Sommerfreuden – aber wo? Ein Ansaldo anno 1938

Der Sommer ist da, jedenfalls in der hessischen Wetterau, in der ich großgeworden bin und wo ich, von einem Intermezzo in Wiesbaden abgesehen, immer gewohnt habe.

Die Außentemperatur betrug heute laut Angabe meines Nachkriegsautos rund 28 Grad, das war aber im Sonnenschein. Das alte Quecksilberthermometer an der Ostwand meiner Oldtimerhalle, die immer im Schatten liegt, zeigte dagegen 24 Grad an.

Unter dem prächtigen alten Maronenbaum im Garten war die Luft auch mittags angenehm kühl – unter der endlos sengenden Sonne kam sie mir dagegen heiß vor.

Wie warm war es heute wirklich? Das kann niemand genau sagen, nur eines weiß ich: An solchen Tagen erreiche ich meine Betriebstemperatur. Und da ich noch nicht genug hatte, schwang ich mich gegen 19 Uhr auf’s Rad.

Eine Feierabendrunde mit meinem „Dixi“ der 1950er Jahre – das Markenemblem mit dem galoppierenden Kentauren ist noch lupenreine Vorkriegszeit. Die Technik ist es auch: Keine Schaltung, Stempelbremse vorne, Rücktrittbremse hinten, knallharter Ledersattel.

Meidet man Steigungen und mutet sich was zu, lässt sich so ein alter Drahtesel flott pedalieren. Bei Rückenwind waren zeitweise 35 km/h zu verzeichnen, eine Tempoanzeige innerorts zeigte 30 km/h, der Schnitt errechnete sich schließlich mit über 25 km/h.

Spätestens danach ist einem sehr sommerlich zumute, vor allem wenn man den Winter über nichts für die Fitness getan hat. Aber nach ein paar solchen Trainingsrunden wird das schon.

Zuverlässigster Anzeiger für sommerliche Verhältnisse ist ohnehin der sich einstellende Teint. Damit wären wir beim Foto, das ich Ihnen heute präsentieren möchte.

Sie erinnern sich vielleicht an diese Aufnahme eines Ansaldo-Tourers, der einst an einem Wintersportort fotografiert wurde:

Ansaldo 6B; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Vergessen Sie die Jahreszeit und studieren stattdessen einige Details: die Gestaltung von Kühler, Stoßstange und Kotflügeln, auch die ungewöhnlich niedrige Seitenlinie.

Diesen adretten Tourer hatte ich seinerzeit als Ansaldo 6B von 1927/28 identifiziert. Daran bestehen aus meiner Sicht nach wie vor wenig Zweifel – wer es besser weiß, soll es uns sagen (wir lernen alle gern dazu).

Zu beanstanden habe ich hier nur die abgebildete Situation, irgendwie prosaisch. Ein technisch makelloser und gut aussehender Wagen zwar wie praktisch alle italienischen Automobile jener Zeit, nur will mir das Personal daneben nicht so recht in den heiß ersehnten Süden passen.

Das muss an der Jahreszeit und der Kleidung gelegen haben. Denn ein weitgehend identischer Ansaldo mit sommerlich gebräunten Insassen hat doch gleich eine ganz andere Anmutung, nicht wahr?

Ansaldo 6B; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist ein Foto ganz nach meinem Gusto und die abgebildeten Automobilisten sehen so sehr nach Sommer aus, dass man neidisch werden könnte – wenn man nicht schon selbst etwas für die gesunde Bräune getan hat.

Diese Herrschaften haben offensichtlich nicht nur Nase, Stirn und Wange der Sonne exponiert, hier wurde zweifellos viel Haut der Strahlung unseres Zentralgestirns dargeboten.

Gleichzeitig weiß man sich geschmackvoll (d.h. für die Mitmenschen erfreulich) zu kleiden. Fernglas und Rolleiflex-Kamera sehen schwer nach Reise aus.

Daran und dass es sich bei dem eleganten Tourenwagen um einen Ansaldo 6B der späten 1920er Jahre handelt, besteht wenig Zweifel, meine ich.

Aber wo genoss man einst diese Sommerfreuden? Das Nummernschild verweist auf eine Zulassung anno 1938 – als der Ansaldo schon rund zehn Jahre alt war. Doch ansonsten sagt mir das Kennzeichen nichts.

Die sehr niedrige laufende Nummer spricht für einen Zwergstaat oder eventuell ein Land mit damals extrem geringem Motorisierungsgrad – eventuell ein Staat in Südosteuropa.

Wer kann uns sagen, wo dieses schöne Dokument einst entstand, das von einem prächtigen Sommer erzählt, kurz bevor in Europa das Licht der Zivilisation ausging?

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Der Frühling kann kommen: Ansaldo 6B von 1927/28

Eigentlich wollte ich heute das Ende der Skisaison ausrufen – denn ich habe das passende Foto dazu! Doch dann werfe ich einen kurzen Blick nach draußen: Da tanzen doch tatsächlich ein paar Schneeflocken durch die Luft!

Verflixt, jetzt muss ich schnell das Motto wechseln. Denn die Erfahrung zeigt, dass in meiner Heimatregion – der hessischen Wetterau – die Winter zwar meist milde sind, doch kann es bis in den April hinein immer noch Rückschläge mit Frost und Schneefall geben.

Da mir eine Prognose vor dem Hintergrund riskant erscheint, ich aber den Frühling kaum erwarten kann, will ich ihm zumindest auf diesem Wege mitteilen, dass er von mir aus lieber früher als später kommen kann.

Und als passende Geste dazu packen wir nun die Skier wieder ein und machen den Wagen klar für die Heimfahrt in der Hoffnung, dass uns der Frühling mutig auf dem Fuße folgt.

Natürlich sind wir in einem Tourenwagen der Vorkriegszeit unterwegs, es gibt ja kaum eine stilvollere Form der Fortbewegung, und gleich steigen alle in das Auto. Aber wo tut man eigentlich die Skier hin, wenn dieses vollbesetzt und das Dach offen ist?

Nun, da wusste man sich zu helfen, denn statt eines Dachgepäckträgers hatte man einst wohlgeformte Kotflügel, welche geradezu ideal für die Aufgabe geeignet waren:

Ansaldo 6B Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Man sieht: für diese Herrschaften war der Winter definitiv vorbei – kalt war es wohl noch, aber Schnee ist nirgends mehr zu sehen.

Also kann es heimgehen, was in diesem Fall die Fahrt nach Bozen in Südtirol bedeutet, wenn ich das Nummernschild richtig interpretiere.

„Ein eleganter Amerikanerwagen ist das ja!“, mag man jetzt denken. Zugegeben: Auf den ersten Blick ähnelt das Auto einem US-Fabrikat von Mitte/Ende der 1920er Jahre. Vor allem die Gestaltung der Stoßstange würde dazu passen.

Doch dann bemerkt man, wie ungewöhnlich flach dieser Tourenwagen baut. Denkt man sich die aufgesteckten Seitenscheiben – eine leichte Konstruktion aus Zelluloid und Kunstleder auf Holzrahmen – ist die Seitenlinie nur etwa hüfthoch.

Dennoch handelt es sich nicht gerade um einen kleinen Wagen – wie ist das möglich? Tja, dazu bedarf es einer Sache, die man jenseits des Atlantiks, aber auch nördlich der Alpen oft schmerzlich vermisst – italienisches Stilempfinden.

Nicht nur Lancia bekam beim legendären Lambda das Kunststück hin, einen großzügig bemessenen und gut motorisierten Wagen unerhört niedrig zu bauen. Auch der Hersteller unseres heutigen Skitransporters beherrschte diese Kunst.

Dabei handelt es sich um eine Firma, die Automobile eher nebenher baute – den traditionsreichen Waffenhersteller Ansaldo aus Turin. Wagen der Marke werden Sie vereinzelt auch in meinem Blog finden, doch bislang kaum einen dieser Klasse:

Ansaldo 6B Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn ich richtig liege, haben wir hier ein Exemplar des Sechszylindertyps 6B in der Ausführung von 1927/28 vor uns, dessen 2,2 Liter Motor mit obenliegender Nockenwelle über 50 PS leistete, was locker für über 100 km/h Spitze reichte.

Die Italiener hatten im Norden die dafür geeigneten Schnellstraßen dafür, lange bevor in Deutschland großspurig Autobahnen für die Volksgenossen gebaut wurden, die sich in der weit überwiegenden Mehrheit überhaupt kein Auto leisten konnten…

Nun haben wir noch zwei, drei Tage, bevor der Urlaub zuende ist – was läge da näher, noch rasch einen Abstecher an den Comer See zu machen und bei der Gelegenheit besagte „Autostrada dei Laghi“ auszuprobieren, die seit 1925 von dort nach Mailand führt?

Die schnurgeraden Abschnitte nach Mailand nehmen wir mit Dauervollgas – darauf war der Ansaldo ausgelegt. Die Marke genoss auch deshalb einen hervorragenden Ruf.

Wir haben aber noch einen Grund zur Eile, denn abends haben wir Opernkarten für die Mailänder Scala! Vorher wirft man sich im Hotel in Schale, dann geht es im Ansaldo direkt vor’s Opernhaus:

Gerade will unsere Gesellschaft ein Erinnerungsfoto mit dem Wagen vor der prächtigen Fassade machen, da geschieht, was geschehen muss. Ein deutscher Tourist – nach Teutonenart nachlässig gekleidet – stellt sich frech ins Bild und lässt sich dort ablichten.

Dabei steht er so hölzern da, als habe er einen Karabiner geschultert, dabei hält er sich bloß an seinem Kameragurt fest, der Arme.

Man sieht, wie die Umstehenden – nach Mailänder Art stadtfein zurechtgemacht und durchweg „bella figura“ machend – erstaunt bis fassungslos der Szene beiwohnen. Der Herr neben der dunklen Limousine greift sich sogar an den Kopf:

Ansaldo 6B Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

So ist leider Blick auf den Ansaldo ruiniert, dabei haben wir uns sogar die Mühe gemacht, die Skier abzumontieren, um ja nicht unangenehm aufzufallen.

Die ganz Schlauen unter Ihnen werden natürlich bemerkt haben, dass es sich nicht um exakt dasselbe Auto handelt und ich mir die kleine Story bloß ausgedacht habe. „Se non e vero e almeno ben trovato“, pflegt man in Italien dann zu sagen – wenn die Geschichte schon nicht wahr ist, ist sie doch wenigstens gut erfunden (hoffe ich).

Jetzt kann es sein, dass einer in Sachen Vorkriegsautos keinen Spaß versteht und darauf drängt, für diesen Verstoß gegen die historische Genauigkeit entschädigt zu werden.

Auch solche strengen Gemüter sind bestechlich, meine ich. Auch sie werden schwach, wenn man ihnen nur das richtige Material direkt vor die Nase hält. Und alle übrigen werden es ohnehin genießen, was ich zum Abschluss aus dem Hut zaubere.

Der elegante Stil des Ansaldo 6B der späten 1920er Jahre ließ sich nämlich in unwiderstehliche Weise noch auf die Spitze treiben.

Das unternahm die Karosseriebaufirma Bertone, wie folgendes Foto belegt, das ich auf der Facebook-Präsenz der italienischen Oldtimer-Zeitschrift „Ruote Classiche“ fand:

Ansaldo 6B Tourenwagen (Karosserie Bertone); Quelle: Ruote Classiche

Noch enger auf den Leib schneidern ließ sich das Blechkleid sicher nicht bei diesem Ansaldo 6B von 1928.

Dem stolz daneben posierenden Herrn – wohl der Besitzer – reicht das Auto gerade bis zur Hüfte wie bei dem eingangs präsentierten Exemplar. Doch hat es Bertone geschafft, hier auch den Vorderwagen genauso niedrig zu halten – ein Meisterstück!

Mit so einem Ansaldo jubelnd dem Frühling entgegenzufahren, der sich in den nächsten Wochen von Italien aus nach Norden vorarbeitet – davon wenigstens zu träumen, ist alles, was uns Nachgeborenen vergönnt ist.

Draußen wirbeln immer noch ein paar Flocken – vielleicht sollte ich demnächst auch wieder einen meiner therapeutischen Aufenthalte im gesegneten Land südlich der Berge antreten…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Wieder „auf Axe“: Ein Ansaldo Tipo 4-Tourenwagen

Wer angesichts des Titels fürchtet, dass ich neuerdings mit der pädagogischen Torheit „Schreiben nach Gehör“ sympathisiere, kann beruhigt sein.

Hier wird weiterhin auf dem bewährten Niveau geschrieben, welches man Generationen von Deutschen in der Schule beibringen konnte – unabhängig von der Schulform, übrigens. Vergleichen Sie einmal die Rechtschreibung in Briefen und Postkarten von Haupt- und Realschülern von vor 100 Jahren mit derjenigen heutiger Abiturienten…

Auch in dieser Hinsicht haben die 1968 zum Marsch durch die Institutionen aufgebrochenen Kulturmarxisten erfolgreich die Axt an die Wurzel der bürgerlichen Gesellschaft gelegt.

Allen konservativen Prinzipien zum Trotz wollte ich aber der Gelegenheit zu einem vielleicht etwas platten Wortspiel nicht widerstehen.

Wenn wir heute wieder „auf Axe“ sind, geht es nämlich im Vorkriegsautomobil entlang der Axenstraße, einem Abschnitt der zum Gotthardpass führenden Fernverbindung entlang der Ostseite des Urnersees in der Schweiz.

In den Felsgalerien der Axenstraße entstanden einst unzählige Fotos von Reisenden vor dramatischem Hintergrund – dieses habe ich in einem Porträt des BMW 3/15 PS bereits einmal gezeigt:

BMW 3/15 PS (Typ DA4); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Freunde des unverwüstlichen ersten BMW-Automobils überhaupt – hier mit Münchener Zulassung – werden es mir nachsehen, wenn ich ihren Liebling heute links liegen lasse und die Aufmerksamkeit ganz auf die Landschaft lenke.

Denn wichtiger ist dieses Mal die grandiose Szenerie, vor der der Mensch und seine Schöpfungen mit einem Mal ganz klein erscheinen – nebenbei ein Eindruck, der sich auch beim hundertsten Anblick der schweizerischen Bergwelt immer wieder einstellt.

Bitte blenden Sie daher nach Möglichkeit die Herrschaften auf der Mauer aus und prägen Sie sich die tiefgestaffelte Kulisse im Hintergrund und die links gelegene kleine Kirche ein – wir kommen darauf zurück:

Diese Szenerie wird das Einzige sein, was Ihnen am Ende bekannt vorkommt, denn das Automobil, das ich vor beinahe demselben Hintergrund präsentiere, gehört vermutlich zu den zahllosen Fahrzeugen der 1920er Jahre, die von uns Menschen des 21. Jahrhunderts kaum je einer zu Gesicht bekommen hat.

Die Marke – Ansaldo aus Turin – mag manchem vage bekannt vorkommen, doch etwas Konkretes dürften die wenigsten damit verbinden.

Das könnte unter anderem damit zusammenhängen, dass das äußerlich markanteste Merkmal der ab 1919 gebauten Ansaldo-Wagen das Firmenemblem war, welches auf den Ursprung als Waffenhersteller verweist:

Ansaldo-Reklame von Anfang der 1920er Jahre; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Ansaldo hatte sich im 1. Weltkrieg jedoch bereits von der Tradition als Hersteller von Artilleriewaffen entfernt und Flugmotoren gebaut.

Wie viele andere Firmen stand man nach Kriegsende vor der Frage, was man nun mit den Produktionskapazitäten und dem technischen Können anfängt. Aus einer ähnlichen Situation heraus hatte sich Fiat 1919 der Massenproduktion von Autos zugewandt – zuvor hatte man in überschaubarer Stückzahl meist luxuriöse Manufakturwagen gefertigt.

Ansaldo gelang nicht annähernd eine solche großangelegte Neuausrichtung, man strebte sie wohl auch nicht an – der Automobilbau blieb einer von mehreren Geschäftszweigen des Maschinenbaukonzerns.

Auch wenn von den Anfang der 1920er Jahre eingeführten kopfgesteuerten Vierzylindermodellen mit 1,8 Liter Hubraum und gut 30 PS nur einige hundert pro Jahr entstanden, erlangte Ansaldo auch im Ausland Bekanntheit, wie diese französische Anzeige belegt:

Ansaldo-Reklame von Mitte der 1920er Jahre; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der hier abgebildete Wagen entspricht bis auf die 1923 eingeführten Vorderradbremsen und die Drahtspeichenräder äußerlich recht genau dem Auto, um das es heute geht.

Für internationale Bekanntheit hatten vor allem Erfolge von Ansaldo-Sportwagen bei diversen Rennveranstaltungen gesorgt. Das sprach sich auch nördlich der Alpen herum.

Dort ließ nämlich jemand gegen Mitte der 1920er Jahre von der Stuttgarter Karosseriebaufirma Reutter diesen geräumigen und repräsentativen Aufbau für seinen frisch erworbenen Ansaldo schneidern:

Ansaldo Tipo 4D 8/32 PS, Karosserie Reutter; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass es sich bei der Basis tatsächlich um einen Ansaldo handelt, belegt der umseitige Vermerk des Herstellernamens zusammen mit der Leistungsangabe 8/32 PS.

Demnach werde wir es hier mit einem Tipo 4 auf langem Radstand zu tun haben, der ab 1923 mit Bremsen an den Vorderrädern ausgestattet war – ein wichtiges Datierungsmerkmal. Die Frontpartie änderte sich bei Ansaldo-Wagen der ersten Hälfte der 1920er Jahre nur geringfügig.

So findet man die schmalen und nach hinten geneigten Luftschlitze in der Haube bereits bei früheren Ausführungen des Ansaldo Tipo 4, die je nach Evolutionsstufe mit dem Zusatz A, B und C versehen waren, sich aber äußerlich stark ähnelten.

Entsprechend schwer fällt es daher auch, den folgenden Wagen aufs Jahr genau festzunageln:

Ansaldo Tipo 4; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Moment mal, werden Sie jetzt vielleicht denken. Hier ist doch nicht einmal klar, wer überhaupt der Hersteller dieses Wagens war. Der Tourenwagenaufbau mit Flachkühler passt zu unzähligen Autos der frühen 1920er Jahre.

Nun, das dachte ich anfänglich auch – mein Fotofundus umfasst dutzende Abbildungen von Tourern dieser Machart, deren Identität mir noch ein Rätsel ist.

Doch liefert ein genauerer Blick einen Hinweis, der einen weiterbringt. Im vorliegenden Fall war das die Aufschrift auf dem Vorderreifen: „PIRELLI MILANO“ ist dort zu lesen:

Da Pirelli-Reifen damals noch praktisch ausschließlich an italienischen Wagen verbaut wurden, schnurrte die Auswahl der möglichen Marken rasch zusammen: Alfa, Ceirano, Diatto, Fiat und OM ließen sich anhand des Kühleremblems ausschließen.

Dieses ist zwar nur schemenhaft erkennbar, aber zumindest passt es zu keiner der vorgenannten Marken. Mit etwas Phantasie erahnt man stattdessen das rautenförmige Emblem von Ansaldo, an dessen vier Seiten die Enden zweier gekreuzter Kanonen hervorlugen.

Auch die kaum sichtbaren schräggestellten Luftschlitze und die Gestaltung der bis ans vordere Ende des Rahmens gezogenen Kotflügel passen zum Tipo4 von Ansaldo.

Neben den fehlenden Vorderradbremsen verweist auch der nicht dem Profil der Motorhaube folgende untere Abschluss der Windschutzscheibe auf eine Entstehung im Jahr 1922 oder etwas früher. Ganz genau ermitteln lässt es sich wohl nicht mehr.

Jedenfalls können wir so auch das Sechszylindermodell Tipo 6″ ausschließen, das erst 1923 eingeführt wurde und von Anfang an Vierradbremsen besaß.

Immerhin ist überliefert, wann dieses Foto des Ansaldo Tipo 4 mit typischem Toureraufbau entstand – auf der Rückseite ist von alter Hand der 21. Mai 1926 vermerkt.

Wer sich als Besitzer eines Wagens jener Zeit für die damals übliche Reisekleidung interessiert, findet hier also genau datiertes Anschauungsmaterial – speziell bei den Damen:

Mit Bewusstsein so noch nicht gesehen habe ich die kompakte und vermutlich getönte Brille der Dame im Heck ganz links.

Überhaupt sind die Passagiere ein reizvoller Anblick, da kann der bullig wirkende Fahrer nicht mithalten, wenngleich er mit seinem „Schicksal“ als Chauffeur dieser Grazien sichtlich nicht unzufrieden ist.

Sein Outfit – wohl eine schwere doppelreihige Lederjacke oder auch ein Mantel – ist eher zeitlos, so etwas findet man bei den Herren bis in die 1950er hinein.

Damit wäre ich fast am Ende, doch sicher erinnern Sie sich an meine Aufforderung zu Beginn, sich die Szenerie an der Axenstraße einzuprägen. Im Zweifelsfall gehen Sie noch einmal dorthin zurück und werfen einen erneuten Blick auf die Kulisse.

Spätestens dann wird ihnen diese großartige Situation sehr bekannt vorkommen:

Ansaldo Tipo 4; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Tatsächlich ist dieses Foto ganz in der Nähe an der Axenstraße entstanden, vielleicht mit etwa größerem Abstand zu der Kirche im Mittelgrund und an einer sich weiter öffnenden Stelle der Felsgalerie.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit stammt auch diese Aufnahme aus der Hand des Fotografen Michael Aschwanden, der dort von 1911 bis 1939 sein Freiluftatelier hatte und tausende Aufnahmen von vorüberziehenden, vorüberradelnden oder auch mit dem Auto vorüberbrausenden Menschen machte.

Einige hundert dieser Fotos wurden 2003 in einem großartigen Bildband publiziert, den ich jedem Freund der Welt von gestern – und beileibe nicht nur von Vorkriegsautos – ans Herz legen möchte:

Unterwegs auf der Axenstrasse 1911-1939, Fotografien von Michael Aschwanden, Benteli Verlag Bern, 2003 (zzt. nur antiquarisch z.B. bei http://www.zvab.com)

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Fund des Monats: Ansaldo 8/32 PS mit Reutter-Aufbau

Im letzten Blog-Eintrag gab sich der Verfasser etwas voreilig Hoffnungen auf ein baldiges Nahen des Frühlings hin – vermutlich unter dem verwirrenden Einfluss der beiden Fotomodelle, mit denen Mercedes einst so raffiniert warb.

Leider sind zwischenzeitlich wieder spätwinterliche Verhältnisse in die sonst von mildem Lokalklima geprägte Wetterau zurückgekehrt. Da helfen nur ein Glas Rotwein und ein neuer Beitrag zur Rubrik FUND DES MONATS.

Kurioserweise wirft der heutige Kandidat nicht die geringsten Rätsel auf – die beiden Originalaufnahmen sind akkurat beschriftet und auf den Tag genau datiert.

Bemerkenswert ist aber eines: Da hat tatsächlich jemand im Jahr 1925 bei der renommierten Stuttgarter Karosseriebaufirma Reutter einen großzügigen Aufbau als 6-Fenster-Limousine für einen italienischen Ansaldo bestellt.

In deutschen „Oldtimer“-Magazinen mit ihrem beschränkten Markenhorizont und Hang zu ordinären Gebrauchtwagen der 1980er und 90er Jahre kommt ein solches Fabeltier natürlich selten bis nie vor.

Doch auch eingefleischte Vorkriegsenthusiasten haben vermutlich kaum je ein Fahrzeug dieses Typs zu Gesicht bekommen:

Ansaldo 8/32 PS; Reutter-Werksfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses majestätische Automobil mit großzügigem Passagierabteil – wie wir noch sehen werden – wurde von Reutter im Auftrag des Stuttgarter Autohauses Fuchs & Börner gefertigt.

Leider wissen wir nichts über den Käufer des Wagens. Wer auch immer es war, muss ein Faible für das Außergewöhnliche gehabt haben. Denn Autos des traditionsreichen Turiner Herstellers Ansaldo waren stets teure Manufakturprodukte.

Wer so etwas in Stuttgart Mitte der 1920er Jahre haben wollte, enttäuschte wohl bewusst die Erwartungshaltung seiner schwäbischen Mitbürger – eine Einstellung, die in Zeiten grassierender politischer Korrektheit hochaktuell ist.

Die Beschriftung der Werksaufnahme von Reutter verrät uns neben dem Entstehungsdatum „3.8.1925“ auch die Motorisierung des Ansaldo: 8/32 PS.

Demnach haben wir es wahrscheinlich mit einem der „kleinen“ Vierzylindermodelle des Typs 4D von Ansaldo zu tun.

Auf den ersten Blick erscheint das angesichts der Dimensionen des Wagens unglaubwürdig – unter dieser Haube könnte auch ein Sechszylinder stecken:

Viel Vergleichsmaterial ließ sich bislang nicht auftreiben – der Ansaldo-Konzern betrieb ähnlich wie Hanomag – den Automobilbau eher nebenher.

Doch im Fundus des Verfassers fand sich eine Reklame für das Vierzylindermodell Tipo 4D, bei der die Dimensionen des Vorderwagens ganz ähnlich erscheinen.

Unterschiedlich sind hier lediglich die Ausführung der Räder, die fehlenden Vorderradbremsen und die abweichende Gestaltung des Schutzblechs:

Ansaldo-Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Reklame ist etwas älter als die Werksaufnahme des Ansaldo mit Reutter-Karosserie. Dennoch zeigt sie ein Vierzylindermodell mit ganz ähnlichen Proportionen,

Da Ansaldo in den 1920er Jahren auch stärkere Sechszylinderwagen baute, wäre es interessant zu erfahren, ob für die Vierzylinder aus Prestigegründen dasselbe Chassis verwendet wurde.

Für einen 32 PS leistenden Vierzylindermotor wäre jedenfalls ein derartig üppig bemessener Vorderwagen nicht erforderlich gewesen. Möglicherweise war der Klientel von Ansaldo die Motorleistung auch weniger wichtig als eine opulente Erscheinung und großzügige Innenausstattung.

Damit wären wir bei dem zweiten Werksfoto des Wagens, das wir bewusst in voller Größe zeigen. Es zeigt nämlich den Papierstreifen unterhalb des Abzugs mit den bereits erwähnten Daten dieses Ansaldo:

Ansaldo 8/32 PS; Reutter-Werksfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Blick in den Innenraum ist eine Offenbarung – das Wertegefüge war einst auch in automobiler Hinsicht ein anderes. Wer über die „bloß“ 32 PS dieses Ansaldo lächelt, verstummt angesichts der wohnzimmerhaften Anmutung des Passagierabteils.

Hier gab es kein „fahrerorientiertes Cockpit“, der Chauffeur hatte sich vielmehr mit einem knapp bemessenen Arbeitsplatz zu begnügen. Bei solchen Wagen stand vielmehr der Komfort der Reisenden im Mittelpunkt.

Dieser Aspekt wird nicht nur bei der Staatsbahn hierzulande schmählich vernachlässigt, auch viele Autobauer meinen, dass Beinfreiheit und großzügiger Rundumblick „von gestern“ seien.

Offenbar will es der gemeine Kunde so, denn Alternativen mit gutem Platzangebot und vorbildlicher Übersichtlichkeit gibt es durchaus. Damit wären wir wieder bei den eingangs geschmähten „Youngtimern“ der 1980er und 90er Jahre.

Aber seien wir ehrlich: Kann eine 30 Jahre alte Mercedes S-Klasse hier mithalten?

Tja, so ändern sich die Zeiten. Hier „stieg“ man noch würdevoll ein und genoss einen Freiraum wie einst in einem D-Zug-Abteil. Aber das kennt ja auch kaum noch einer…

Glauben wir bloß nicht, dass wir in jeder Hinsicht in der besten aller Welten leben.

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.