des Verfassers fand sich eine Reklame für das Vierzylindermodell Tipo 4D, bei der die Dimensionen des Vorderwagens ganz ähnlich erscheinen.

Unterschiedlich sind hier lediglich die Ausführung der Räder, die fehlenden Vorderradbremsen und die abweichende Gestaltung des Schutzblechs:

Ansaldo-Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Reklame ist etwas älter als die Werksaufnahme des Ansaldo mit Reutter-Karosserie. Dennoch zeigt sie ein Vierzylindermodell mit ganz ähnlichen Proportionen,

Da Ansaldo in den 1920er Jahren auch stärkere Sechszylinderwagen baute, wäre es interessant zu erfahren, ob für die Vierzylinder aus Prestigegründen dasselbe Chassis verwendet wurde.

Für einen 32 PS leistenden Vierzylindermotor wäre jedenfalls ein derartig üppig bemessener Vorderwagen nicht erforderlich gewesen. Möglicherweise war der Klientel von Ansaldo die Motorleistung auch weniger wichtig als eine opulente Erscheinung und großzügige Innenausstattung.

Damit wären wir bei dem zweiten Werksfoto des Wagens, das wir bewusst in voller Größe zeigen. Es zeigt nämlich den Papierstreifen unterhalb des Abzugs mit den bereits erwähnten Daten dieses Ansaldo:

Ansaldo 8/32 PS; Reutter-Werksfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Blick in den Innenraum ist eine Offenbarung – das Wertegefüge war einst auch in automobiler Hinsicht ein anderes. Wer über die „bloß“ 32 PS dieses Ansaldo lächelt, verstummt angesichts der wohnzimmerhaften Anmutung des Passagierabteils.

Hier gab es kein „fahrerorientiertes Cockpit“, der Chauffeur hatte sich vielmehr mit einem knapp bemessenen Arbeitsplatz zu begnügen. Bei solchen Wagen stand vielmehr der Komfort der Reisenden im Mittelpunkt.

Dieser Aspekt wird nicht nur bei der Staatsbahn hierzulande schmählich vernachlässigt, auch viele Autobauer meinen, dass Beinfreiheit und großzügiger Rundumblick „von gestern“ seien.

Offenbar will es der gemeine Kunde so, denn Alternativen mit gutem Platzangebot und vorbildlicher Übersichtlichkeit gibt es durchaus. Damit wären wir wieder bei den eingangs geschmähten „Youngtimern“ der 1980er und 90er Jahre.

Aber seien wir ehrlich: Kann eine 30 Jahre alte Mercedes S-Klasse hier mithalten?

Tja, so ändern sich die Zeiten. Hier „stieg“ man noch würdevoll ein und genoss einen Freiraum wie einst in einem D-Zug-Abteil. Aber das kennt ja auch kaum noch einer…

Glauben wir bloß nicht, dass wir in jeder Hinsicht in der besten aller Welten leben.

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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