Das ist ja die Höhe! Auto-Markenvielfalt vor 90 Jahren

Geht Ihnen der Zeitgeistbegriff der „bunten Vielfalt“ auch auf die Nerven? Als ob die Welt das nicht schon immer gekannt und (in dosierter Form) geschätzt hätte. Darüber musste nicht ständig geredet werden.

Kein Kulturvolk wäre ohne Vielfalt der Ideen, Talente und Ziele ein solches geworden. Nehmen wir das antike Griechenland – ein Flickenteppich stolzer Städte, der es nie zu einem gemeinsamen Staat brachte, aber die Kulturgeschichte Europas bis heute so geprägt hat wie nur ein weiteres Volk – die Römer.

Die haben es das erste und einzige Mal geschafft, von Portugal bis Kleinasien, von Britannien bis Ägypten eine über Jahrhunderte weitgehend friedliche und prosperierende, lokale Traditionen achtende Gesellschaft zu schaffen die zugleich flächendeckend Überlegenes bot. Zwar wurde erst einmal alles zusammenerobert, aber Machtstreben ist eine weitere Konstante.

Das Ergebnis war „Multikulti“ unter dem Dach einer omnipräsenten und mit enormen Vorteilen verbundenen Leitkultur. Mit einem einheitlichen Wirtschaftsraum ohne Zölle, Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, einer edelmetallgedeckten Währung, Frei- und Fernhandel, überschaubaren Steuern, bester Infrastruktur, robuster Grenzsicherung und minimaler Intervention ins Privatleben. Klingt auch heute nicht schlecht, oder?

Das Übel der Sklaverei darf dabei nicht unerwähnt bleiben, welches freilich auch in der sich als christlich dünkenden Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert als legitim galt. Vielfalt.

Heute geben wir uns einmal ganz reaktionär und stellen der „bunten Vielfalt“ unserer Tage, die bemerkenswert autoritär propagiert wird, die vermeintlich schwarz-weiße Einfalt von einst gegenüber und schauen, was es damit wirklich auf sich hat.

Dabei geht es ziemlich hoch hinaus, wie wir in mehrfacher Hinsicht sehen werden:

Monte Subasio (Umbrien), Juni 2024; Bildrechte: Michael Schlenger

Das ist ja die Höhe – ein Foto ganz ohne Autos! Nicht ganz, meines stand unweit geduldig auf der weißen Schotterpiste, über die ich an diesen Ort gelangt war.

Zu sehen ist hier der Gipfel des Monte Subasio – mit knapp 1300 Metern Höhe und seiner markanten abgerundeten Form ein landschaftsbeherrschender Berg im italienischen Umbrien. Der Blick geht über die Valle Umbra – also die Ebene zwischen Perugia und Spoleto – in Richtung Süden.

Besagte Römer haben das Sumpfland im Tal in generationenlanger Arbeit trockengelegt und urbar gemacht. Sie waren auch die ersten, die im Tal verkehrsgünstig Städte anlegten, alle älteren Siedlungen befinden sich auf den umliegenden Hügeln.

Das römische Vermessungsnetz ist an vielen Stellen bis heute zu erkennen – Straßen, Felder- und Flurgrenzen folgen ihm. Selbst das Gewerbegebiet von Foligno ist in das antike Rechteckraster eingefügt. In Foligno verbrachte übrigens der spätere Stauferkaiser Friedrich II. seine ersten Lebensjahre – die Umbrer betrachten und verehren ihn als einen der ihren.

Dass im damals von Deutschland bis Sizilien reichenden Imperium Vielfalt pur herrschte, weiß jeder, der sich einmal mit dieser bedeutenden Epoche beschäftigt hat. Die in der Nähe meines Heimatorts stehende doppeltürmige Münzenburg (von der A5 aus südlicher Richtung aus zu sehen) und das völlig anders geartete Castel del Monte in Apulien stehen bis heute sinnbildlich für die Pole der Vielfalt in der mittelalterlichen Welt der Staufer.

Das ist ja die Höhe, was einem heute an geschichtlichen Exkursen zugemutet wird, mögen Sie jetzt denken. Mag sein, aber ich bin im kleinen Reich meines Blogs der Imperator und Sie sind alle freiwillig da. Also bitte, ich habe bisher noch immer die Kurve bekommen zum alten Blech (selbst hier, wenn auch erst ziemlich spät).

Bei mir bleiben Sie stets ganz auf der Höhe, was Vorkriegsautos auf alten Fotos angeht – so auch diesmal. Und das im besten Wortsinn:

Wiener Höhenstraße; originale Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Speziell meine Leser in Österreich werden sofort wissen, wo diese Aufnahme entstand.

Wir blicken hier von der Wiener Höhenstraße auf den Leopoldsberg mit seiner schönen Barockkirche, die trotz schwerer Bombenschäden (Februar 1945) heute wieder in alter Pracht erstrahlt.

Bei meinen Recherchen stellte ich fest, dass dieser Abschnitt der Wiener Höhenstraße erst 1935 freigegeben wurde. Gern hätte ich die Aufnahme nur anhand der darauf abgebildeten Autos datiert – das ist nämlich erstaunlich präzise möglich, auch wenn hier noch viel Material aus den 1920er Jahren vertreten ist.

Großartig finde ich die Vielfalt an Marken und Baujahren, die auf diesem Zeugnis versammelt sind. Dieses Nebeneinander – aber auch das Fehlen bestimmter Modelle – ist es, was das Foto trotz des Mangels an Farbe so faszinierend macht.

Keine Sorge, ich werde nicht jedem der abgebildeten Wagen ein ausführliches Porträt widmen. Etliche davon habe ich schon einmal im Blog präsentiert – sie sind über die Suchfunktion oder in meinen Markengalerien zu finden.

Wer zu dem einen oder anderen Auto Details oder auch andere Einschätzungen ergänzen möchte, ist wie immer willkommen, dies über die Kommentarfunktion zu tun.

Beginnen wir ganz rechts, dort finden sich die Vertreter der „Veteranen“-Fraktion:

Sind Ihnen die geisterhaften Schatten am oberen Bildrand aufgefallen? Sie stammen von wegretuschierten Personen, die sich während der Belichtung dieser Aufnahme bewegt haben.

Der Fotograf hatte am Objektiv eine kleine Blende gewählt, um möglichst viel Schärfentiefe (manche sagen: Tiefenschärfe) zu erhalten. Entsprechend musste er eine etwas längere Belichtungszeit wählen, zumal da das Bild am späten Nachmittag bei sinkender Sonne entstanden zu sein scheint.

Das ist ja die Höhe – Bildmanipulation gab es also auch früher schon! Ja natürlich, und zwar seitdem es die Fotografie gibt.

Ein Foto ist mitnichten ein präzises Abbild der Wirklichkeit, sondern immer Ausschnitt und Interpretation derselben. Es zeigt nur eine bestimmte Perspektive und einen konkreten Augenblick, das Objekt wird in ein möglichst günstiges oder ungünstiges Licht gerückt, Unerwünschtes wird ausgeblendet oder gar wegretuschiert, Proportionen betont oder verfälscht, Kontraste werden verstärkt oder weichgezeichnet usw.

Das mache ich mit fast jedem Foto in meinem Blog ebenfalls, und Sie bekommen das Meiste davon nicht mit, da Sie im Regelfall das Ausgangsmaterial nicht kennen.

Letztlich geht es mir um die Wirkung der Situation und die Aussagefähigkeit, was den Hersteller oder das Modell des abgebildeten Fahrzeugs angeht.

Jetzt stürzen wir uns aber wirklich in die automobile Vielfalt von damals:

Der Mercedes vorne in der Mitte ist wohl das älteste Fahrzeug, das hier zu sehen ist. Er trägt noch den dreigezackten Stern auf beiden Seiten des Spitzkühlers und ist sicher vor dem Zusammenschluss von Daimler und Benz entstanden.

Ich würde den Wagen als Mercedes des Typs 15/70/100 PS in der Ausführung von 1924-26 ansprechen – ein kolossales Fahrzeug, das noch lange nach dem Ende seiner Bauzeit den Besitzern äußerst komfortable und mühelose Fortbewegung ermöglichte.

Direkt neben ihm steht ein deutlich kleinerer Citroen des Typs C6 (vom C4 durch die Radkappen zu unterscheiden), wie er von 1928-32 gebaut wurde.

Mit etwas Abstand geparkt hat auf der anderen Seite ein US-Modell – entweder ein Studebaker von 1930 oder (wahrscheinlicher) ein Graham-Paige von 1929.

In der zweiten Reihe dahinter haben sich einträchtig zwei Austro-Daimler eingefunden. Den linken Wagen halte ich für einen Typ ADR (Bauzeit: 1927-31), während der rechte der ältere Typ ADM (Bauzeit: 1923-28) sein könnte und damit dem Mercedes Konkurrenz in punkto Alter machen würde.

Moderner geht es nun in der zweiten Bildhälfte zu, jedenfalls überwiegend. Beginnen wir mit dem rechten Teil derselben:

Bei dem Mercedes-Benz rechts oben würde ich auf den Typ 200 (Bauzeit: 1933-36) tippen. Der wesentliche größere Wagen daneben ist sehr wahrscheinlich ein US-Fabrikat aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre – auf einen Versuch der Identifikation verzichte ich hier.

Was aber könnte das für ein 4-Fenster-Cabriolet (oder Cabrio-Limousine) ganz vorne rechts sein? Ich denke hier an den Steyr Typ XX (1928/29), allerdings passen die seitlichen Parkleuchten aus meiner Sicht nicht dazu.

Schauen wir nun noch auf den zweiten Part der linken Bildhälfte:

Bei diesen Fahrzeugen befinden wir uns ganz nahe am Entstehungszeitpunkt der Aufnahme.

Links haben wir einen modernisierten Steyr des Typs 430, wie er von 1933-35 gebaut wurde. Hier die luxuriöse Ausführung als 4-Fenster-Cabriolet.

Deutlich darüber angesiedelt war indessen die weit voluminösere Limousine daneben. Er besaß mit seiner schon fast wie aus einem Stück bestehenden Frontpartie die wegweisendsten Formen aller hier zu sehenden Wagen.

Außerdem dürfte er von der effektiv nutzbaren Leistung das stärkste Auto im Feld gewesen sein. Wir haben es nämlich mit einem 1934er Hudson zu tun, der ausschließlich mit 8-Zylindermotoren (Reihe) verfügbar war, die zwischen 100 und 120 PS leisteten.

Dieses Gerät – nebenbei ein typischer 8-Zylinder-Amerikaner, der sich auch heute noch souverän im Verkehr bewegen lässt – ist das Fahrzeug, anhand dessen ich die Aufnahme auf Mitte der 1930er Jahre datiert hätte. Passt perfekt zum Baufortschritt der Höhenstraße.

Bemerkenswert diese Vielfalt an Herstellern, Modellen, Aufbauten und Baujahren auf diesem zufälligen Zeitdokument, nicht wahr? Was aber fehlt bei aller Vielfalt?

Was wir vermissen, sind die typischen Kleinwagen jener Zeit, die in Deutschland vor allem von DKW und Opel gefertigt wurden, aber auch in großer Zahl exportiert wurden.

Waren diese im damaligen Österreich eher selten oder hatten deren Besitzer schlicht Besseres zu tun, als sich abends am Blick auf den Leopoldsberg und (in der Ferne) Wien zu erbauen und dafür „sinnlos“ Benzin zu verbrauchen?

Wie so oft in der Kulturgeschichte sind auch hier die „kleinen Leute“ unterrepräsentiert, die vielleicht keine grandiosen Eingebungen haben und über besondere Talente verfügen, die aber den Laden unauffällig am Laufen hielten und halten.

Das waren in der Antike die, welche die Schiffe bauten, mit denen die Griechen den Mittelmeeraum besiedelten, die, welche in römischer Zeit die Infrastruktur zur Entwässerung sumpfiger Ebenen bauten, die, welche im Hochmittelalter Burgen und Kathedralen hochmauerten und die, welche einst am Hochofen standen, in denen der Stahl für die Automobile entstand, die wir heute so bewundern.

Diese echte Vielfalt an Können, Planen und Arbeiten auf allen Ebenen ist es, welche das Leben eines Kulturvolk ausmacht – keine bloßen Propagandaparolen – das gilt heute wie einst.

Das ist ja die Höhe, dass es am Ende wieder grundsätzlich wird. Ja, aber auch darum geht es (mir) bei der Beschäftigung von Vorkriegsautos auf alten Fotos…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Noch mit Kettenantrieb: Daimler „Mercedes“ von 1910

Die frühen Mercedes-Wagen aus der Zeit vor der Fusion von Daimler und Benz sind recht seltene Gäste in meinem Blog. Das liegt weder an einer Abneigung meinerseits, noch am Mangel an zeitgenössischen Fotos – ganz im Gegenteil.

Ich müsste schön ignorant sein, um Prachtexemplare wie diesen Wagen zu übergehen:

Daimler „Mercedes“ 28/95 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese über 100 Jahre alte Aufnahme von Juni 1922 zeigt einen Typ 28/95 PS, der mit seinem 7,3 Liter großen Sechszylindermotor (ohc mit Königswelle) von 1914 bis 1924 einen Spitzenplatz im Daimler-Programm innehatte.

Das hätte ich vielleicht auch selbst herausbekommen, im vorliegenden Fall machte es mir aber die entsprechende Beschriftung von alter Hand auf der Vorderseite leicht.

Bei anderen dieser frühen Mercedes-Typen komme ich aber kaum über Mutmaßungen hinaus. Gewiss, die zeitliche Einordnung anhand stilistischer Merkmale traue ich mir zu, doch bei der Identifikation des genauen Modells muss ich meist passen.

Das liegt zum einen daran, dass sehr viele Mercedes-Wagen der gehobene Klasse damals hochindividuelle Aufbauten erhielten. Zum anderen fehlt es mir an einschlägiger Literatur, in der die Merkmale der frühen Mercedes-Typen systematisch dokumentiert sind.

Gibt es so etwas überhaupt, möchte ich bei der Gelegenheit in die Runde fragen?

Mir scheint es zwar eine erschlagenden Fülle von zeitgenössischen Fotos zu geben, doch eine wirklich streng chronologische Dokumentation mit Hervorhebung der jeweils typischen Elemente ist mir noch nicht begegnet. Manches Foto scheint auch eher exemplarischer Natur zu sein und es sind Zweifel daran angebracht, ob die Typangabe wirklich sicher ist.

Mich fuchst so etwas, weil ich den Ehrgeiz habe, mich dem Baujahr und dem Modell so genau wie möglich zu nähern. So muss ich heute leider passen, was die Typansprache dieses eindrucksvollen Mercedes angeht:

Daimler „Mercedes“ von 1910; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Das Foto ist für die Zeit in ungewöhnlicher Manier aufgenommen – jedenfalls verglichen mit den meist statischen Werksaufnahmen von Daimler aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.

Diese Aufnahme aus der Sammlung von Leser Klaas Dierks wäre auch eine Zierde manches Mercedes-Standardwerks – mir ist bloß bislang keines begegnet, das die frühen Modelle wirklich umfassend, attraktiv bebildert und detailliert beschrieben abhandelt.

Wie gesagt: Buchhinweise werden dankend entgegengenommen – es muss doch etwas geben, was dem einzigartigen Rang dieser Marke gerecht wird.

Unterdessen will ich sehen, was sich dem heute vorgestellten Foto „mit Bordmitteln“ abgewinnen lässt. Klaas Dierks konnte mir schon einmal versichern, dass es sich ausweislich der Plaketten um einen Wagen des Kaiserlichen Automobilclubs handelte.

Mit dem Kennzeichen weiß ich allerdings gar nichts anzufangen, der deutschen Konvention entspricht es jedenfalls nicht. Es sieht eher wie eine fortlaufende Nummer aus, was auf eine Verwendung beim Militär hindeuten könnte:

Halten wir uns aber lieber an das, was gesichert ist: Der dreizackige Stern auf dem Kühler taucht erst ab 1909 bei den „Mercedes“-Wagen von Daimler auf. Der Flachkühler wurde ab 1912 durch einen spitzen abgelöst.

Das Entstehungsjahr lässt sich aber noch weiter einengen: Der „Windlauf“, also die nach oben gewölbte Blechpartie zwischen dem hinteren Ende der Motorhaube und der Frontscheibe taucht bei (nicht speziell für Sportzwecke hergerichteten) Mercedes-Wagen erstmals 1910 auf.

Der abrupte Übergang zwischen Motorhaube und Windlauf, der dessen eigentlichem Zweck einer strömungsgünstigen Gestaltung noch nicht ganz gerecht wurde, findet sich bei Automobilen aus dem deutschen Sprachraum in der Regel nur 1910.

Schon ab 1911 ist diese Partie geglättet, wenngleich Haube und Windlauf meist noch kein Ganzes ergeben wie auch an diesem Mercedes:

Daimler „Mercedes“ von 1911; aufgenommen im 1. Weltkrieg an der Morawa

Ab 1912 erhielten die Mercedes-Wagen dann – wie gesagt – einen Spitzkühler und zu diesem Zeitpunkt war bei deutschen Herstellern zudem eine harmonische Einheit aus ansteigender Motorhaube und Windlauf der Regelfall.

Diese Überlegungen lassen mich annehmen, dass der Mercedes auf dem von Klaas Dierks zur Verfügung gestellten Foto sehr wahrscheinlich aus dem Jahr 1910 stammt.

Dummerweise war dies auch ein Jahr des Umbruchs, was die Typen- und Motorenpalette von Daimler angeht. Einerseits lief die Produktion diverser 4- und 6-Zylinderwagen aus, die seit 1907 in Produktion waren, andererseits begann die Produktion ihrer Nachfolger, die durchweg eine größere Leistungsausbeute bei gegebenen Hubraum aufwiesen.

Die Dimensionen des Wagens, speziell die Länge der Motorhaube würden aus meiner Sicht zu Modellen mit 50 bis 75 PS passen. So oder so waren das damals enorme Leistungen, die bereits Geschwindigkeiten von 80-90 km/h ermöglichten, wenngleich die Übersetzungen vor allem auf starken Antritt bei niedrigen Drehzahlen ausgelegt waren.

Nur eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Dieser Mercedes verfügte noch über eine kettengetriebene Hinterachse, wie dieser Bildausschnitt erkennen lässt:

Daimler bot neben dem bereits etablierten Kardanantrieb nach wie vor auch Kettenantrieb an, was den Vorlieben einer konservativen Kundschaft entsprochen haben mag.

Man erkennt die Antriebskette vor dem Hinterrad oberalb des nach unten gebogenen Auspuffrohrs. Das Antriebsritzel befand sich in dem markant gestalteten Kasten vor dem Hinterkotflügel, welcher sich zur Wartung öffnen ließ. Er diente zugleich als Einstiegshilfe für die rückwärtigen Passagiere.

Ein letztes Detail auf diesem Ausschnitt sei noch erwähnt. Der Vorderkotflügel geht hier noch nicht in einem harmonischen Schwung in das Trittbrett über, sondern schneidet dieses rechtwinklig und reicht noch etwas weiter nach unten.

Auch das ist ein Indiz für eine eher frühe Entstehung dieses Daimler, denn solche Kotflügel waren ab etwa 1908 bereits die Ausnahme. Ich bin mir deshalb mit meiner Datierung dieses prachtvollen und gewiss sehr leistungsfähigen Wagens auf 1910 ziemlich sicher.

Jetzt sind aber die Mercedes-Experten an der Reihe, die mir vermutlich einige Fehlschlüsse und -urteile nachweisen und mir – hoffentlich -die ersehnten Literaturinweise geben können!

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Mit Progress-Kurvenlicht! Mercedes 24/100/140 PS

Die Freunde der Marke Mercedes werden in meinem Blog recht kurz gehalten, ich weiß. Das hat keineswegs mit einer Abneigung gegen die Marke zu tun.

Tatsächlich war ich als frischgebackener Führerscheinbesitzer anno 1989 kurze Zeit Eigner einer Mercedes-Benz 280 SE Limousine (W 108), die ich für 600 DM erstanden hatte.

Natürlich war das äußerlich großartige Gefährt in silbermetallic bei diesem Preis technisch eine Leiche (immerhin lief der Motor) und beim Öffnen des Kofferraums konnte man durch großformatige Rostlöcher das Reifenprofil begutachten (nie hätte ich gedacht, dass diese teuren Wagen dermaßen üble Roster sein konnten).

Fein säuberlich aufpoliert und nachdem ich eine fehlende Zierleiste ersetzt hatte (die gab’s für kleines Geld auf dem Schrottplatz) gelang es mir bald, den Wagen für einen Tausender weiterzuverkaufen.

Von dieser Episode abgesehen blieb ein Mercedes für mich stets unerreichbar. Speziell die eleganten Sechs- und Achtzylinder-Coupés der 1960er Jahre, für die ich schon als Schüler geschwärmt hatten, entschwanden rasch in jenseitige Preisregionen.

Was die Vorkriegsware aus dem Hause Daimler-Benz betrifft, musste es erst recht bei der Beschäftigung in Form historischer Fotos bleiben.

Umso mehr Vergnügen bereitet es mir, heute mit einem der legendären Kompressorwagen der 1920er Jahre aufwarten zu können, der meine Sammlung ziert – freilich nur in Form dieses Exemplars, das einst in einer Werbebroschüre abgedruckt war:

Mercedes 24/100/140 PS; Abbildung aus „Progress“-Prospekt um 1925; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Einige Details der Tourenwagenkarosserie dieses Prachtexemplars – speziell die optisch zweigeteilten Vorderkotflügel – machen es schwer, den genauen Typ zu bestimmen.

Man könnte an das schon ziemlich opulente Kompressormodell 15/70/100 PS denken, von dem ich hier ein Exemplar vorstellen konnte.

Doch zum Glück ist die genaue Motorisierung in der Broschüre überliefert, in welcher der Mercedes einst als Fotomodell herhalten musste. Darin ging es nämlich gar nicht speziell um diese Marke, sondern ein progressives Produkt, welches dafür gedacht war.

Dazu hatte man sich ausgerechnet den gigantischen Typ 24/100/140 PS mit 6-Liter-Sechszylindermotor ausgesucht – wohl ein Kundenfahrzeug, mit dem sich prächtig Reklame machen ließ – und anschaulich zugleich.

Achten Sie auf obiger Aufnahme zum einen auf die Stellung der Scheinwerfer und die der Vorderräder, zum anderen auf die unterschiedlichen „Blickwinkel“ der Scheinwerfer selbst.

Ermöglicht wurde dies durch eine Vorrichtung, welche bei der Fahrt durch eine Kurve frühzeitig für die Ausleuchtung derselben sorgte:

Abbildung aus „Progress“-Prospekt um 1925; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Informationsblatt fand sich zusammen mit etlichen anderen Preziosen im Nachlass einer alten Automobil-Werkstatt – der Firma Fr. Haug in Esslingen am Neckar.

Fein säuberlich abgeheftet hat dieses interessante Dokument die Zeitspanne von beinahe 100 Jahren überdauert, um erst jetzt wieder das Tageslicht zu erblicken.

Darin kann man eine einfache, aber wohl wirkungsvolle Patent-Konstruktion bestaunen, die je nach Lenkeinschlag eine Drehung der Original-Scheinwerfer und zugleich ein „Voreilen“ des kurveninneren Lichts bewirkte.

Sogar an einen speziellen Stoßdämpfer hatte man gedacht, welcher die Scheinwerfer von Stößen entkoppeln sollte, welcher das Lenkgestänge bei der Fahrt ausgesetzt war:

Abbildung aus „Progress“-Prospekt um 1925; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Diese ingeniöse Vorrichtug war für eine Vielzahl von Personen- und Lieferwagen erhältlich – wie erfolgreich sie war, vermag ich jedoch nicht zu beurteilen.

Zu berappen waren für den kompletten Montagesatz (inkl. Versand, aber ohne Anbringung) zwischen 115 und 140 Reichsmark, je nach dem, ob man eine lackierte, teilweise oder ganz verchromte Ausführung wünschte.

Für den Besitzer eines Mercedes 24/100/140 PS waren das bloß „Peanuts“, für einen angestellten Durchschnittsverdiener im Deutschland des Jahres 1925 wäre das rund ein Brutto-Monatsgehalt gewesen. Aber der konnte sich ohnehin kein Auto leisten.

Abschließend würde mich interessieren, ob noch an einem überlebenden deutschen Fahrzeug ein solche Kurvenlichtvorrichtung der Marke „Progress“ zu finden ist. Auch sonstige Anmerkungen dazu sind wie immer willkommen!

© Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ritter der Landstraße: Mercedes „Knight“ 16/45 PS

Heute kommen die Freunde der Mercedes-Wagen aus der Zeit vor dem Zusammenschluss mit Benz (1926) auf ihre Kosten – zwar mit keiner großen Rarität, doch immerhin mit einem Exemplar, das etwas rätselhaft erscheint.

Die Rede ist vom Typ 16/45 PS mit „Knight“-Hülsenschiebermotor, der von 1910 bis etwa 1924 in mehreren tausend Exemplaren entstand.

Vor den Lohn haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt. Dieser Weisheit des altgriechischen Schriftstellers Hesiod folgend sei dem Genuss des „Stars“ des heutigen Blog-Eintrags eine kurze Abhandlung über den „Knight“-Motor vorangestellt.

Im Jahr 1907 hatte der Amerikaner Charles Knight mit einem neuartigen Motorenkonzept Furore gemacht, das für den Gaswechsel statt eines mechanisch anfälligen und geräuschvollen Ventiltriebs fast lautlos arbeitende Hülsenschieber vorsah.

An sich war die Idee genial: Beim Motor nach Knight-Patent war der Kolben von zwei ebenfalls auf- und ablaufenden Hülsen umgeben, die Öffnungen für das Frischgas und das Abgas besaßen, welche genau im richtigen Moment freigegeben wurden.

Hier gab es keinerlei mechanische Geräusche wie das Ticken der Ventile mehr. Die in der Frühzeit des Automobils noch häufigen Ventilfederbrüche blieben ebenfalls aus. Der unheimlich ruhige Lauf der „Knight“-Motoren sorgte international für Begeisterung.

So erwirbt auch Daimler im Jahr 1910 eine Lizenz für den Bau von Motoren nach „Knight“-Patent und bringt im selben Jahr das Modell 16/40 PS auf den Markt. Ein Exemplar dieses Typs aus dem Jahr 1912 war 2019 bei den Classic Days auf Schloss Dyck zu bewundern:

Mercedes „Knight“ Typ 16/40 PS; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieses Fahrzeug wurde ursprünglich an den Besitzer einer Kaffeeplantage in Brasilien ausgeliefert und kehrte erst in den 1980er Jahren nach Europa zurück. Leider wurden sämtliche Messingteile später vergoldet, damit sie nicht mehr anlaufen.

Das vulgär wirkende Glitzerergebnis bleibt einem im Schwarz-Weiß-Modus erspart. Erkennbar bleiben indessen die vier im Vorderteil der Motorhaube angebrachten Luftschlitze, über die die Abwärme des Motors nach außen abgegeben wurde.

Dieses Detail findet sich bei nahezu allen Mercedes „Knight“ dieses Typs bis in die 1920er Jahre – mit Betonung auf „nahezu“, denn offenbar gab es Ausnahmen…

Bevor wir uns einer solchen zuwenden, möchte ich die Gelegenheit nutzen, das Foto eines weiteren Mercedes „Knight“ zu zeigen, auf dem paradoxerweise nichts zu sehen ist, was eine solche Identifikation erlaubt:

Fahrer eines Mercedes „Knight“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wo ist hier ein „Knight“ zu erkennen, mag man sich jetzt fragen. Nun, „Knight“ ist ein durchaus schillernder Begriff und tatsächlich haben wir es mit einem solchen zu tun.

Das englische Wort „Knight“ ist eng mit dem deutschen „Knecht“ verwandt, wenngleich es etwas scheinbar Gegensätzliches bezeichnet. Ein „Knight“ ist im Englischen doch ein „Ritter“, also denkbar weit entfernt vom „Knecht“, möchte man meinen.

Nicht ganz. Ein „Knight“ ist auf der Insel die niedrigste Adelsstufe, die historisch in einem ausgeprägten Dienstverhältnis gegenüber dem König stand.

Diese Unterordnung hat sich im Englischen erhalten, obwohl es sich von Aussprache und Bedeutung oft von den germanischen Wurzeln entfernt hat.

Dass man Ritter und Knecht zugleich sein kann – je nach Perspektive, das ist auch die Botschaft des obigen Fotos mit dem Chauffeur. Denn der war einerseits ausweislich seiner Fahrermütze der Untergebene des eigentlichen Autobesitzers, andererseits war er ein Ritter der Landstraße und souveräner Herrscher über das Automobil selbst.

Speziell einen Mercedes mit „Knight“-Motor vertraute man nur einem Meister seines Fachs an, da der Antrieb nach besonders sorgfältiger Wartung und sensibler Fahrweise verlangte.

Die Nachteile des auf dem Papier genialen Motorenkonzepts waren nämlich die Abhängigkeit von perfekter Schmierung zur Vermeidung klemmender Hülsenschieber und ein disziplinierter Gasfuß, weil Knight-Motoren keine hohen Drehzahlen vertragen.

Soweit so klar – bleibt die Frage, woran man erkennt, dass der so vorteilhaft getroffene Fahrer tatsächlich einen „Knight“-Mercedes fuhr. Die Antwort ist einfach: weil es vor langer Zeit jemand auf der Rückseite des Abzugs vermerkt hat…

Letztlich helfen uns beide bisher gezeigten Fotos – so reizvoll sie jeweils sein mögen – bei der Identifikation eines „Knight“-Mercedes nicht weiter. Oder würden Sie spontan dieses Auto als solchen identifizieren?

Mercedes „Knight“ Typ 16/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Für die eingefleischten Mercedes-Freunde ist der Fall natürlich klar – das muss ein Daimler der frühen 1920er Jahre sein – erkennt man doch am Spitzkühler!

Gemach. Ich habe in solchen Fällen noch einige andere deutsche Marken auf dem Radar, die damals mit ganz ähnlichen Kühlern ausgestattet waren – Adler, Brennabor, Dürkopp, Elite, Phänomen, Rex-Simplex und Simson sind einige Beispiele.

Dummerweise ist weder auf dem Kühler noch auf den Radnaben irgendetwas zu erkennen, was auf Hersteller oder Marke hinweisen würde. Auffallend ist bloß, dass das Kühlergitter vorn ein kleines Stück über den oberen Abschluss des Kühlergehäuses hinausragt:

Erst durch Zufall – nämlich beim x-ten Durchblättern der Literatur zu deutschen Vorkriegswagen in einem ganz anderen Fall blieb mein Auge an einem Mercedes „Knight“ der frühen 1920er Jahre hängen, der genau dieses Detail am Kühler aufwies.

Stutzig machte mich indessen, dass kein Mercedes jener Zeit über die durchlaufende Reihe ausgeprägter, relativ weit auseinanderliegender Luftschlitze besaß. Allerdings fanden sich auf sehr vielen Aufnahmen von Mercedes „Knight“-Wagen nach dem 1. Weltkrieg die drei sehr kleinen zusätzlichen Schlitze im Seitenteil hinter der Motorhaube.

Auch die übrige Karosserie unterstützte am Ende die Identifikation als Mercedes „Knight“ 16/45 PS, obwohl der Part hinter der Windschutzscheibe bis Mitte der 1920er Jahre meist marken- und typunabhängig gestaltet war.

Hier sehen wir aber genau eine solche Tourenwagenkarosserie, wie sie sich auf zahlreichen Fotos des Mercedes „Knight“ 16/45 PS bis ins kleinste Detail wiederfindet:

Zwar folgen die Linien des Aufbaus grundsätzlich den seinerzeit maßgeblichen Entwürfen von Ernst Neumann-Neander, doch sind sie hinreichend individuell, um als Mercedes-typisch angesprochen zu werden.

Das gilt speziell für die Proportionen der Türen, aber auch den vorn und oben abgerundeten Kasten vor dem hinteren Kotflügel, welcher die Blattfederaufnahme kaschierte und der über einen Deckel zwecks Schmierung derselben verfügte.

Man findet das genau so auf diversen Fotos des trotz kapriziöser Technik erstaunlich langlebigen Mercedes-Modells „Knight“ 16/45 PS (zuletzt 16/50 PS).

Auf obigem Ausschnitt sehen wir neben einigen „Rittern“ der Landstraße, die sich für die Beherrschung eines Automobils zu fein waren oder sich diese mangels Masse nicht leisten konnten, auch zwei „Dames“ – die englische Entsprechung eines Knights bzw. Sirs.

So haben wir am Ende wieder etwas für die Völkerverständigung getan, wir haben gelernt, was Ritter und Knecht verbindet und einmal mehr festgestellt: Die Literatur zu deutschen Vorkriegsautos bildet die einstige Realität nur sehr oberflächlich ab.

Bei meinen Recherchen habe ich neben Mercedes-Modellen des Typs „Knight“ 16/45 PS mit vier Luftschlitzen im Vorderteil der Motorhaube auch eines gefunden, das ganz ohne solche Entlüftungsschlitze auskommt (es steht im Technik-Museum Speyer).

Bloß ein Exemplar mit durchgehender Reihe an Luftschlitzen in genau der Ausführung wie auf dem heute präsentierten Foto – das scheint ein „Novum“ zu sein, wenn man das von solch einem alten Ritter der Landstraße überhaupt sagen kann…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vor 105 Jahren: Mit dem „Mercedes“ in Metz

Das Foto, das ich heute vorstelle, mag für die Freunde der frühen Automobile wenig Aufregendes bieten – für die Kenner der gut dokumentierten Marke Mercedes schon gar nicht.

Doch mag es für diejenigen interessant sein, für die über 100-jährige Veteranenwagen so fremdartig sind wie ein Raumschiff von einem anderen Stern. Dabei ist dieser – der Stern – ein hervorragender Einstieg in die automobile Welt vor dem 1. Weltkrieg.

Von dem vertrauten Symbol ausgehend wird man feststellen, das die Autos jener Zeit gar nicht mehr so fremdartig wirken, wenn man sich einmal auf sie einlässt. Tatsächlich sind sie „form follows function“ in Perfektion, nur kannte man den Slogan noch nicht.

Zunächst möchte ich an ein anderes Mercedes-Foto erinnern, das ich vor längerem hier besprochen habe – zufälligerweise ebenfalls eines aus dem Kriegsjahr 1915:

Daimler „Mercedes“ 28/60 PS, Juni 1915; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass das ein Mercedes sein muss, verrät einzig und allein der spitz zulaufende Kühler mit jeweils einem Stern pro Seite. Alle übrigen Details des Aufbaus könnten von einem beliebigen Oberklassewagen aus deutscher Produktion stammen – damals gab es ja noch eine ganze Reihe solcher Hersteller, die heute kaum noch einer kennt.

Während der Stern seit 1909 Erkennungszeichen von Mercedes-Wagen war, taucht der Spitzkühler erst 1912 bei einzelnen Modellen auf. Da das oben abgebildete Fahrzeug noch nicht über elektrische Positionslichter verfügt, dürfte es kaum später als 1913 entstanden sein – als Daimler optional bereits vollelektrische Beleuchtung anbot.

Die Größe des Wagens ist der einzige Indikator für die Motorisierung – es könnte sich um einen Typ 28/60 PS (oder darüber) gehandelt haben, genau lässt sich das nicht sagen. Nun aber zum „Star“ des heutigen Blog-Eintrags:

Mercedes ab 1912, Oktober 1915; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme verschickte einst ein in der Gegend von Metz (heute: Frankreich) stationierter deutscher Soldat an seine Frau oder Verlobte – leider ohne weitere Informationen außer dem umseitigen Feldpoststempel von Oktober 1915.

Metz gehörte seit 1871 (wieder) zum Deutschen Reich und war damals ein bedeutender Stützpunkt an der Westfront. Viele Militärangehörige waren in der mehrheitlich deutschsprachigen Stadt untergebracht, so auch der Fahrer „unseres“ Mercedes.

Gleich auf den ersten Blick fällt ins Auge, dass der Wagen zwar einen Stern auf dem Kühler trägt, dieser aber flach und nicht spitz ausgeführt ist.

Auch wenn Flach- und Spitzkühler vor dem 1. Weltkrieg eine Weile parallel verbaut wurden, haben wir hier ein Indiz für eine eher frühe Entstehung bzw. eine schwächere Motorisierung, bei der der als sportlich geltende Spitzkühler nicht so gefragt war.

Ein weiteres Element, das gegen eine Entstehung ab 1913/14 spricht, ist das völlige Fehlen elektrischer Lichter. Selbst die Positionsleuchten links und rechts der Frontscheibe – gewissermaßen das „Standlicht“ von einst, waren Petroleumlampen.

Was wie ein primitives Relikt aus dem Kutschzeitalter erscheint, bewährte sich beim frühen Automobil noch recht lange als einfach und effektiv, bis die Elektrifizierung der Beleuchtung die Oberhand gewann.

Die Form der mächtigen Scheinwerfer verrät, dass diese mit Karbidgas (Acetylen) betrieben wurden. Das Gas wurde nicht etwa in Druckbehältern mitgeführt, sondern bei Bedarf in Karbidgasentwicklern an Bord produziert.

Diese kleinen Chemiefabriken befanden sich fast immer auf einem der Trittbretter und versorgten über Leitungen alle angeschlossenen Lichter mit Gas.

Es sei daran erinnert, dass der Betrieb von Karbidgasanlagen zwar etwas Verstand und Umsicht erfordert, doch bei Fahrrädern noch bis in die 1930er Jahre üblich war. Wenn Uroma einst damit im Alltag zurechtkam, darf man sich heute auch daranwagen.

Allerdings finden sich – wie im Fall der noch komplexeren Holzvergaser-Anlagen – heute kaum mehr historische Automobile, die eine funktionsfähige Gasbeleuchtung besitzen. Vielleicht kennt ja jemand ein Beispiel – außer bei historischen Fahrädern ist mir das in natura noch nicht begegnet.

Besagter Karbidgasentwickler ist bei dem Mercedes aus Metz übrigens der Kasten vorn auf dem Trittbrett. Interessanter finde ich hier allerdings zwei weitere Elemente:

Ein schönes Detail ist zum einen der genau der Form der Felgen angepasste (wohl metallene) Werkzeugkasten, der in die beiden Ersatzräder eingesetzt ist.

Begegnet ist mir so etwas noch nie. Für eine Frontimprovisation erscheint mir das fast zu liebevoll angepasst, auf der anderen Seite war so etwas für damalige Handwerker allenfalls eine Art Gesellenstück. Oder doch ein Werkszubehör von Daimler?

Möglicherweise findet sich etwas Vergleichbares auf anderen Fotos. Daimler-Wagen gehören nicht zu den Schwerpunkten meiner Sammlung, sodass ich hier kein repräsentatives Bild davon habe, was einst üblich war und was nicht.

Zum anderen sehen wir auf obigem Ausschnitt eine ungewöhnlich ausgeführte Hupe. Der Hupenball zur Betätigung vom Lenkrad aus ist vollkommen konventionell, doch welchen Weg nimmt das Rohr eigentlich, nachdem es hinter den Ersatzrädern verschwunden ist?

Mir scheint es in einem Bogen zu der „Schnecke“ zurückzukehren, die sich oberhalb des Karbidgasentwicklers befindet. Bemerkenswert ist dort der Schallaustritt – nämlich nicht in Form eines Trichters sondern einer Kugel, die Löcher in mehrere Richtungen aufweist.

Auch das sehe ich hier zum ersten Mal. Bestimmt erfüllte diese Lösung ihren Zweck, sonst hätte man sie nicht gewählt, aber was spricht eigentlich für eine solche Ausführung?

Fragen über Fragen. Wer sich außerdem fragt, was all‘ die Hebel zu bedeuten haben, die hinter der Hupe an der Außenseite angebracht sind, dem kann indessen geholfen werden:

Dem Fahrer am nächsten ist der Schalthebel, davon befindet sich die Handbremse mit Arretiergriff. Der „Hebel“ weiter hinten war wohl der Holzgriff eines Spatens oder einer Schaufel, die für den Fall mitgeführt wurde, dass man sich festgefahren hatte.

Zuletzt sei auch der Soldat selbst gewürdigt, der dieses interessante Foto vor 105 Jahren auf die Reise in die Heimat schickte. Er trägt die für Kraftfahrer typische zweireihige Lederjacke sowie Schirmmütze mit Schutzbrille.

Im Moment der Aufnahme hielt er das mächtige Lenkrad fest in der Hand, wie das bei Fotos aus jener Zeit oft der Fall war. Man war zurecht stolz darauf, einen solchen Kraftwagen zu beherrschen und zu bändigen – damals ein Handwerk, das Gefühl und Entschlossenheit gleichermaßen verlangte.

Dass diese Aufnahme an die Frau oder Verlobte daheim ging, dafür spricht der Ring an der Hand, der uns hier im Herbstlicht entgegenleuchtet. Was mag der Fahrer dieses Mercedes in dem Moment gedacht haben, als der Fotograf den Auslöser betätigte?

Wir wissen es nicht, aber er wollte damit gewiss eine zuversichtliche Botschaft nach Hause senden, wo jemand man um ihn bangte. Doch kann dies auch das letzte Bild von ihm gewesen sein, das die Heimat erreichte.

Jemand muss dieses Foto sehr lange aufgehoben haben. Die letzten Besitzer der Aufnahme dürften der Generation danach angehört haben und nun scheint offenbar niemand mehr da zu sein, der noch etwas damit anfangen kann.

Doch halt: Dieses Bild, dieser Wagen und sein Fahrer vermögen uns auch nach 105 Jahren sehr viel zu sagen. Was genau es ist, das bleibt jedem selbst überlassen…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Tankwarts Liebling: Mercedes 15/70/100 PS

Eigentlich sollte mein heutiger Blog-Eintrags mit „Dick & durstig“ überschrieben sein.

Doch daran könnten ja mögliche Rechteinhaber wie ein Hersteller von Haushaltstüchern oder die „Musik“gruppe Böhse Onkelz Anstoß nehmen – die vermutlich beide keinen Spaß verstehen.

„Tankwarts Liebling“ trifft die Sache aber genauso gut – eigentlich noch viel besser, wie sich zeigen wird.

Die Freunde klassischer Mercedes-Wagen jedenfalls werden auf ihre Kosten kommen – vielleicht sogar der heutige Besitzer des Autos, um das es geht. Denn ich kann mir gut vorstellen, dass der „Star“ dieses Abends noch unter uns weilt.

Und wenn ich „Mercedes“ schreibe, meine ich auch einen echten Mercedes – mit Stern, aber noch ohne „Benz“-Anhängsel. Bis zur Fusion mit den Benz-Werken im Jahr 1926 war ein „Mercedes“ das Produkt der Daimler-Motoren-Gesellschaft, wie auf dieser hübschen zeitgenössischen Reklame zu sehen:

Reklame der Daimler-Motoren-Gesellschaft vor 1927; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Für Kenner sind solche Details zwar nichts Neues – meine Erfahrung zeigt aber, dass man dieses Wissen nicht mehr bei allen Freunden alter Automobile voraussetzen kann. Ich schreibe für ein breites Publikum, für das Vorkriegsfahrzeuge mitunter rätselhaft sind.

Gern ziehe ich auch bereits gezeigte Fahrzeuge desselben Typs heran, da im Vergleich Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zutagetreten und den Blick schärfen helfen.

Auch heute beginne ich mit einem Foto aus meiner Sammlung, das ich vor einigen Jahren präsentiert habe:

Mercedes 15/70/100 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Obige technisch hochwertige Aufnahme (hier in Ausschnittsvergrößerung) zeigt den von Ferdinand Porsche in der ersten Hälfte der 1920er Jahre für die Daimler-Motoren-Gesellschaft konstruierten Typ 15/70/100 PS.

Die technischen Details dieses mächtigen Automobils – offenbar im Dienst der Reichswehr – hatte ich im seinerzeitigen Blog-Eintrag aufgeführt, weshalb ich hier nur daran erinnern will, was die Typenbezeichnung besagt:

Aus den knapp vier Litern Hubraum des Sechyszylinders errechneten sich 15 Steuer-PS, die Höchstleistung betrug 70 PS und nur bei Aktivierung des Kompressors – also mit verdichteter Ansaugluft – fielen kurzzeitig 100 PS an.

Für dieses technische Kabinettstückchen war der Gegenwert eines Hauses zu entrichten. selbst wenn man sich nur für die preisgünstigste Tourenwagenausführung entschied. Deren Preis von 19.000 Reichsmark ließ sich um fast ein Viertel steigern, wenn man eine geschlossene Version oder eines der aufwendigen Werks-Cabriolets wünschte.

Bevor wir uns dem eigentlichen Gegenstand des heutigen Blog-Eintrags zuwenden, sei auf ein Detail verwiesen, das sich an allen mir bekannten historischen Fotos der Tourenwagenausführung des Mercedes 15/70/100 PS wiederfindet – die mittig unterteilte und horizontal neigbare Frontscheibe:

Außerdem sieht man neben dem Spitzenkühler mit Mercedes-Stern und (optionalem) Markenschriftzug auf beiden Seiten die für das Modell typischen großen Positionsleuchten auf den Vorderschutzblechen und die lange Reihe schmaler Luftschlitze in der Haube.

Die Drahtspeichenräder waren übrigens alternativ zu klassischen Holzspeichenrädern erhältlich und verleihen dem Wagen optisch eine sportliche Note.

Wieviel die Ausführung der Räder ausmacht, wird im direkten Vergleich mit dieser sonst weitgehend identischen Tourenwagenausführung des Mercedes 15/70/100 PS deutlich:

Mercedes 15/70/100 PS Tourenwagen; Originalfoto vermittelt via Wolf-Dieter Ternedde (Seesen)

Dieses aus ähnlicher Perspektive aufgenommene Foto zeigt zweifellos den gleichen Mercedes Typ 15/70/100 PS wiederum als Tourenwagen – lediglich mit den für diesen Aufbau üblichen aufgesteckten Seitenfenstern aus Kunstleder und Zelluloid.

Die massiven Speichenräder (Holz oder Stahl) lassen den Wagen weit schwerer wirken als das von der Reichswehr verwendete Exemplar.

Zudem fällt die einteilige Frontscheibe auf, die ebenfalls zum etwas behäbigeren Eindruck des Wagen beiträgt. Sehr stimmig kommt mir dieses Detail nicht vor. Was könnte der Grund für diese in der mir zugänglichen Literatur nicht vorkommenden Lösung sein?

Nun, ein Blick auf das Kennzeichen – das in der Bundesrepublik Deutschland ausgestellt wurde – könnte ein Schlüssel zur Aufklärung sein. Denn es ist nicht gesagt, dass dieser Kompressor-Mercedes unbeschadet in die Nachkriegszeit gelangt ist.

Einen Kriegseinsatz können wir ausschließen – dafür war der Wagen 1939 schlicht zu alt. Doch könnte er bei Bombardierungen oder durch Vandalismus von Besatzungssoldaten Schaden genommen haben.

Vielleicht ist die einteilige Frontscheibe aber auch ein Hinweis auf das Baujahr – immerhin blieb das Modell 15/70/100 PS über die Fusion von Daimer und Benz hinaus bis Ende der 1920er Jahre im Programm (nunmehr als Typ 400).

Vielleicht kann ein Mercedes-Kenner etwas dazu sagen. Bei der Gelegenheit stellt sich mir auch die Frage, ob man aus dieser Perspektive Unterschiede zum noch stärkeren Schwestermodell 24/100/140 PS erkennen kann.

Mir scheint das nicht der Fall zu sein – ich lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Für die Ansprache der beiden oben gezeigten Wagen als Typ 15/70/100 PS habe ich mich übrigens aufgrund der Tourenwagenkarosserie entschieden. Mein Eindruck ist, dass sich die Spitzenmotorisierung häufiger in Verbindung mit aufwendigeren Aufbauten findet.

Sicher sagen lässt sich jedenfalls, wo letztere Aufnahme entstanden ist, die ich hier in ganzer Pracht zeige:

Das Originalfoto – offensichtlich aus den 1960er Jahren – wurde mir über Wolf-Dieter Ternedde aus Seesen im Harz zur Verfügung gestellt.

Nachdem ich für ihn einige Vorkriegsfotos von Fahrzeugen identifiziert habe, die in seiner Heimatstadt abgelichtet wurden und Eingang in ein Buch über das alte Seesen erhalten sollen, ließ er mir jüngst diese Aufnahme mit Angabe des Aufnahmeorts zukommen.

Demnach wurde der Mercedes an der Esso-Tankstelle in Seesen aufgenommen, die bis in die 1990er Jahre existierte. Der Fotograf war der damalige Tankstellenpächter und seiner Witwe ist es zu verdanken, dass wir es heute bewundern dürfen.

Somit war der Mercedes 10/70/100 PS damals nicht nur aufgrund seines großen Durstes bei engagierter Fahrweise „Tankwarts Liebling“, sondern in diesem Fall auch wegen seines Seltenheitswerts.

Offenbar lag die Kamera griffbereit mit Schwarzweißfilm geladen, sodass wir heute noch am seltenen Ereignis eines solchen Vorkriegs-Mercedes mit Hamburger Zulassung teilhaben können.

Bleibt der Aufruf an die Mercedes-Veteranen-Fraktion, ob jemand weiß, was aus diesem Wagen geworden ist und wer ihn heute besitzt. Es würde mich sehr wundern, wenn jemand nicht angetan wäre von diesem schönen Dokument eines Tankstopps „seines Mercedes“ im Harz-Städtchen Seesen vor über einem halben Jahrhundert

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Erbstück von Porsche: Mercedes-Benz 12/55 PS

Es ist schon eine Weile her, dass sich Porsche-Fahrer mit bloßen 55 PS in Wallung versetzen ließen: Mit dieser überschaubaren Leistung lief der 356 der frühen 1950er Jahre über 150 km/h und ließ damit alles in seiner Hubraumklasse hinter sich.

Geht man zurück in die 1920er Jahre, gab es schon einmal einen „Porsche“ mit 55 PS. Die wurden zwar aus dem doppelten Hubraum gewonnen – 3 Liter – hatten aber auch mit weit mehr als dem doppelten Gewicht zu kämpfen.

Die Rede ist vom Mercedes-Benz 12/55 PS, der im Wesentlichen eine Konstruktion von Ferdinand Porsche war, der in den 1920er Jahren zeitweilig in Stuttgart wirkte.

Eher untypisch für Porsches Schaffen war die konventionelle Konstruktion des Sechszylinders, dem mit seitlich stehenden Ventilen jede Agilität abging. Das Aggregat erwies sich vor allem bei den fast zwei Tonnen schweren Limousinen als heillos überfordert – beim Tourer mit seinen 1800 kg sah es kaum besser aus.

Nun rechne man noch das Gewicht einer siebenköpfigen Besatzung wie hier dazu :

Mercedes Tourenwagen der 1920er Jahre; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das Foto ist nicht das allerbeste, doch zeigt es eindeutig einen Mercedes-Tourenwagen ähnlich dem, den ich heute anhand drei sehr schöner Aufnahmen vorstellen darf.

Ich habe die Aufnahme bewusst gewählt, da sie genügend zeigt, um eine grobe Einordnung des Wagens zu erlauben, gleichzeitig aber alles verbirgt, was eine genaue Identifikation erlaubt:

  • Besitzt der Wagen noch einen Spitzkühler wie praktisch alle Mercedes-Wagen vor dem Zusammenschluss mit Benz 1926? Oder trägt er schon einen Flachkühler?
  • Sind die Luftschlitz in der Motorhaube in diese eingeprägt oder Teil eines separaten Blechs, das in die Haube eingesetzt wurde?
  • Befindet sich das Lenkrad noch auf der rechten oder schon auf der linken Seite?

Ohne eindeutige Antwort auf diese Fragen muss die genaue Typbezeichnung dieses Wagens aus meiner Sicht offen bleiben.

Das wenige, das man sieht, findet sich an so unterschiedlichen Typen wie dem Kompressormodell 15/70/100 PS, dem 50-PS-Typ „Stuttgart“ 260 und dem eingangs erwähnten Mercedes 12/55 PS.

Dank Leser Klaas Dierks habe ich das Vergnügen, heute gleich drei Aufnahmen der letztgenannten Porsche-Entwicklung 12/55 PS zeigen zu können – hier Nr. 1:

Mercedes-Benz 12/55 PS Tourer; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Dieser Wagen kommt auf dieser Aufnahme schon ziemlich eindrucksvoll und zugleich sieht man hier alles, was die Identifikation erlaubt. Typisch für das ab 1926 gebaute Sechszylindermodell 12/55 PS sind zusammengenommen folgende Details:

  • in die Motorhaube eingeprägte, recht breite Luftschlitze, die deutlich unterhalb des oberen Endes des Seitenteils enden
  • vom Aufbau optisch separierte Schwellerpartie mit oben abgerundeten Trittschutzblechen unterhalb der Türen
  • deutlich hinter dem Ende der hinteren Tür ansetzendes Verdeckgestänge
  • Stahlspeichenräder mit vernickelter Nabenkappe (noch keine Radkappe)
  • Flachkühler mit Mercedes-Benz Emblem statt nur Mercedes-Dreizack
  • Lenkrad in Fahrtrichtung links

Kombiniert miteinander finden sich diese Elemente nur beim Mercedes-Benz 12/55 PS.

Übrigens war auch dieser mächtig eindrucksvolle Tourenwagen einst mit mindesten sieben Insassen unterwegs. Eine zweite Aufnahme des Mercedes bei derselben Gelegenheit zeigt nämlich zwei zuvor unsichtbar Herren:

Mercedes-Benz 12/55 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Ob die beiden dienstbaren Geister am Heck – einer davon eventuell ein Polizist  – darauf anspielen wollten, dass der prächtige Mercedes ein wenig untermotorisiert war?

Wie dem auch sei: zumindest beim Hersteller war man sich bewusst, dass es der Porsche-Konstruktion, wenn schon nicht an Spitzenleistung, so doch an Elastizität mangelte.

Daher verbaute man ab 1927 – also ein Jahr nach Produktionsbeginn – ein überarbeitetes Aggregat, dass dieselbe Leistung aus 3.030 statt zuvor 2.968 cccm Hubraum schöpfte und zudem schon bei 3.200 statt 3.500 Umdrehungen pro Minute erreichte.

Wiederum ein Jahr später – 1928 – vergrößerte man den Hubraum nochmals etwas auf nunmehr 3.131 ccm. Kurioserweise wurde dabei meist von einem 3,2 Liter Modell gesprochen, die Spitzenleistung aber weiterhin mit nur 55 PS angegeben.

Etwas merkwürdig muten diese Angaben schon an.

Entweder leistete der Mercedes 12/55 PS anfänglich weniger als behauptet oder man hielt trotz Hubraumvergrößerung um insgesamt mehr als 150 ccm wider besseres Wissen an der gewohnten PS-Angabe fest, weil man den Kunden nicht mit so kurzfristigen Änderungen der Modellbezeichnung behelligen wollte.

Da alle Varianten so oder so gut für Tempo 100 km/h gut waren – auf den damaligen Landstraßen mehr als ausreichend – mögen sich viele Kunden auch wenig um solche Details geschert haben.

Einen Mercedes dieses Kalibers  – bei dem bereits das motorisierte Chassis ohne Karosserie fast 10.000 Reichsmark kostete – kaufte man, weil man es sich leisten konnte, nicht wegen der Leistung.

Tatsächlich gewinnt man auch auf der dritten Aufnahme dieses Mercedes-Tourenwagens des Typs 12/55 PS den Eindruck, dass die Damen und Herren es nicht sonderlich eilig hatten und den exklusiven Wagen auch so genossen:

Mercedes-Benz 12/55 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Unter normalen Umständen wäre es praktisch unmöglich, diese Heckansicht auch nur einer bestimmten Marke zuzordnen.

Doch da hier drei zusammengehörige Aufnahmen vorliegen, kann ich zum einen die selten abgebildete Heckpartie eines Mercedes-Benz 12/55 PS zeigen.

Zum anderen lässt sich anhand des Nummernschilds sagen, dass dieser Wagen wohl im Regierungsbezirk Düsseldorf zugelassen war (vgl. A. Herzfeld, Handbuch Deutsche Kfz-Kennzeichen, Band 1, S. 59).

Was mag nun aus diesem großen und einst enorm teuren Wagen geworden sein?

Im 2. Weltkrieg wurden solche Fahrzeuge ja kaum eingezogen. Zwar war dieser Mercedes 12/55 PS bei Kriegsausbruch 1939 je nach Baujahr nur gut zehn Jahre alt, aber er war wohl schlicht zu schwer und zu leistungsschwach.

Man darf nicht vergessen, dass zehn Jahre damals einer ganzen Fahrzeuggeneration entsprachen, also einen Entwicklungssprung repräsentierten wie heute etwa 25 Jahre.

Da zumindest bei Kriegsbeginn massenweise PKW mit besserem Leistungsgewicht in dieser Klasse verfügbar waren, wird dieser Mercedes wohl den Krieg über in irgendeiner Garage vor sich hingeschlummert haben.

Dann mag er entweder einem der über 240 Bombenangriffe auf Düsseldorf zum Opfer gefallen sein, die über 90 % der historischen Kernstadt vernichteten. Oder er mag in der frühen Nachkriegszeit zum Schrott gewandert sein, weil sich ein dermaßen schweres und durstiges Gefährt wohl nicht einmal als Behelfsfahrzeug eignete.

Wir können nach Lage der Dinge davon ausgehen, dass diese drei Fotos, die Leser Klaas Dierks aus dem Netz gefischt hat, alles sind, was von dem schönen Mercedes-Tourenwagen und einem vergnüglichen Ausflug damit vor 90 Jahren geblieben ist…

Nachtrag: Je nach Baujahr könnte der Mercedes-Benz 12/55 auf den hier gezeigten Fotos auch im Bereich des Polizeipräsidiums Köln zugelassen gewesen sein (den Hinweis verdanke ich Helmut Kasimoriwicz). Ab 1928 scheint der zuvor Düsseldorf zugeschlagene Nummernkreis an Köln übertragen worden zu sein. Das Schicksal des Mercedes dürfte dort aber kaum ein anderes gewesen sein.

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Sommer adé: Nochmal auf’s Land mit dem Mercedes…

Anfang September 2019 – kalendarisch ist noch Spätsommer, doch wie fast immer um diese Zeit kündigt sich mit deutlich kühleren Nächten der bevorstehende Herbst an.

Höchste Zeit für die Großstädter, einen letzten Sommerausflug mit dem Wagen auf’s Land zu unternehmen – hier im Mercedes-Benz, zugelassen in Berlin:

Mercedes-Benz 170 oder 200; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir vier unternehmungslustige Automobilisten aus der Zeit, als Berlin in wirtschaftlicher Hinsicht das Kraftzentrum Deutschlands war und kein Kostgänger, der von der übrigen Republik mit x-Milliarden jährlich am Leben erhalten wird.

Diese Leute aus der Reichshauptstadt hatten einst vielleicht ebenfalls den ersten kühlen Hauch des Herbstes verspürt und sich am Wochenende zu einem Ausflug ins Umland zusammengetan, um noch einmal etwas Sonne zu tanken.

Erkennt jemand, wo dieses schöne Foto eines kleinen, aber feinen Mercedes der 1930er Jahre entstand? Es muss jedenfalls eine Gegend gewesen sein, in der Salzgewinnung und Solebäder von einiger Bedeutung waren.

Meine Heimatregion – die Wetterau zwischen Taunus und Vogelsberg – kann es jedenfalls nicht gewesen sein, auch wenn hier Bad Nauheim und Bad Salzhausen prinzipiell ins Schema passen würden. Jedenfalls kann ich die markante Architektur im Hintergrund nicht in einen mir bekannten lokalen Kontext einordnen.

Übrigens diente auch folgende Cabrio-Limousine desselben Typs einst Berliner Besitzern für einen Ausflug auf’s Land:

Mercedes-Benz 170 oder 200; Originalfoto aus  Sammlung Marcus Bengsch

Neben der kompakten Form ist die geschwungene Stange zwischen den Scheinwerfern typisch für den ab 1931 gebauten Mercedes 170 mit Sechszylinder – nicht zu verwechseln mit dem vierzylindrigen Mercedes 170 V, der ab 1936 angeboten wurde.

So bieder der Wagen auch daherkam, so zeitgemäß war seine Konstruktion mit unabhängiger Radaufhängung – also achslosem Fahrwerk – sowie erstmals bei Mercedes-Benz hydraulischen Vierradbremsen.

Mit diesem Einstiegsmodell erschloss sich die Stuttgarter Oberklassemarke neue Käuferkreise, wie dies Jahrzehnte später mit dem anfänglich belächelten 190er Mercedes erneut gelingen sollte.

Da der über 1 Tonne schwere Wagen mit gerade einmal 32 PS etwas zu behäbig wirkte, wurde 1933 – also schon zwei Jahre nach dem Debüt – der äußerlich fast identische 200er Mercedes angeboten, für den mit nunmehr 40 PS die 100km-Marke in greifbare Nähe rückte.

Ob wir hier nun einen 170er oder einen 200er vor uns haben, die parallel bis 1936 mit nur geringen Modifikationen gebaut wurden, lässt sich kaum sagen.

Auch die einstigen Insassen dürfte dies im Moment der Aufnahme kaum gekümmert zu haben. Sie waren nämlich mit dem Kopf erkennbar ganz woanders:

Mercedes-Benz 170 oder 200;  Originalfoto  aus Sammlung Marcus Bengsch

Das Paar, das im Vordergrund selig im Gras schlummert, dürfte sich kaum haben träumen lassen, dass es nach über 80 Jahren den modernen Betrachter mit Neid erfüllt.

Denn so neben einem Vorkriegs-Mercedes nach einem Picknick die letzten Tage des Sommers genießen, wer würde es ihnen nicht gleichtun wollen?

Doch heute wie damals gibt nicht jeder dem Verlangen nach wohlverdientem Schlummer und süßem Nichtstun nach. Auch auf diesem Foto von Leser Marcus Bengsch ist noch jemand aktiv und scheint  – mit der Schreibmaschine vor sich – an etwas zu arbeiten.

Was die junge Dame wohl beschäftigt gehalten haben mag? Musste sie noch für ein Modejournal eine Reportage fertigschreiben? Oder ist sie gar eine ernsthafte Literatin und hält prüfend die Druckfahnen eines Buches in Händen?

So oder so ist sie aus Sicht des zeitgenössischen Schreibtischarbeiters zu später Stunde wohlwollend zu beneiden. Denn statt bei Lampenlicht um Mitternacht mit dem Laptop im Freien bei vollem Sonnenschein an einem Blog über Vorkriegsautos arbeiten zu können, das wäre es!

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Großes Kino: Mercedes 320 Cabrio F in Berchtesgaden

Die Vorkriegsmodelle von Mercedes-Benz gehören zu den eher seltenen Gästen in meinem Blog. Das hat nichts mit einer spezifischen Abneigung zu tun.

Tatsächlich meine ich, dass es keine andere deutsche Marke vermocht hat, in jeder Modellgeneration bis heute mindestens einen Typ mit klassischer Eleganz auszustatten.  Den Tiefpunkt markierten zwar die Wagen der 1970er und frühen 1980er Jahre, doch selbst damals rettete wenigstens ein Coupé für mich das Markenimage.

Was jedoch auch bei Mercedes-Benz längst passé ist, das ist die Epoche der großen Cabriolets. Dabei waren sie es, die in den 1930er Jahren der mitunter behäbig daherkommenden schwäbischen Marke einen mondänen Anstrich verliehen.

Natürlich sind die Vertreter dieser Blütezeit bestens dokumentiert. Das ist der eigentliche Grund, weshalb sich mein Ehrgeiz auf diesem Sektor in Grenzen hält.

Den Freunden von Vorkriegs-Mercedes kann man kaum etwas bieten, was nicht längst x-fach als historische Aufnahme veröffentlicht wäre oder sogar als überlebendes Fahrzeug zu bewundern ist.

Ein schönes Beispiel dafür ist dieses herrliche Cabriolet A auf Basis des feinen Sechszylindermodells 320, das in dieser Form nur 1937/38 gebaut wurde:

Mercedes 320 Cabriolet A; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieses Prachtexemplar war live und in Farbe im Jahr 2016 auf dem Besucherparkplatz der Classic Days auf Schloss Dyck zu bewundern.

Der 320er Mercedes mit seinem 78 PS starken Sechszylinder und dem auch bei hohen Geschwindigkeiten ausgezeichnet reagierenden Fahrwerk verwies in dieser Ausführung in einigen Details auf die Spitzenmodelle der Firma, namentlich den legendären 540 K Roadster.

Die nach hinten abfallende Seitenlinie ist das genaue Gegenteil der Formensprache heutiger Cabriolets – das gibt es einfach nicht mehr, auch wenn die Formel „lange Haube, kurzes Heck“ immer noch zu ansprechenden Ergebnissen führen kann.

Wo es ein Cabriolet A gab, musste es in der Mercedes-Palette auch ein Cabriolet B geben. Das war aber keineswegs zweite Wahl, sondern bot ebenfalls ein attraktives Äußeres in Kombination mit einem größeren Platzangebot.

Die folgende Aufnahme aus meiner Sammlung dürfte ein solches Exemplar zeigen (ausführliches Porträt hier):

Mercedes-Benz 320 Cabriolet B; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Neben diesen hinreißend gestalteten „kleinen“ Cabriolets bot Mercedes einer konservativen Klientel auch weiterhin größere offene Wagen, die an die Tradition der sechs- bis siebensitzigen Tourenwagen anknüpften.

Im Unterschied zu diesen traditionellen Modellen mit ihrem dünnen Verdeck und seitlichen Steckscheiben bot Mercedes beim 320er eine ähnlich großzügige Ausführung in Kombination mit Kurbelfenstern und einem gefütterten Verdeck.

In der Mercedes-Nomenklatur wurde ein solcher Aufbau als „Cabriolet F“ bezeichnet, wenn ich das richtig sehe. Während klassische Tourenwagen in den 1930er Jahren nur noch ein Nischendasein bei Polizei und Militär führten, scheint auch das große Cabriolet „F“ nur selten gewählt worden zu sein.

So kommt es, dass das folgende Foto eines solchen Exemplars beinahe eine kleine Rarität darstellt:

Mercedes-Benz 320 Cabriolet F; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Während der Vorderwagen identisch mit dem der raffinierten „kleinen“ Cabriolets auf Basis des Mercedes 320 ist, ist es ab der schrägstehenden Frontscheibe mit der Eleganz weitgehend vorbei.

Vier Türen und – vermutlich – drei Sitzreihen fordern erkennbar ihren Tribut. Zum einen ist hier der Radstand deutlich länger (3,30 m statt 2,88 m). Zum anderen verläuft die Seitenlinie bis über die Hinterachse hinaus annähernd waagerecht.

Langeweile kommt dennoch nicht auf, denn auch hier ist in der Horizontalen kaum eine Linie ganz gerade. Wie in der klassischen Baukunst beherrschten die Gestalter und Handwerker damals die Kunst der kalkulierten Abweichung von der öden Geraden.

Das erklärt, weshalb selbst dieser kolossale Wagen mit einer Gesamtlänge von über fünf Metern immer noch Spannung im Karosseriekörper aufweist.

Gern wüsste man, wer die Insassen dieses eindrucksvollen Mercedes-Benz 320 Cabriolet F waren:

Sie verkörpern für mich allesamt prächtige Individuen – leider wissen wir nicht mehr über sie, als dass sie mit dem Mercedes einst in Berchtesgaden unterwegs waren. Der Abzug stammt vom Fotohaus Rudert in Solingen.

Im übrigen sprechen solche Bilder für sich, wenn man die Gesichter und den Habitus der Menschen studiert, die darauf in einem Moment ihres Daseins festgehalten sind.

Von dem, was wir auf dem Foto sehen, ist jedoch außer den uralten Felsen im Hintergrund bestenfalls noch der Mercedes existent – oder es schmücken zumindest der Kühlergrill oder eine Radkappe die Sammlung eines Enthusiasten, ohne dass er weiß, woher die Teile stammen.

Dank des Internet gibt es einen Weg, zumindest teilweise die Welt von damals wieder auferstehen zu lassen, in der der Mercedes-Benz 320 einst Furore machte.

Treue Leser meines Blogs wissen vermutlich, was nun kommt und werden es wie ich auch beim x-ten Mal genießen – gleich zwei Mercedes 320 Cabrios (und der eine oder andere Wagen) beschwingt unterwegs auf Deutschlandreise:

© Videoquelle YouTube; Urheberrecht des Zusammenschnitts: Deutschlandsender

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Klassische Werte: Ein Mercedes-Benz „Nürburg“

Ein Klassiker im wahrsten Sinne des Wortes – das ist der Wagen, den ich in meinem Blog für Vorkriegsautos anhand eines neu aufgetauchten Fotos vorstellen will.

Das Auto, um das es geht, war in keiner Weise innovativ, in mancherlei Hinsicht sogar schon veraltet – dennoch verkörperte es klassische automobile Tugenden, zumindest wenn man die Standards der späten 1920er Jahre zugrundelegt.

Denn genau so muss doch eine Limousine jener Zeit aussehen:

Mercedes-Benz 460 oder 500 „Nürburg“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wären da nicht der Schriftzug „Nürburg“ auf dem Kühlergrill und die schemenhaft erkennbare Mercedes-Plakette, könnte das genausogut ein amerikanischer Großserienwagen sein – ebenso ein Achtzylinder von Adler oder Horch.

Bis Anfang der 1930er Jahre waren am deutschen Markt die Linien der US-Automobile die Messlatte für ein gelungenes Oberklassefahrzeug. Wer der Konkurrenz aus Übersee wenigstens ein klein wenig beikommen wollte, kam nicht umhin, den hierzulande hochgeschätzten Stil der „Amerikanerwagen“ zu kopieren.

Wie wenig eigenständig die Standardaufbauten deutscher Oberklassemodelle seinerzeit waren, zeigt der Vergleich mit diesem Cadillac von 1930, der einst in Ostdeutschland verkauft worden war und dessen Erscheinungsbild später einen glanzvollen Kontrapunkt zur Alltagsmisere des Sozialismus darstellte:

Cadillac von 1930; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn der Vergleich etwas zeigt, dann dies: Abgesehen von den optionalen Scheibenrädern und dem etwas anders gestalteten Kühler bot der ab 1928 gebaute Mercedes-Benz „Nürburg“ praktisch keine eigenständigen Linien.

Mercedes-Freunde werden es nicht gerne hören, doch fehlte damals in Stuttgart der Mut, von den US-Karosserievorbildern abzuweichen. Ähnliches gilt auch für den Horch 8. In England und Frankreich war man in dieser Klasse weit mutiger.

So war ein Mercedes-Benz „Nürburg“ optisch auf den ersten Blick selbst von einem „ordinären“ US-Wagen wie diesem Nash „Advanced Six“ kaum zu unterscheiden:

Nash „Advanced Six“ von 1929; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch technisch bot Mercedes-Benz nur klassische Werte, um es freundlich auszudrücken:

  • Der in Reaktion auf die Horch-Konkurrenz konstruierte Reihenachtzylinder besaß noch seitlich stehende Ventile – eigentlich seit Mitte der 1920er Jahre überholt.
  • An den Starrachsen vorne und hinten wurde bis Produktionsende 1935 festgehalten.
  • Die Vierradbremsen waren noch mechanisch betätigt, wenn auch saugluftunterstützt.

Mit diesem Befund will ich den Mercedes-Benz „Nürburg“ keineswegs schlechtreden – es war zweifellos ein perfekt verarbeiteter klassischer Wagen seiner Zeit.

Nur bot er abgesehen vom Markenprestige und sehr hohen Preis so gut wie nichts, was ihn positiv von den damaligen amerikanischen Großserienwagen abhob, die auch heute noch von manchem zu Unrecht als minderwertig angesehen werden.

Von der konstruktiven Raffinesse eines Horch-Achtzylinder waren die Stuttgarter mit ihrem „Nürburg“ wie auch die meisten US-Serienhersteller weit entfernt.

Zumindest optisch bot der Mercedes-Benz „Nürburg“ dann etwas Abwechslung, wenn er mit einer Sonderkarossserie daherkam wie dieses Exemplar:

Mercedes-Benz 460 oder 500 „Nürburg“ ab 1933; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diesen anhand der seitlichen Kotflügelschürzen auf frühestens 1933 datierbaren „Nürburg“ habe ich hier ausführlich vorgestellt und bin dabei auch auf den Entstehungsort und die damit verbundenen politischen Verhältnisse eingegangen.

Übrigens konnte ich bis heute nicht ermitteln, wer der Lieferant dieses gigantischen Cabriolets war – auch wenn es einen ähnlichen Aufbau von Baur aus Stuttgart gab.

Vielleicht findet sich ja irgendwann noch die Antwort auf dieses Rätsel. Echte Klassiker sind zeitlos und so ist es auch mit diesem Mercedes „Nürburg“ nicht eilig…

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Herzenssache: Ein Mercedes „Stuttgart“ in Bad Nauheim

Mein heutiger Blog-Eintrag fällt subjektiver aus sonst. Das liegt aber keineswegs an dem Vorkriegsauto, das diesmal im Mittelpunkt steht, sondern an dem Ort, an dem es einst als (vermutlich) willkommene Nebensache abgelichtet wurde:

Mercedes-Benz „Stuttgart“; Bildrechte: Kerckhoff-Stiftung

Die Rede ist von meinem Heimatort Bad Nauheim im Herzen der hessischen Wetterau, auf halbem Weg zwischen Frankfurt und Gießen an der A5 gelegen und malerisch an einen der letzten Taunusausläufer geschmiegt.

Wer mit der Wetterau nur eine Ansammlung eher unansehnlicher Dörfer verbindet, in denen die einst schönsten Fachwerkhäuser meist ohne Sinn für Qualität verunstaltet wurden, der sollte Bad Nauheim besuchen!

Inmitten einer ländlichen Gegend, die seit Jahrtausenden zu den fruchtbarsten Europas gehört (und glücklicherweise von den Verheerungen der Windkraftindustrie weitgehend verschont blieb) ist Bad Nauheim ein beinahe unwirklicher Ort.

In der Niederung unterhalb des Bauerndorfes Nauheim entstand nach Erschließung salzhaltiger Quellen ab Mitte des 19. Jahrhunderts binnen kürzester Zeit ein mondäner Kur- und Badeort von internationalem Ruf.

Angelockt vom Ruf des Heilwassers, führenden Medizinern und einer meisterhaften Stadtanlage von großer Geschlossenheit und baulicher Qualität stieg hier bis zum 2. Weltkrieg alles ab, was in Europa Rang und Namen – oder zumindest Geld – hatte.

Die Kurgäste auf folgendem Foto aus meiner Sammlung besaßen alles gleichzeitig:

Opel Tourenwagen um 1908; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf der Rückbank des Opel-Tourenwagens sehen wir in Fahrtrichtung rechts halb verdeckt Zar Nikolaus von Russland, neben ihm seinen Schwager Großherzog Ernst-Ludwig von Hessen und vor den beiden eine der Töchter des Zarenpaars.

Aufgenommen wurde diese Szene vor der Burg im Bad Nauheimer Nachbarort Friedberg, wo die Zarenfamilie bei ihren Besuchen im Schloss residierte. Der Opel steht hier abfahrbereit auf der Straße, die noch heute ins nahe Bad Nauheim führt (ausführlicher Bericht).

Doch verdankt Bad Nauheim seinen Ruhm nicht nur den Kuraufenthalten gekrönter Häupter. Es war der erwähnte Ernst-Ludwig von Hessen, der von seiner Residenz in Darmstadt aus die Entwicklung Bad Nauheims zu einer bewunderten Metropole des Jugendstils vorantrieb.

Die meisten Bad Nauheimer wissen zum Glück, was sie dem gebildeten, hochbegabten und der Technik gegenüber aufgeschlossenen Ernst-Ludwig zu verdanken haben. Entsprechend wird sein architektonisches Erbe gepflegt und auch gegen Versuche verteidigt, es mittels banaler und brutaler Neubauten zu entwerten und zu entweihen.

Doch halt – ist dies ein Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos oder ein Architektur- und Reiseführer?

Gewiss, doch laden einen solche historischen Automobilaufnahmen oft auf eine Reise in vergangene Zeiten voller reizvoller Umwege ein. So geht es mir hier nicht nur um die Besonderheiten von Autokarosserien und Technik, sondern auch um sonstige Facetten der Welt von gestern.

Nehmen wir uns also die Zeit und kehren nochmals in den erwähnten Nachbarort Bad Nauheims zurück – in die einstige Römersiedlung und Freie Reichsstadt Friedberg.

In Sichtweite der Friedberger Burg, von der aus vor dem 1. Weltkrieg die Zarenfamilie zum Kuren nach Bad Nauheim fuhr, entstand etliche Jahre später folgende Aufnahme:

Mercedes-Benz „Stuttgart“; Originalfoto aus Sammlung Holger Ahlefelder

Mit diesem feinen Mercedes-Cabriolet, das an einer heute nicht mehr existierenden Tankstelle auf der Friedberger Kaiserstraße abgelichtet wurde, ist nicht nur eine sehr schöne Geschichte verbunden, die ich einem Leser verdanke.

Das Auto passt auch ganz ausgezeichnet zu dem eingangs gezeigten Foto.

Zwar besitzt der in Friedberg abgelichtete Mercedes einen offenen Aufbau der renommierten Manufaktur Reutter, doch entsprach er technisch der Limousine, die einst vor dem Kerckhoff-Institut im benachbarten Bad Nauheim aufgenommen wurde:

Wir haben es hier mit einem Sechszylinder-Modell zu tun, das auf eine Entwicklung von Ferdinand Porsche aus der Mitte der 1920er Jahre zurückging (Typ 8/38 PS).

Mit einigen Verfeinerungen wurde dieses Modell von 1929 bis 1934 als Mercedes-Benz „Stuttgart“ vermarktet. Der technisch unprätentiöse, aber markentypisch solide Wagen war mit zwei Motorisierungen erhältlich.

Die Variante „200“ beschränkte sich auf 38 PS aus 2 Litern Hubraum, während das Modell „260“ mit 50 PS aus 2,6 Litern kräftiger daherkam. Gemeinsam war beiden die seidige Charakteristik des 6-Zylinders, die heutige Autofahrer kaum noch kennen.

Aus heutiger Sicht beträchtlich war der Benzinverbrauch: 14 bzw. 17 Liter wurden für die beiden Versionen des Mercedes-Stuttgart angegeben – bei Spitze 80 bzw. 90 km/h. Man mag daran die enormen Effizienzgewinne ablesen, die seitdem erzielt wurden.

Der Komfort dieser damals sehr teuren Wagen mutet aus moderner Sicht äußerst bescheiden an: Der Belüftung diente eine nach vorn ausstellbare Frontscheibe, eine Heizung gab es nicht (konnte aber nachgerüstet werden).

Auch die blattgefederten Starrachsen und die mechanisch betätigten Bremsen würden dem heutigen Autofahrer einige Umgewöhnung abverlangen, ebenso das unsynchronisierte Getriebe.

Die verchromte Doppelstoßstange, die der Mercedes „Stuttgart“ auf dem Foto trägt, war übrigens ein aufpreispflichtiges Extra. Außerhalb von Großstädten war der Autoverkehr ja so dünn, dass man nicht unbedingt mit Rempeleien rechnen musste.

Aus moderner Sicht mutet die geringe Autodichte der Vorkriegszeit natürlich idyllisch an. Doch die Schattenseite waren eine geringe Mobilität der meisten Menschen und heute unvorstellbare Härten, um bei Wind und Wetter zur Arbeit zu gelangen.

In der einst bitterarmen Wetterau war schon der Besitz eines Fahrrads etwas Besonderes und ein Automobil war bis in die 1930er Jahre purer Luxus.

Selbst im mondänen Bad Nauheim stellte noch in den 1920er Jahren ein Auto eine seltene Erscheinung dar, wie folgende Ansichtskarte illustriert:

Bad Nauheim, Ludwigstraße; Ansichtskarte aus  Sammlung Michael Schlenger

Hier zieht ein typischer deutscher Tourenwagen aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre – zu erkennen an der geteilten Frontscheibe – einsam seine Bahn. Heutzutage rollt hier fast pausenlos der motorisierte Verkehr in beide Richtungen.

Nebenbei wurde diese schöne Szene unweit des Aufnahmeorts des ersten Fotos festgehalten, zu dem ich abschließend zurückkehren möchte. Allerdings existierte der dort abgebildete Bau im neoklassizistischen Stil noch nicht, als das Motiv der obigen Postkarte fotografisch festgehalten wurde.

Hier haben wir einen Ausschnitt des eingangs gezeigten Fotos, der erkennen lässt, dass das Gebäude und das Umfeld gerade erst fertiggestellt worden sein können:

Deutlich zu lesen ist hier der Verweis auf den Stifter des strengen Baus: William G. Kerckhoff. Sein Name steht noch heute für die verdienstvollen Aktivitäten der Bad Nauheimer Kerckhoff-Klinik auf dem Feld der Kardiologie (Herzheilkunde).

Kerckhoff (1856-1929) war ein erfolgreicher amerikanischer Geschäftsmann und suchte wiederholt den Bad Nauheimer Herzspezialisten Dr. Franz Groedel zur Behandlung auf.

Zur Förderung der Bemühungen von Dr. Groedel um Einrichtung eines Herzforschungszentrums in Bad Nauheim stiftete Kerckhoffs Frau Louise nach seinem Tod über 1 Million Goldmark zur Errichtung eines solchen Instituts.

Genau dieses Gebäude, das zwischen der eleganten Parkstraße und dem einzigartigen Jugendstil-Sprudelhof entstand, sehen wir auf dem Foto mit dem Mercedes. Wahrscheinlich entstand die Aufnahme kurz nach der Fertigstellung des Baus im Jahr 1931.

Man darf annehmen, dass der Fotograf damals den Mercedes absichtlich vor dem Gebäude leicht außerhalb der Mittelachse platzierte, um die strenge Symmetrie des Gebäudes aufzulockern.

Sein eigener Wagen wird es eher nicht gewesen sein, aber auf jeden Fall war es das Fahrzeug eines Ortsansässigen. Das Nummernschild mit der Kennung „VO 10965“ verrät nämlich, dass das Auto im Kreis Friedberg zugelassen war.

Wem mag der Mercedes wohl gehört haben? Könnte es jemand aus dem Umfeld des Kerchoff-Instituts gewesen sein – vielleicht dessen erster Leiter Dr. Franz Groedel? Möglicherweise lässt sich das noch herausfinden.

Festzuhalten bleibt, dass das Foto des Mercedes Stuttgart vor dem erst kürzlich sanierten Kerckhoff-Institut stellvertretend für die eindrucksvolle Tradition der Herzforschung in Bad Nauheim steht, die bis heute Früchte trägt.

Der von Louise Kerckhoff im Sinne ihres Mannes gestiftete Bau und das zugehörige Institut sind mittlerweile Teil der Max-Planck-Gesellschaft.

Dass ich das schöne Foto hier vorstellen darf, verdanke ich zwei Personen: Das ist zum einen Dr. Matthias Heil, seines Zeichens Pressesprecher des Max-Planck-Instituts für Herz- und Lungenforschung W.G. Kerckhoff-Institut.

Zum anderen ist Beatrix van Ooyen zu nennen, die am 13. und 14. April 2019 in dem historischen Institutsgebäude die dritte Ernst-Ludwig Buchmesse veranstaltet.

Sie weiß, dass für mich nicht nur Vorkriegsautomobile, sondern auch die Geschichte und Gebäude unseres schönen Bad Nauheims Herzenssache sind, und hat durch ihre Vermittlung letztlich diesen Blog-Eintrag ermöglicht.

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Als noch jede Pferdestärke zählte: Mercedes 200

Regelmäßige Leser dieses Blogs für Vorkriegsautos auf alten Fotos wissen: Nicht alle Wagen, die nach dem Zusammenschluss der Traditionsmarken Mercedes und Benz im Jahr 1926 entstanden, lösen beim Verfasser Begeisterung aus.

Sicher, einem Mercedes, der einem auf so anmutige Weise untergejubelt wird wie auf folgender Aufnahme, kann man kaum sinnlichen Reiz absprechen:

Reklame von Mercedes-Benz um 1935 aus Sammlung Michael Schlenger

Hier hatten die Werbeleute aus Stuttgart bereits in den 1930er Jahren perfekt umgesetzt, was auch in unseren Tagen gängige Praxis ist – das Produkt wird scheinbar zur Nebensache, während das dadurch ermöglichte Erlebnis im Mittelpunkt steht.

Heute wird diese Erkenntnis unserer Vorväter als „customer experience“ neu verkauft – klar: auf Englisch klingt auch Banales und Altbekanntes aufregend anders.

Tatsächlich sind viele Dinge bereits vor langer Zeit derartig perfektioniert worden, dass man kaum weiß, was man daran besser machen soll.

Kaum zufällig sind es die großzügigen Gründerzeitviertel unserer Städte, sofern sie noch existieren, die die zahlungskräftigste Klientel anziehen und nicht die einst als modern angepriesenen Hochhaus-Ghettos der 1960/70er Jahre.

Zurück zu den Autos der Vorkriegszeit: Während Mercedes in den 1930er Jahren in formaler Hinsicht fast alles richtig machte (was man im 21. Jh. nicht gerade behaupten kann…), blieb man in einer Hinsicht hinter den Möglichkeiten zurück.

Gemeint sind die Pferdestärken, die im heutigen Blog-Eintrag im Mittelpunkt stehen – im technischen Sinne, aber auch in ganz konkreter Hinsicht:

Mercedes-Benz 200; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme der 1930er Jahre ist nebenbei ein Zeugnis einer Epoche, in der sich aus handwerklichem Können, lokalen Materialien und gewachsenem Formempfinden Gebäude ergaben, die funktionell, schön und dauerhaft sind.

Die beiden mächtigen Fachwerkbauten stehen nach schätzungsweise 150 Jahren wahrscheinlich heute noch und haben das Zeug, weiteren Generationen zu dienen und zugleich den Betrachter zu erfreuen.

Der Verfasser ist geneigt, diese ohne Architekten und Statiker entstandenen Bauten irgendwo in Norddeutschland zu verorten. Vielleicht kann ein Kenner lokaler Bautradition Genaueres dazu sagen.

Leider ist das Kennzeichen der Limousine verdeckt, die auf dem Abzug abgebildet ist:

Mercedes-Benz 200; Ausschnitt eines Originalfotos aus Sammlung Michael Schlenger

Anfänglich dachte der Verfasser, hier einen der Mercedes-Wagen des Vierzylindertyps 170V vor sich zu haben, der von 1936 bis in die Nachkriegszeit sehr häufig gebaut wurde.

Doch die fast senkrecht stehende Frontscheibe und das Fehlen seitlicher Schürzen an den Vorderschutzblechen sprachen letztlich für einen Mercedes 200 mit 6-Zylindern, der von 1933-36 in eher überschaubaren Stückzahlen entstand.

Leistungsmäßig waren beide Typen ausgesprochen sparsam: Mit 38 bzw. 40 PS musste sich der Käufer begnügen. Dass auch in der Großserie damals deutlich mehr an standfester Leistung drin war, zeigte damals der auch hierzulande gebaute Fiat 1500.

Der nur 1,5 Liter messende Sechszylinder aus Turin warf solide 45 PS ab. Damit und der windschnittig gezeichneten Front erreichte der Italiener eine weit überlegene Geschwindigkeit von über 110 km/h.

Fernab der Autobahn, irgendwo auf dem flachen Land müssen die einstigen Besitzer des braven Mercedes-Benz 200 dennoch einst sehr stolz darauf gewesen sein:

So präsentierte man sich eigens mit der viertürigen Limousine – zu erkennen an dem auffallend verspielten Abschluss der hinteren Tür oberhalb des hinteren Kotflügels.

Bemerkenswert ist die Mischung der hier abgebildeten Personen. Während der junge Bursche ganz links in einen großstädtischen Anzug mit Krawatte gekleidet ist, trägt der barfüßige Nebenmann ein weit aufgeknöpftes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln am Oberkörper. Neben ihm ruht sein treuer Schäferhund, wenn nicht alles täuscht.

Der ältere Herr neben dem Mercedes versucht, seinen Hund dazu zu bewegen, ebenfalls in die Kamera zu schauen – doch der hat gerade anderes im Sinn. Auffallend ist die Ähnlichkeit der Gesichtszüge des zweiten stehenden Mannes:

In Arbeitskluft gekleidet posiert er zwar bloß mit zwei Pferdestärken, aber diese scheinen von besonders edlem Geblüt zu sein.

Das sind keine Ackergäule, sondern wahrscheinlich edle Rennpferde und deshalb machen sie neben dem Mercedes so gute Figur. Die Leute auf dieser ungewöhnlichen Aufnahme waren sich ganz offenbar noch jeder Pferdestärke bewusst, die ausgiebig gepflegt sein wollte und bei der unnötige Kilos vermieden wurden.

Heute dagegen fahren geschmacklos gestaltete, überdimensionierte Gefährte umher, mit deren PS-Zahlen man einst Rennen gewinnen konnte. Dennoch reicht es bei vielen überforderten Zeitgenossen oft nur für Tempo 70 auf der Landstraße…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

Classic Days 2018: Ein Mercedes 39/75 PS von 1907

So reizvoll die Beschäftigung mit Automobilen der Frühzeit auf alten Fotos auch ist – einem Wagen der Pionierzeit im Maßstab 1:1 zu begegnen, ist ein außerordentliches Erlebnis.

Bereits 2015 hatte der Verfasser anlässlich der Kronprinz Wilhelm Rasanz am Niederrhein das Vergnügen, sich in einem Cadillac 30 von 1912 in die Situation von Automobilisten vor über 100 Jahren zu versetzen.

Unter den Teilnehmern an der Ausfahrt waren auch frühe Exemplare aus dem Hause Daimler vom Typ „Mercedes Simplex“. Hier haben wir einen davon aus dem Jahr 1905 mit Karosserie von Rothschild, Paris:

Daimler „Mercedes Simplex“; Bildrechte: Michael Schlenger

In Zeiten, in denen Kleinkinder bereits auf dem Dreirad zum Tragen von Helmen gezwungen werden, erscheint diese Situation gewagt. Mit der Sicherheitsobsession mancher Zeitgenossen würden wir allerdings heute noch zu Fuß gehen…

Diese Aufnahme zeigt nicht nur ein Beispiel entspannten Umgangs mit historischer Technik, sondern zugleich einen Mercedes-Wagen, der für die Markengeschichte von großer Bedeutung war.

Der im Herbst 1901 vorgestellte Mercedes Simplex verfügte über einen Vierzylindermotor, der 40 PS aus 6,6 Litern Hubraum schöpfte, was dem Auto auch bei Steigungen eine souveräne Kraftentfaltung ermöglichte.

In den Folgejahren bis 1907 tat sich stilistisch nur wenig an den Mercedes-Wagen, doch unter der Haube vollzogen sich große Fortschritte. Bereits 1905/06 hatten Paul Daimler und Wilhelm Maybach für Sportzwecke Sechszylindermotoren entwickelt.

Ab 1907 waren erstmals auch Serienwagen von Mercedes mit Sechszylinder verfügbar. Ein außergewöhnlich schönes Exemplar davon wurde 2018 bei den Classic Days auf Schloss Dyck gezeigt:

Daimler „Mercedes“ 39/75 PS Spyder; Bildrechte: Michael Schlenger

Wie man sieht, steht dieser 1907 gebaute Wagen stilistisch noch in der Tradition des eingangs gezeigten Daimler „Mercedes Simplex“ von 1905.

Nach wie vor stößt die Motorhaube rechtwinklig auf die Schottwand, hinter der sich das Fahrer- bzw. Passagierabteil befindet. Allerdings folgt der obere Abschluss der Schotttwand hier bereits der Kontur der Motorhaube.

Die Schutzbleche verdienen mit ihrer expressiven Schrägstellung noch mehr die Bezeichnung „Kotflügel“ als beim konventioneller gestalteten Mercedes Simplex. Auffallend auch die harmonischere Gestaltung des unteren Kühlerabschlusses.

Ansonsten unterscheiden sich die beiden Wagen im vorderen Bereich kaum – wenn man von der Haubenlänge absieht. Beide tragen mächtige Messingscheinwerfer, die im Unterschied zu den an der Schottwand angebrachten, mit Petroleum betriebenen Positionsleuchten gasbetrieben waren (Danke für den Leserhinweis).

Diese Laternen besaßen nicht umsonst Griffbügel – bei längeren unbefestigten Strecken wurden die empfindlichen Leuchten entfernt. Überliefert ist, dass sie anlässlich von Fernreisen mitunter in Holzwolle verpackt mit der Bahn ans Ziel geschickt wurden.

Dann konnte man zwar nur tagsüber fahren, aber das war angesichts der damaligen Straßenverhältnisse ohnehin ratsam. Noch in den 1920er Jahren sahen sich Automobilisten auf dem Lande nämlich mit solchen „Straßen“ konfrontiert:

Fahrweg in Bulgarien (zwischen Varna und Burgas); Orignalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei derartigen Verhältnissen half die überragende Motorisierung des Mercedes mit 75 PS aus 10,2 Litern Hubraum zwar wenig. Dafür war man aber für alle Eventualitäten gewappnet – Steigungen ließen sich so mühelos überwinden.

Für die vermögende Kundschaft von Daimler war die Möglichkeit, bei Bedarf auch Fernreisen mit herausfordernden Partien absolvieren zu können, Teil des Leistungsversprechens eines Mercedes.

Der auf Schloss Dyck gezeigt zweisitzige „Spyder“ war freilich eher ein Modell, das den sportlichen Ehrgeiz betuchter Amateure ansprach. So wurde hier weder ein Verdeck noch viel Platz für Gepäck geboten:

Daimler „Mercedes“ 37/75 PS; Bildrechte: Michael Schlenger

Die Heckpartie des Mercedes 37/75 PS Spyder wird vom Benzintank dominiert – ein schönes Beispiel für die Ästhetik ganz früher Automobile, die vom transparenten Nebeneinander funktioneller Bauelemente geprägt war.

Dabei mutet das Ergebnis keineswegs „kalt und technisch“ an, sondern erscheint durchaus reizvoll, was wohl den organisch wirkenden, geschwungenen Formen geschuldet ist, die der Mensch als besonders harmonisch empfindet.

Apropos geschwungen: Wer sich über den Verlauf des hinteren Schutzblechs wundert, dem sei gesagt: Auch er entspricht dem gestalterischen Grundsatz von „form follows function“, als dieser noch kein Dogma von auf den rechten Winkel, Stahl und Beton fixierten Bauhaus-Anhängern war:

Daimer „Mercedes“ 39/75 PS; Bildrechte Michael Schlenger

Vor dem Hinterrad befindet sich nämlich das Antriebsritzel für den damals noch verbreiteten Kettenantrieb – seinen Konturen folgt das Schutzblech.

Neben solcher gestalterischen Raffinesse – Automobildesigner gab es damals übrigens nicht – beeindruckt auch der Umgang mit kontrastierenden Farbtönen, die wirkungsvoll Akzente setzen.

Weiter oben war bereits zu sehen, dass die Ledermanschetten um die vorderen Blattfedern in einem aufmerksamkeitsstarken Rot gehalten sind – wie auch die Sitze:

Daimler „Mercedes“ 39/75 PS Spyder; Bildrechte: Michael Schlenger

Wer meint, die roten Bremssättel zeitgenössischer Sportwagen wären eine neuartige Idee, wird hier feststellen: alles dem Grundsatz nach schon mal dagewesen.

Was im übrigen von den Reifen zu halten ist, deren Profil den Schriftzug „NON  SKID“ – also rutschfest – wiedergibt, das kann sicher ein sachkundiger Leser sagen…

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Eine nicht ganz einfache Geschichte: Mercedes 8/38 PS

Heute nähern wir uns dem ersten Mittelklassemodell von Mercedes nach dem Zusammenschluss von Daimler und Benz im Jahr 1926. 

Der Weg bis zum Erfolg dieses Modells – von dem bis 1929 über 10.000 Stück entstehen sollten – war nicht ganz einfach. Dasselbe gilt für die Identifikation des Wagens, den wir heute anhand von gleich drei historischen Originalaufnahmen zeigen werden.

Der eine oder andere Leser erinnert sich vielleicht an folgendes Foto, das in diesem Blog einst den Auftakt zu einer besonderen Zeitreise darstellte, die den optimierten Nachfolger Mercedes „Stuttgart“ zum Gegenstand hatte:

Dieses Fahrzeug, dessen hauptsächliche Zier die uns freundlich anlächelnde Dame war, die auf dem Scheinwerfer (!) Platz genommen hat, vereint Elemente des 1926 vorgestellten Mercedes 8/38 PS und des ab 1929 gebauten Nachfolgers „Stuttgart“.

An den Typ 8/38 PS mit 2-Liter-Sechszylinder, der eher widerwillig vom damaligen Konstruktionsleiter bei Daimler-Benz – Ferdinand Porsche – entwickelt worden war, erinnert die Frontpartie, die noch ohne Stoßstangen auskommen musste.

Auch die archaische Form der Vorderschutzbleche ist eher typisch für das 8/38 PS-Modell, wenngleich es sie bei der Basisauführung des „Stuttgart“ ebenfalls noch gab – charakteristisch für den Konservatismus der Marke.

Immerhin besaß schon der Mercedes 8/38 PS wie der Wagen auf dem Foto von Anfang auch Vorderradbremsen, deren Wirkung in der zeitgenössischen Presse gelobt wurde. Nur ein Detail spricht dafür, dass wir es schon mit einem „Stuttgart“ zu tun haben:

Die Frontscheibe besteht aus einem Stück und ist nicht mehr im oberen Teil ausstellbar. Dieses Detail behalten wir im Hinterkopf.

Wenden wir uns nun dem ersten der drei Fotos zu, um die es sich heute dreht:

Mercedes-Benz 8/38 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dies ist bereits eine Ausschnittsvergrößerung des Originalabzugs, auf dem noch mehr Landschaft und weniger Auto zu sehen ist. Entstanden ist die Aufnahme laut umseitigem Vermerk in der Lüneburger Heide.

Ob wir hier einen Mercedes des Typs 8/38 PS oder die Basisversion seines Nachfolgers „Stuttgart“ vor uns haben, ist nicht eindeutig zu sagen. Die Frontscheibe liegt im Schatten und die für die Identifikation ebenfalls wichtige A-Säule ist nicht sichtbar.

Dafür lässt sich immerhin das Nummernschild entziffern:

Hinter der Kennung „IS“, die für die preußische Provinz Hannover stand, ist die Ziffernfolge „98084“ zu erkennen. Sie lässt sich dem Nummernkreis des Landkreises Zellerfeld am Harz zuordnen.

Nachschlagen lässt sich dies übrigens im höchst verdienstvollen Standardwerk „Handbuch Deutsche Kfz-Kennzeichen, Band I“, von Andreas Herzfeld auf S. 84.

Das Auto wurde außer bei besagtem Ausflug in die Lüneburger Heide noch an einem anderen Ort aufgenommen – leider ist dieser Abzug von sehr schlechter Qualität und musste umfangreich retuschiert werden, um einigermaßen vorzeigbar zu sein:

Hier verfügt der Mercedes über eine nicht erkennbare Plakette auf der Stange, die die Frontscheinwerfer trägt. Doch besitzt er weiterhin in Fahrtrichtung links einen Wimpel und einen Suchscheinwerfer wie das Auto auf dem vorherigen Bild.

Ob die Frontscheibe unterteilt ist oder nicht, lässt sich nicht eindeutig sagen. Doch erkennt man nun den im unteren Teil nach vorn schwingenden Teil der A-Säule.

Dies ist neben der Ausführung der Schutzbleche ein weiteres archaisches Element, das gegen Ende der 1920er Jahre „von gestern“ war. Wir sind dennoch dankbar dafür, denn das gab es nur beim Mercedes 8/38 PS, nicht aber seinem Nachfolger „Stuttgart“.

Hier haben wir eine zeitgenössische Reklame, die den Mercedes-Benz 8/38 PS in wünschenswerter Klarheit zeigt:

Mercedes-Benz-Reklame aus dem Reichsverkehrsführer des ADAC von 1927 (Original aus Sammlung Michael Schlenger)

Das ist ja eine schwere Geburt, mag man nun denken – und genauso verhielt es sich vor über 90 Jahren mit dem Mercedes 8/38 PS.

Denn der dank siebenfach gelagerter Kurbelwelle sehr kultivierte Motor sorgte anfänglich für Ungemach bei den Käufern, ebenso wie das Getriebe und die Qualität des Aufbaus – nicht gerade das, was die Werbung suggerierte…

Daimler-Benz bemühte sich mit Blick auf den Ruf der Marke um größtmögliche Kulanz, was freilich Millionen kostete. Erst beim Nachfolgetyp „Stuttgart“, entwickelt vom Porsche-Nachfolger Hans Nibel, hatte man alle Kinderkrankheiten ausgemerzt.

Doch wer sich seinen Mercedes 8/38 PS vom Werk hatte nachbessern lassen, konnte ebenfalls höchst zufrieden sein und sich ohne Weiteres auf Fernreise begeben.

Das dachten sich vermutlich auch die einstigen Besitzer des Mercedes, von dem wir ein drittes Dokument besitzen, das den Liebhaber von Vorkriegswagen auf alten Fotos nun wirklich rundum glücklich macht:

Mercedes 8/38 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese schöne Urlaubsaufnahme entstand einst bei Überlingen am Ufer des Bodensees. Hier können wir nun endlich die Ausführung der Frontscheibe erkennen – sie ist im oberen Teil nach vorne ausstellbar, typisch für den Mercedes 8/38 PS!

Auch die Plakette an der Scheinwerferstrebe vor dem Kühler offenbart nun ihre Identität – es ist ein emailliertes ADAC-Emblem.

Eine weitere Kleinigkeit ist hier aber zu sehen, die uns bislang verborgen blieb:

Die vergnügte Dame im ziemlich „schräg“ gestalteten Badeanzug hält nämlich ein Kätzchen auf dem Arm.

Hat das Paar etwa sein Haustier im Mercedes mit in den Urlaub genommen? Das ist doch recht unwahrscheinlich, obwohl es Hauskatzen gibt, die sich wie Hunde klaglos an der Leine führen lassen.

Wohl eher scheint das noch junge Tier sich gerade die Herzen unserer Urlauber erobert zu haben, die mit ihrem Wagen vielleicht auf einem Landgasthof logierten.

Wie auch immer – in Details wie denen auf den hier gezeigten Aufnahmen liegt der besondere Zauber von Vorkriegswagen auf alten Fotos

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München 1911: Professor Döderleins Mercedes

Heute beschäftigen wir uns auf diesem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos mit einem besonderen Fall:

Wann und wo eine historische Aufnahme eines Automobils entstanden ist, ist häufig auf der Rückseite des Abzugs vermerkt. Mit etwas Glück ist dort auch der Typ genannt. Doch nur ganz selten ist auch bekannt, wer einst der Besitzer war.

Nun könnte man sagen, dass das doch egal ist. Aber nach dieser Logik kann man gleich jede Beschäftigung mit der Geschichte einstellen – heute kann und weiß man ohnehin alles besser – warum also überhaupt zurückschauen?

Doch wird erst in der Retrospektive deutlich, welchen enormen Anteil unsere Vorfahren ab Ende des 19. Jahrhunderts an den Annehmlichkeiten hatten, deren Vorhandensein wir heute für selbstverständlich halten.

Dass es dabei nicht nur um Errungenschaften in automobiler Hinsicht geht, das lehrt uns am Ende auch diese eindrucksvolle Originalaufnahme:

Mercedes von 1909/10; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer hier auf den ersten Blick nur ein uraltes Auto sieht, dem sei gesagt: Gemach, einem solchen Wagen muss man sich mit Respekt und Spürsinn nähern.

Gehen wir lehrbuchmäßig vor und ignorieren dabei, dass es zur Identifikation von Vorkriegsautos kein tatsächliches Lehrbuch gibt. Diese Lücke zu füllen, ist eine der vielen Motivationen dieses Blogs.

Der erste Blick bei den wirklich alten Wagen – und damit meinen wir hier Autos, die vor den 1930er Jahren entstanden sind – gilt stets der Frontpartie:

Dem Betrachter fallen hier wohl erst einmal die hellen Reifen auf den Holzspeichenrädern auf – so sahen die Gummipneus aus, bevor sie durch die Beimischung von Ruß schwarz – und langlebiger – wurden.

Dann wären da die beiden Scheinwerfer, die auf den vorderen Rahmenauslegern montiert sind. Ihre spezielle Form verrät, dass sie mit Acetylengas betrieben wurden, das in einem separaten Gasbehälter mitgeführt wurde.

Also haben wir es mit einem Automobil aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg zu tun, denn nach 1918 setzte sich die elektrische Beleuchtung auch bei den Frontscheinwerfern durch.

Der unscheinbar wirkende Flachkühler liefert uns im oberen Teil den entscheidenen Hinweis auf die Marke – hier sind zwei der drei Zacken des Mercedes-Sterns zu sehen, der damals noch nicht von einem Kreis umschlossen war.

Dieses Detail liefert uns den Hinweis auf das frühestmögliche Baujahr des Wagens: Erst ab 1909 findet sich der Mercedes-Stern auf dem Oberteil der Kühlermaske.

Gleichzeitig verrät die übergangslos auf die Schottwand stoßende Motorhaube, dass der Wagen kaum nach 1910 entstanden sein kann, da sich ab dann ein fließender Übergang zwischen Haube und Schottwand – der Windlauf – durchsetzte.

Was lässt die Aufnahme im Hinblick auf die Karosserie noch erkennen?

Wie es scheint, haben wir einen Außenlenker vor uns, bei dem das Verdeck nur das Passagierabteil beschirmte, während der Fahrer im Freien saß.

Selbiger scheint mit seiner Situation keineswegs unzufrieden zu sein. Man darf nicht vergessen: Vor dem 1. Weltkrieg einen solchen Mercedes zu fahren, das war beinahe ein solches Privileg, wie einen zu besitzen.

Immerhin konnte der Fahrer die Frontscheibe nach Bedarf verstellen – hier hat er das Oberteil nach vorne auf das schrägstehende Unterteil heruntergeklappt. Man sieht das erst bei eingehender Betrachtung.

Prachtvoll sind die seitlichen Positionsleuchten, die noch ganz in der Kutschentradition stehen und mit Petroleum betrieben wurden.

Was den genauen Typ des Mercedes angeht, können wir nur Mutmaßungen anstellen.

Die Modellpalette 1909/10 war von großer Vielfalt. Da gab es Vier- und Sechszylinderwagen von 30 bis 75 PS, die sich äußerlich praktisch nur in den Proportionen unterschieden.

In Frage kommt auch das mit einem ventillosen Schiebermotor nach Knight-Patent ausgestattete 16/45 PS-Modell, das 1909/10 neu vorgestellt wurde. In der Literatur gibt es eine Abbildung eine solchen Wagens mit ganz ähnlicher Frontpartie.

Wie dem auch gewesen sein mag, eines wissen wir genau: Dieser mächtige Mercedes gehörte einem Professor Döderlein aus München und die Aufnahme entstand 1911. So hat es der auf dem Foto abgelichtete Chauffeur eigenhändig auf dem Abzug vermerkt.

Besagter Professor Döderlein dürfte identisch mit dem Gynäkologen Albert Döderlein (1860-1941) gewesen sein, der ab 1907 an der Universität München lehrte.

Döderlein stand in der Tradition der bedeutenden deutschen Frauenheilkundler, deren Forscherverdienste wir uns kaum noch vorstellen können – so selbstverständlich mutet auch hier das Erreichte an.

Seinen Mercedes hat sich Professor Döderlein damit auch im übertragenen Sinne redlich verdient. Inquisitorisch veranlagte Zeitgenossen werden zwar auch in seinem Lebenslauf fündig, müssen sich aber die Frage gefallen lassen, was sie eigentlich selbst für die Allgemeinheit geleistet haben.

Übrigens gibt es vom Chauffeur des Döderleinschen Mercedes eine rund zehn Jahre später entstandene weitere Aufnahme mit einem anderen Fahrzeug, die wir gelegentlich zeigen.

Literatur: Jacques Kupélian, Histoire de Mercedes-Benz, 1981

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1922: Fahrer Fritz posiert in „seinem“ Mercedes 28/95 PS

Heute geht es mehr als 90 Jahre zurück in die glorreiche Vergangenheit der Marke Mercedes – noch heute zehrt man „beim Daimler“ in Stuttgart von den einstigen Lorbeeren, ohne diesen vergleichbare neue hinzufügen zu können.

Man muss sich das vorstellen: Im Mai 1921 – als es in Europa kaum befestigte Landstraßen gab – fuhr Mercedes-Werksfahrer Max Sailer die ihm anvertraute  Rennsportversion des Typs 28/95 PS rund 2.000 km hinunter nach Sizilien.

Dort angelangt absolvierte er das wohl härteste Straßenrennen aller Zeiten – die Targa Florio. Zu jener Zeit waren vier Runden auf dem 58 km langen Rundkurs durch die grandiose Landschaft der „Madonie“ zu fahren.

Der zweite Platz im Gesamtklassement und die schnellste Zeit für seriennahe Wagen sorgten für enorme Aufmerksamkeit in der Heimat. Wir dürfen davon ausgehen, dass Max Sailer voller Stolz den Lorbeerkranz quer durch ganz Italien nach Hause fuhr:

Mercedes 28/95 PS von 1921; historische Sammelkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Auf dieses Ergebnis sollten 1922 weitere Achtungserfolge des Typs 28/95 PS bei der Targa Florio folgen, darunter der Sieg in der Klasse über 4,5 Liter Hubraum.

Mercedes nutzte die Rennaktivitäten, um die zivile Version des auf das Jahr 1914 zurückgehenden Typs 28/95 PS selbstbewusst am Markt zu platzieren. In der Tat boten die Stuttgarter mit dem 7,3 Liter großen Sechszylinder einen besonderen Leckerbissen.

Die im Zylinderkopf strömungsgünstig schräg hängenden Ventile wurden direkt über eine obenliegende Nockenwelle betätigt, welche wiederum von einer Königswelle angetrieben wurde – einen präziseren Ventiltrieb gab es damals nicht.

Das in der Praxis fast 100 PS leistende Aggregat stellte die Krönung im Angebot von Mercedes dar – das Prestige dieser rennsporterprobten Konstruktion war kolossal. Auch die Dimensionen der Serienausführung fielen entsprechend spektakulär aus:

Mercedes 28/95 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wir müssen bei dieser Aufnahme die Identität des mächtigen Spitzkühlermodells mit den seitlichen Mercedes-Sternen nicht umständlich herleiten.

Auf dem Originalabzug ist nämlich unten von alter Hand folgendes vermerkt: „Fritz auf 28/95 PS Mercedes 6/1922“.

Demnach ist das Foto nur einen Monat nach dem zweiten erfolgreichen Einsatz der Sportausführung des Typs in Sizilien entstanden.

Fahrer Fritz sagte sich damals vielleicht: „Das muss die Familie wissen – auch ich steuere ja solch einen Mercedes 95 PS – das ist mir glatt einen Wochenlohn für das Foto wert.“

Denn natürlich war der junge Fritz nicht der Eigner des Mercedes mit den drei zwischen den Luftschlitzen austretenden armdicken Auspuffrohren:

Doch mit seiner Anstellung als Chauffeur eines derartig prestigeträchtigen Wagens hatte er es gut getroffen. Die allermeisten seiner männlichen Zeitgenossen waren in der Landwirtschaft, in handwerklichen Berufen oder als Industriearbeiter tätig.

Das Fehlen von Vorderradbremsen – die gab es beim Typ 28/95 PS erst später – wird Fritz verkraftet haben. Im Zweifelsfall waren die Motorbremse des Hubraumgiganten sowie beherzter Einsatz von Hand- und Fußbremse gleichzeitig gefragt.

Dass die Aufnahme tatsächlich erst nach dem 1. Weltkrieg entstand, darauf verweisen die elektrischen Scheinwerfer. Mercedes baute nämlich noch vor Kriegsausbruch 1914 einige Wagen des Typs 28/95 PS.

Das aber ist eine andere Geschichte, die wir irgendwann anhand eines weiteren Fotos erzählen wollen, welches glatt das Zeug zum Fund des Monats hat…

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Ganz schön extravagant: Mercedes-Benz 200 (W21)

Ein 200er Mercedes und extravagant – das scheint auf den ersten Blick unvereinbar zu sein.

Wer in den 1970/80er Jahren sozialisiert wurde, kann sich an drei Möglichkeiten erinnern, mit denen sich Besitzer eines Mercedes-Benz 200 in ihr Schicksal fügten:

  • Man verzichtete auf die Typenbezeichnung auf dem Kofferraumdeckel
  • oder montierte nachträglich frech die eines 230er bzw. 280er Modells
  • oder stand mutig zu seiner Entscheidung für einen „200 D“ beispielsweise.

Umgekehrt verfielen einige Zeitgenossen auf die Idee, ihren in Wahrheit stärkeren Benz mittels Typenschild als biederen „200er“ auszugeben und dann auf der Autobahn die Maske fallen zu lassen.

Solche Sachen macht man heute nicht mehr – nur eine Minderheit scheint noch der Auffassung anzuhängen, dass man mit Autos Spaß haben darf. Selbst in Italien scheint man die Lust am Fahren verloren zu haben (Taxifahrer in Neapel ausgenommen).

Auch deshalb beschäftigen wir uns so gern mit Wagen der Vorkriegszeit, als ein Automobil noch ein Vergnügen darstellte, selbst wenn es so bieder daherkam wie hier:

Mercedes-Benz 200 Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die vier Herren im mittleren Alter, die im Mai 1937 bei Augustusburg in Sachsen auf dem Trittbrett einer braven Limousine des Typs Mercedes-Benz 200 (W21) posierten, sind aus heutiger Sicht selbst Musterexemplare an Biederkeit.

Man stellt sie sich als Beamte, Lehrer und Advokaten vor, vielleicht war auch ein Hausarzt dabei. Draufgängerisches, Sportlichkeit oder Blendertum geht ihnen ab – und das ist durchaus wohlwollend gemeint.

Solcher soliden Stützen der Gesellschaft bedarf es vermutlich mehr als irgendwelcher von Sturm und Drang beseelter Charaktere, die zwar vorübergehend das aufregendere Leben führen mögen, aber kein solides Dasein finanzieren können.

Dann gibt es aber noch eine weitere Kategorie – die des durch Unternehmertum, Erbe oder Glück zu Geld und Unabhängigkeit gekommenen Lebemanns. Einen solchen sieht der Verfasser auf dieser Aufnahme:

Der nach Art eines Großgrundbesitzers gekleidete Herr ist erkennbar mit sich selbst im Reinen – obwohl auch er „nur“ einen 200er Mercedes fährt.

Tatsächlich fällt es schwer zu glauben, dass dieses luxuriös und großzügig anmutende Automobil etwas mit dem braven Gefährt auf dem ersten Foto gemein haben soll.

Tatsächlich wurden beide vom selben 6-Zylinder-Motor mit mageren 40 PS angetrieben, den Mercedes damals seinen Kunden vorsetzte.

Hansa etwa bot dieselbe Leistung bei seinem 6-Zylinder des Typs 1700 aus deutlich weniger Hubraum, BMWs Sechszylindertyp 319 bot 10 % mehr Leistung bei identischem Hubraum – alle bei deutlich geringerem Gewicht.

Aber: eine dermaßen großzügige Karosserie bot in dieser Klasse kaum einer der Konkurrenten – vielleicht vom Wanderer W22 abgesehen.

Hier haben wir eine viertürige Cabriolimousine vor uns, wie es scheint. Doch ein Detail fällt dabei aus dem Rahmen:

Die verchromte Sturmstange ist normalerweise ein Element, das sich an Cabriolets findet. Doch der feste obere Abschluss der Türen ist typisch für eine Cabrio-Limousine.

An sich wird bei einem solchen soliden Aufbau keine Sturmstange zur Stabilisierung des Verdecks benötigt. Doch findet sich dieses Detail in der Vorkriegszeit sogar an Limousinen und Coupés als Dekor.

Der Verfasser konnte bisher keine Vergleichsaufnahme finden, die einen Mercedes 200 des Typs W21 als Cabrio-Limousine mit Sturmstange zeigt. Insofern haben wir es am Ende tatsächlich mit einer extravaganten Ausführung zu tun.

Konnte man eine Sturmstange bei diesem Modell als Zubehör ordern? Oder hat sich hier der prestigebewusste Besitzer eine Spezialversion anfertigen lassen?

Ideen und Hinweise dazu sind wie immer willkommen!

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Auf in den Frühling – im Mercedes „Stuttgart“ Cabriolet

Heute haben wir den 21. März 2018 und tagsüber war tatsächlich ein Hauch von Frühling in der Luft, zumindest in der Wetterau – der Heimat des Verfassers dieses Blogs für Vorkriegsautos.

Wer würde – ungeachtet der frostigen Nachttemperaturen – keine Frühlingsgefühle angesichts dieser beiden unternehmungslustigen Damen entwickeln, die in den 1930er Jahren für eine Reklamekarte von Daimler-Benz posierten?

Originale Ansichtskarte von Daimler-Benz aus Sammlung Michael Schlenger

Wie elegant und charmant selbstbewusste Weiblichkeit daherkommen kann, daran erinnert ausgerechnet ein Dokument aus der Vorkriegszeit. Natürlich sah die Realität meist anders aus, ein Auto besaß hierzulande ohnehin kaum jemand.

Doch diesen Frauentyp gab es durchaus, und der musste sich unter ganz anderen Bedingungen durchsetzen als moderne Geschlechtsgenossinnen, denen nun wirklich alles offensteht, die aber oft nichts aus ihren Möglichkeiten machen.

Bevor nun ein Proteststurm weiblicher Ingenieure, Straßenbauarbeiter, Dachdecker, Fliesenleger und Schweißer losbricht, halten wir uns lieber ans eigentliche Thema.

Hier haben wir eine im wahrsten Sinne des Wortes historische Aufnahme, die Lust auf einen Ausflug im offenen Wagen macht:

Mercedes 260 „Stuttgart“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Entstanden ist dieses Foto um 1930 im pittoresken Meersburg am Bodensee, das verrät die umseitige Beschriftung des Abzugs.

Mit Unterstützung eines Lesers dieses Blogs ließ sich der Aufnahmeort exakt lokalisieren – der Mercedes hatte unterhalb der Substruktionen des Neuen Schlosses haltgemacht, wo die Rebhänge entlang der Uferpromenade auslaufen.

Auch wenn es vielleicht nicht so wirkt: Die Person, die den offenen Mercedes mitsamt drei Insassen ablichtete, fand darin ebenfalls Platz. Denn das zweitürige Cabriolet verfügte hinten über eine großzügig bemessene Sitzbank:

Lesern dieses Blogs könnte der Wagentyp bekannt vorkommen – ein fast identisches Fahrzeug haben wir hier bereits anhand mehrerer Privatfotos vorgestellt.

Auf jeden Fall handelt es sich um einen Mercedes des 1929 vorgestellten Typs „Stuttgart“, wahrscheinlich in der ab 1932 gebauten Variante mit 2,6 Liter Sechszylinder – zuvor gab es nur eine äußerlich weitgehend identische 2-Liter-Version.

Mit seiner Zweifarblackierung und großzügigem Chromeinsatz kam der Mercedes „Stuttgart“ recht luxuriös daher, während das 50 PS-Aggregat für einen Wagen dieser Klasse eher bescheiden anmutet.

Aber was wissen wir schon im 21. Jahrhundert darüber, was so ein hochkarätiger Wagen für die einstigen Besitzer tatsächlich bedeutete?

Auf eigene Faust die Heimat erkunden, in fremden Ländern auf Reisen gehen, sich im Winter die frische Luft um die Nase wehen zu lassen oder im Frühling den Duft der erwachenden Natur zu genießen – all das war die Verheißung des Automobils vor fast 90 Jahren.

Heute ist ein Mercedes ein Alltagsgefährt wie viele andere – wer einen besitzt, mag beim Anblick des Sterns ab und an daran denken, wo die Wurzeln der Marke liegen und was wir ihr an souveräner und stilvoller Mobilität verdanken:

Mercedes-Benz Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger
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Frühjahr 1916: Ein „bodenständiger“ Mercedes…

Vor gut 100 Jahren war ein Mercedes natürlich alles andere als „bodenständig“ – im Unterschied zu unseren Tagen war es kein Massenfabrikat, sondern für 99 % der Bevölkerung ein unerreichbarer Luxusgegenstand – und ein Manufakturprodukt.

Vor 100 Jahren war überhaupt einiges anders: Politiker wurden noch nicht in gepanzerten Wagen umherkutschiert, das bis dahin verbreitete Elektroauto hatte sich als dem Verbrenner gegenüber heillos unterlegen entpuppt, unterdessen konnte man von Effizienzwundern wie modernen Dieselmotoren in Kraftwagen nur träumen.

Der diesbezügliche Feldzug von Fanatikern, der sich letztlich gegen die Individualmobilität und damit gegen Wohlstand und Freiheit ihrer Mitbürger richtet, soll hier eigentlich nicht weiter kommentiert werden.

Nur eines: Wenn nach über 100 Jahren der Vervollkommung des Automobils dieses mit haltlosen Behauptungen auf einmal als mörderische Massenvernichtungswaffe dargestellt wird, scheint unsere Gesellschaft keine echten Probleme mehr zu haben.

Unsere Vorfahren vor 100 Jahren mussten wirklich um Leib und Leben fürchten, denn es herrschte Krieg zwischen den Völkern Europas.

Im Frühjahr 1916, als folgende Aufnahme entstand, tobte die Schlacht um Verdun, die bis Ende des Jahres rund eine halbe Million Männer das Leben kosten sollte:

Wir wissen nicht genau, wo dieses Foto gemacht wurde, doch steht es sinnbildlich für die verfahrene Situation, in der sich damals die Kriegsparteien im Westen befanden – es ging sprichwörtlich weder vorwärts noch rückwärts.

Gut möglich, dass sich der Wagen auf der Aufnahme nicht in Frankreich, sondern irgendwo an der Ostfront im auftauenden Boden festgefahren hatte.

Die aufgeweichten Wege – von Straßen konnte man damals vielerorts kaum sprechen – waren für Autos ein größeres Problem als heftige Minusgrade. Auf gefrorenem Boden und selbst im Schnee fuhr es sich besser als unter diesen Verhältnissen.

Für den Militäreinsatz entwickelte PKW gab es damals noch keine – praktisch alle im 1. Weltkrieg genutzten Automobile waren zivile Modelle.

Zwar boten diese dank großer Bodenfreiheit eine gewisse Geländegängigkeit, doch war man erst einmal bis zu den Achsen eingesunken, ging nichts mehr.

Hier hat es einen Mercedes erwischt – zu erkennen am dreizackigen Stern auf dem Kühler. Bei aller Qualität der Daimler-Wagen – im Kriegseinsatz wurde der stolze Fahrer bzw. der privilegierte Passagier oft auf den Boden der Tatsachen geholt.

Dessen ungeachtet war der Einsatz von Automobilen noch so ungewöhnlich, dass auch solche unerfreulichen Situationen gern fotografisch festgehalten wurden – fernab der Front konnte man sich diesen Luxus leisten.

Zu welcher Militäreinheit der Wagen gehörte, lässt sich vielleicht anhand der Kennung auf der Motorhaube ermitteln. Auf dem Originalabzug zeichnet sich in der oberen Zeile „K.F.A.C“ ab, wobei speziell das „A“ unsicher ist. Darunter könnte die Ziffernfolge „359“ oder „350“ stehen, sicher sind davon nur die ersten beiden.

Was lässt sich zum Typ sagen? Ganz genau herausfinden lässt sich dieser nicht, doch ein paar Indizien haben wir:

  • geprägter dreizackiger Stern auf der Front der Kühlermaske: ab 1909
  • Windlauf zwischen Motorhaube und Frontscheibe: ab 1910
  • elektrische Frontscheinwerfer, als Extra ab etwa 1912

Später als 1912 dürfte dieser Mercedes kaum entstanden sein, da ab dann meist Spitzkühler verbaut wurden; allerdings war der Flachkühler weiterhin verfügbar. Der relativ steile Windlauf spricht aber gegen eine wesentlich spätere Entstehung.

Die kurze Motorhaube mit den vorne liegenden Luftschlitzen lässt vermuten, dass wir eines der kleineren Mercedes-Modelle vor uns haben. Um 1912 kommen dafür vor allem die kompakten Vierzylindertypen 8/20 PS und 10/25 PS in Frage.

Mit 1,9 bzw. 2,6 Litern Hubraum waren sie weit unterhalb der großen Vierzylinder von Mercedes angesiedelt, die über Hubräume von 5 bis 10 Litern verfügten.

Viel mehr können wir zu dem Tourenwagen von Daimler derzeit nicht sagen. Interessant ist vielleicht der seitlich angebrachte Suchscheinwerfer, der der Form nach zu urteilen eventuell noch gasbetrieben war:

Selten zu sehen ist auch die Ausführung der Polster auf der Rückbank des Wagens. Hier haben wir nicht die übliche rautenförmige Polsterung mit Knöpfen, sondern glatte, gerundete Lederflächen.

Wie es scheint, waren auf der Rückbank drei Sitze nebeneinander angebracht, wobei der mittlere am höchsten nach oben ragt und der in Fahrtrichtung rechts befindliche nicht zu sehen ist. Oder täuscht der Eindruck?

Jedenfalls haben wir hier einen Mercedes, der für meisten Zeitgenossen heute unzumutbar bodenständig wäre – geringe Leistung, unsynchronisiertes Getriebe, Hinterradbremsen, schmale Reifen, keine Heizung und kein bruchsicheres Glas.

Tja, unsere Altvorderen lebten gemeingefährlich mit solch einem Automobil, sollte man meinen. Jedoch war genau das für 99 % der Bevölkerung ein unerreichbarer Luxus – nicht nur im Kriegseinsatz, auch im Frieden.

Der über 100 Jahre erarbeitete Lebensstandard der breiten Masse, der maßgeblich mit dem Automobil zusammenhängt, wird hierzulande auf einmal von Fanatikern in Frage gestellt und auf militante Weise bekämpft.

Kann man uns wenigstens diesen sinnlosen Krieg ersparen, wenn das vor 100 Jahren schon nicht möglich war?

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Ein schöner Traum: Mercedes-Benz 320 Cabriolet

Heute haben wir das Vergnügen, uns mit einem Mercedes der 1930er Jahre auf unerwartete Weise auseinanderzusetzen – das Beste kommt dabei zum Schluss.

Der Wagen, um den es geht, gehört zu den elegantesten Kreationen der Stuttgarter, auch wenn er nicht an die hinreißenden Kompressortypen 500 und 540 K heranreicht.

Auf den ersten Blick wirkt der Typ, um den es geht, sogar recht unscheinbar:

Mercedes-Benz 320 Cabriolet; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Ziemlich genau vor 80 Jahren – wohl im ausgehenden Winter 1938 oder 1939 – schoss jemand mit einer Mittelformatkamera diese stimmungsvolle Aufnahme.

Die Sonne steht nur flach über dem Horizont, der Wagen trägt die übliche Kunstledermanschette, mit der sich in der kalten Jahreszeit die Luftzufuhr drosseln ließ, damit der Motor rascher warm wurde.

Vielleicht war es einer der ersten milden Tage, an dem man bereits die Kraft der Sonne spüren konnte. Die nicht mehr ganz winterliche Kleidung der Insassen und das offene Verdeck sprechen dafür.

Dass wir hier einen Mercedes vor uns haben, verrät der Stern auf der Haube und der Radkappe – aber das genaue Modell erschließt sich erst beim näheren Hinsehen:

Für einen Mercedes 170 mit vier Zylindern ist der Vorderwagen zu voluminös, auch die mächtigen Scheinwerfer passen nicht dazu. Schon eher in Frage kommt der Sechszylindertyp 230, der ab 1937 gebaut wurde.

Doch eines macht stutzig: die gepfeilte Frontscheibe – das gab es serienmäßig nicht beim Typ 230. So bleibt nur der parallel gebaute Mercedes 320, bei dem die Werkscabriolets B und D eine solche keilförmige Scheibe besaßen.

Die beiden Varianten unterschieden sich nur durch die Zahl der Türen – zwei beim Cabriolet B und vier beim Cabriolet D.

Dummerweise lässt sich auf unserem Foto kaum entscheiden, ob wir es mit dem zwei- oder viertürigen Cabriolet zu tun haben – oder doch?

Mercedes-Vorkriegsspezialisten vor – möglicherweise verrät der Ausschnitt mehr, als es den Anschein hat. Der Verfasser tippt jedenfalls auf das zweitürige Cabriolet B.

Übrigens gab es auch ein traumhaftes Cabriolet des Mercedes 320 ohne Knickscheibe. Davon können wir zwar kein historisches Originalfoto zeigen, doch eine zeitgenössische Aufnahme tut es ausnahmsweise auch.

Hier haben wir solch einen 320er Mercedes mit flacher Frontscheibe mit den typischen zwei Reihen Luftschlitze in der Haube – die merke man sich bitte:

Mercedes-Benz 320 Cabriolet; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieses herrliche Geschöpf war 2016 bei den Classic Days auf Schloss Dyck zu sehen. Es dürfte keine zweite Klassikerveranstaltung in Deutschland geben, bei der man so etwas schon auf dem Besucherparkplatz zu Gesicht bekommt.

Vermutlich handelt es sich hierbei um kein Werkscabriolet, sondern um einen Sonderaufbau eines deutschen Karosseriebauers der Vorkriegszeit – wer kann Genaues dazu sagen?

Zum Schluss stürzen wir uns in ein besonderes Vergnügen, bei dem gleich zwei Cabriolet B des Mercedes 320 eine wesentliche Rolle spielen.

Es handelt sich um einen Zusammenschnitt von Originalfilmaufnahmen aus den späten 1930er Jahren, unterlegt mit der eleganten Vertonung von „Hurry Home“ durch den schweizerischen Jazz- und Swingmusiker Teddy Stauffer.

Man muss dieses fabelhafte Dokument bis zum Ende genießen.

  • Am Anfang sehen wir zwei 320er Mercedes-Cabrios, von denen eines anschließend auf die Autobahn auffährt. Mit 78 PS und Spitzentempo 130 km/h war souveränes Überholen drin.
  • Bei 0:40 min kommt ein Opel Kapitän ins Bild – zwar nicht so elegant, aber durchaus eindrucksvoll.
  • Die reizvollen Szenen ab 0:57 min und 1:20 min gingen nur mit Außenbordkamera.
  • Freunde des BMW Dixi kommen bei 1:50 min auf ihre Kosten.
  • Wer gerne Milch trinkt, wird die junge Dame ab 2:17 min lieben.
  • Bei 2:45 min wird ein dicker US-Wagen überholt, sicher kein Zufall.
  • Nach Zwischenhalt in Leipzig kommt man bei 3:00 min in Dresden an, streift bei 3:05 min Breslau und ist schon bei 3:09 min in Stettin.

Das Beste aber kommt – wie versprochen – zum Schluss: Bei 3:15 min erreicht man Berlin – das Ziel. Dort kommen einige unerwartete Mitfahrer aus dem Mercedes, gefolgt von … aber sehen und genießen Sie einfach selbst:

© Videoquelle YouTube; Urheberrecht des Zusammenschnitts: Deutschlandsender

Das Ganze war ein schöner Traum, der durch eine unselige totalitäre Politik hierzulande zunichtegemacht wurde. Deutschland und die Welt würden anders aussehen, wenn vor 80 Jahren eine alternative Route gewählt worden wäre…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.