Herzenssache: Ein Mercedes „Stuttgart“ in Bad Nauheim

Mein heutiger Blog-Eintrag fällt subjektiver aus sonst. Das liegt aber keineswegs an dem Vorkriegsauto, das diesmal im Mittelpunkt steht, sondern an dem Ort, an dem es einst als (vermutlich) willkommene Nebensache abgelichtet wurde:

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Mercedes-Benz „Stuttgart“; Bildrechte: Kerckhoff-Stiftung

Die Rede ist von meinem Heimatort Bad Nauheim im Herzen der hessischen Wetterau, auf halbem Weg zwischen Frankfurt und Gießen an der A5 gelegen und malerisch an einen der letzten Taunusausläufer geschmiegt.

Wer mit der Wetterau nur eine Ansammlung eher unansehnlicher Dörfer verbindet, in denen die einst schönsten Fachwerkhäuser meist ohne Sinn für Qualität verunstaltet wurden, der sollte Bad Nauheim besuchen!

Inmitten einer ländlichen Gegend, die seit Jahrtausenden zu den fruchtbarsten Europas gehört (und glücklicherweise von den Verheerungen der Windkraftindustrie weitgehend verschont blieb) ist Bad Nauheim ein beinahe unwirklicher Ort.

In der Niederung unterhalb des Bauerndorfes Nauheim entstand nach Erschließung salzhaltiger Quellen ab Mitte des 19. Jahrhunderts binnen kürzester Zeit ein mondäner Kur- und Badeort von internationalem Ruf.

Angelockt vom Ruf des Heilwassers, führenden Medizinern und einer meisterhaften Stadtanlage von großer Geschlossenheit und baulicher Qualität stieg hier bis zum 2. Weltkrieg alles ab, was in Europa Rang und Namen – oder zumindest Geld – hatte.

Die Kurgäste auf folgendem Foto aus meiner Sammlung besaßen alles gleichzeitig:

Opel Tourenwagen um 1908; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf der Rückbank des Opel-Tourenwagens sehen wir in Fahrtrichtung rechts halb verdeckt Zar Nikolaus von Russland, neben ihm seinen Schwager Großherzog Ernst-Ludwig von Hessen und vor den beiden eine der Töchter des Zarenpaars.

Aufgenommen wurde diese Szene vor der Burg im Bad Nauheimer Nachbarort Friedberg, wo die Zarenfamilie bei ihren Besuchen im Schloss residierte. Der Opel steht hier abfahrbereit auf der Straße, die noch heute ins nahe Bad Nauheim führt (ausführlicher Bericht).

Doch verdankt Bad Nauheim seinen Ruhm nicht nur den Kuraufenthalten gekrönter Häupter. Es war der erwähnte Ernst-Ludwig von Hessen, der von seiner Residenz in Darmstadt aus die Entwicklung Bad Nauheims zu einer bewunderten Metropole des Jugendstils vorantrieb.

Die meisten Bad Nauheimer wissen zum Glück, was sie dem gebildeten, hochbegabten und der Technik gegenüber aufgeschlossenen Ernst-Ludwig zu verdanken haben. Entsprechend wird sein architektonisches Erbe gepflegt und auch gegen Versuche verteidigt, es mittels banaler und brutaler Neubauten zu entwerten und zu entweihen.

Doch halt – ist dies ein Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos oder ein Architektur- und Reiseführer?

Gewiss, doch laden einen solche historischen Automobilaufnahmen oft auf eine Reise in vergangene Zeiten voller reizvoller Umwege ein. So geht es mir hier nicht nur um die Besonderheiten von Autokarosserien und Technik, sondern auch um sonstige Facetten der Welt von gestern.

Nehmen wir uns also die Zeit und kehren nochmals in den erwähnten Nachbarort Bad Nauheims zurück – in die einstige Römersiedlung und Freie Reichsstadt Friedberg.

In Sichtweite der Friedberger Burg, von der aus vor dem 1. Weltkrieg die Zarenfamilie zum Kuren nach Bad Nauheim fuhr, entstand etliche Jahre später folgende Aufnahme:

Mercedes-Benz „Stuttgart“; Originalfoto aus Sammlung Holger Ahlefelder

Mit diesem feinen Mercedes-Cabriolet, das an einer heute nicht mehr existierenden Tankstelle auf der Friedberger Kaiserstraße abgelichtet wurde, ist nicht nur eine sehr schöne Geschichte verbunden, die ich einem Leser verdanke.

Das Auto passt auch ganz ausgezeichnet zu dem eingangs gezeigten Foto.

Zwar besitzt der in Friedberg abgelichtete Mercedes einen offenen Aufbau der renommierten Manufaktur Reutter, doch entsprach er technisch der Limousine, die einst vor dem Kerckhoff-Institut im benachbarten Bad Nauheim aufgenommen wurde:

Wir haben es hier mit einem Sechszylinder-Modell zu tun, das auf eine Entwicklung von Ferdinand Porsche aus der Mitte der 1920er Jahre zurückging (Typ 8/38 PS).

Mit einigen Verfeinerungen wurde dieses Modell von 1929 bis 1934 als Mercedes-Benz „Stuttgart“ vermarktet. Der technisch unprätentiöse, aber markentypisch solide Wagen war mit zwei Motorisierungen erhältlich.

Die Variante „200“ beschränkte sich auf 38 PS aus 2 Litern Hubraum, während das Modell „260“ mit 50 PS aus 2,6 Litern kräftiger daherkam. Gemeinsam war beiden die seidige Charakteristik des 6-Zylinders, die heutige Autofahrer kaum noch kennen.

Aus heutiger Sicht beträchtlich war der Benzinverbrauch: 14 bzw. 17 Liter wurden für die beiden Versionen des Mercedes-Stuttgart angegeben – bei Spitze 80 bzw. 90 km/h. Man mag daran die enormen Effizienzgewinne ablesen, die seitdem erzielt wurden.

Der Komfort dieser damals sehr teuren Wagen mutet aus moderner Sicht äußerst bescheiden an: Der Belüftung diente eine nach vorn ausstellbare Frontscheibe, eine Heizung gab es nicht (konnte aber nachgerüstet werden).

Auch die blattgefederten Starrachsen und die mechanisch betätigten Bremsen würden dem heutigen Autofahrer einige Umgewöhnung abverlangen, ebenso das unsynchronisierte Getriebe.

Die verchromte Doppelstoßstange, die der Mercedes „Stuttgart“ auf dem Foto trägt, war übrigens ein aufpreispflichtiges Extra. Außerhalb von Großstädten war der Autoverkehr ja so dünn, dass man nicht unbedingt mit Rempeleien rechnen musste.

Aus moderner Sicht mutet die geringe Autodichte der Vorkriegszeit natürlich idyllisch an. Doch die Schattenseite waren eine geringe Mobilität der meisten Menschen und heute unvorstellbare Härten, um bei Wind und Wetter zur Arbeit zu gelangen.

In der einst bitterarmen Wetterau war schon der Besitz eines Fahrrads etwas Besonderes und ein Automobil war bis in die 1930er Jahre purer Luxus.

Selbst im mondänen Bad Nauheim stellte noch in den 1920er Jahren ein Auto eine seltene Erscheinung dar, wie folgende Ansichtskarte illustriert:

Bad Nauheim, Ludwigstraße; Ansichtskarte aus  Sammlung Michael Schlenger

Hier zieht ein typischer deutscher Tourenwagen aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre – zu erkennen an der geteilten Frontscheibe – einsam seine Bahn. Heutzutage rollt hier fast pausenlos der motorisierte Verkehr in beide Richtungen.

Nebenbei wurde diese schöne Szene unweit des Aufnahmeorts des ersten Fotos festgehalten, zu dem ich abschließend zurückkehren möchte. Allerdings existierte der dort abgebildete Bau im neoklassizistischen Stil noch nicht, als das Motiv der obigen Postkarte fotografisch festgehalten wurde.

Hier haben wir einen Ausschnitt des eingangs gezeigten Fotos, der erkennen lässt, dass das Gebäude und das Umfeld gerade erst fertiggestellt worden sein können:

Deutlich zu lesen ist hier der Verweis auf den Stifter des strengen Baus: William G. Kerckhoff. Sein Name steht noch heute für die verdienstvollen Aktivitäten der Bad Nauheimer Kerckhoff-Klinik auf dem Feld der Kardiologie (Herzheilkunde).

Kerckhoff (1856-1929) war ein erfolgreicher amerikanischer Geschäftsmann und suchte wiederholt den Bad Nauheimer Herzspezialisten Dr. Franz Groedel zur Behandlung auf.

Zur Förderung der Bemühungen von Dr. Groedel um Einrichtung eines Herzforschungszentrums in Bad Nauheim stiftete Kerckhoffs Frau Louise nach seinem Tod über 1 Million Goldmark zur Errichtung eines solchen Instituts.

Genau dieses Gebäude, das zwischen der eleganten Parkstraße und dem einzigartigen Jugendstil-Sprudelhof entstand, sehen wir auf dem Foto mit dem Mercedes. Wahrscheinlich entstand die Aufnahme kurz nach der Fertigstellung des Baus im Jahr 1931.

Man darf annehmen, dass der Fotograf damals den Mercedes absichtlich vor dem Gebäude leicht außerhalb der Mittelachse platzierte, um die strenge Symmetrie des Gebäudes aufzulockern.

Sein eigener Wagen wird es eher nicht gewesen sein, aber auf jeden Fall war es das Fahrzeug eines Ortsansässigen. Das Nummernschild mit der Kennung „VO 10965“ verrät nämlich, dass das Auto im Kreis Friedberg zugelassen war.

Wem mag der Mercedes wohl gehört haben? Könnte es jemand aus dem Umfeld des Kerchoff-Instituts gewesen sein – vielleicht dessen erster Leiter Dr. Franz Groedel? Möglicherweise lässt sich das noch herausfinden.

Festzuhalten bleibt, dass das Foto des Mercedes Stuttgart vor dem erst kürzlich sanierten Kerckhoff-Institut stellvertretend für die eindrucksvolle Tradition der Herzforschung in Bad Nauheim steht, die bis heute Früchte trägt.

Der von Louise Kerckhoff im Sinne ihres Mannes gestiftete Bau und das zugehörige Institut sind mittlerweile Teil der Max-Planck-Gesellschaft.

Dass ich das schöne Foto hier vorstellen darf, verdanke ich zwei Personen: Das ist zum einen Dr. Matthias Heil, seines Zeichens Pressesprecher des Max-Planck-Instituts für Herz- und Lungenforschung W.G. Kerckhoff-Institut.

Zum anderen ist Beatrix van Ooyen zu nennen, die am 13. und 14. April 2019 in dem historischen Institutsgebäude die dritte Ernst-Ludwig Buchmesse veranstaltet.

Sie weiß, dass für mich nicht nur Vorkriegsautomobile, sondern auch die Geschichte und Gebäude unseres schönen Bad Nauheims Herzenssache sind, und hat durch ihre Vermittlung letztlich diesen Blog-Eintrag ermöglicht.

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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