Ein Elsässer in Schlesien: Mathis Typ GM 10CV

Elsass und Schlesien – nicht gerade die naheliegendste Verbindung, auch wenn beide Regionen einst Teil des Deutschen Reichs waren.

Geografisch gesehen liegen rund 900 km dazwischen und in automobilhistorischer Hinsicht gibt es auf den ersten Blick noch weniger Gemeinsamkeiten.

Aber: In der schlesischen Metropole Breslau – um 1900 die fünftgrößte Stadt Deutschlands – wurden eine ganze Weile ausgezeichnete Autos gebaut, und zwar unter dem Markennamen Beckmann (1898-1926).

Zeitgleich mit der Produktion von Beckmann in Breslau lief im elsässischen Niederbronn die erste Autofabrikation in der Region an, auf Initiative der Industriellenfamilie De Dietrich. 

Die legendären Bugatti-Wagen dagegen, an die man bei Automobilen aus dem Elsass wohl am ersten denkt, wurden erst ab 1909 in Molsheim gebaut. Noch jünger ist die dritte bedeutende Automanufaktur aus dem Elsass: Mathis.

Bislang habe ich erst drei Fotos von Mathis-Wagen vorstellen können – hierhier und hier. Heute kommt ein weiteres dazu, das Leser Klaas Dierks beigesteuert hat. Wie so oft, ist seine Aufnahme von besonderer Qualität:

Mathis_Nieder_Oberschlesien vor 1927_Klaas Dierks_Galerie

Mathis Typ GM 10CV; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Mathis ist ein klassisches Beispiel für eine hierzulande heute praktisch nicht mehr bekannte Marke, die man wohl selten oder nie auf einer „Oldtimer“-Veranstaltung auf der östlichen Seite des Rheins zu sehen bekommt.

Dabei fanden Mathis-Automobile – wie auch die Wagen des belgischen Qualitätsherstellers Metallurgique – bei uns durchaus ihre Liebhaber, auch nachdem das Elsass 1918 wieder an Frankreich gefallen war.

Nimmt man den Mathis auf obigem Foto als Maßstab, ist das gut nachvollziehbar.

Der Tourenwagen profitiert äußerlich von dem aufwendig gestalteten Kühler, der auf wohl einzigartige Weise Elemente klassischer Spitzkühler mit dem ab 1914 kurze Zeit modischen Schnabelkühler vereint:

Die Kühlerpartie verleiht dem Mathis ein unverwechselbares Gesicht. Weitere Details heben ihn unter der Masse der Tourenwagen um die Mitte der 1920er Jahre hervor.

So ist die Unterseite der Windschutzscheibe ohne ersichtlichen praktischen Grund ungewöhnlich stark geschwungen. Der abgerundete obere Abschluss der Frontscheibe trägt ebenfalls zum eigenen Charakter des Mathis bei.

Doch wie ist dieser Wagen zeitlich einzuordnen und um welchen Typ handelt es sich? Das lässt sich recht genau ermitteln, obwohl mir zu Mathis-Wagen der Zwischenkriegszeit keine gedruckte Literatur vorliegt.

Doch das Internet weiß mitunter mehr, als Büchern zu entnehmen ist. So hat Francis Roll eine Website aufgebaut, die die Geschichte der Mathis-Automobile ausbreitet.

Eigentlich wollte er ein Buch über die Elsässer Marke schreiben, hat sich dann aber für eine Online-Lösung entschieden, die wirklich alle Facetten abdeckt.

Wie bei vielen Websites zu untergegangenen französischen Marken muss man allerdings Französisch verstehen – ein Grund mehr, die schöne Sprache unserer Nachbarn wenigstens in den Grundzügen zu erlernen.

Dass sich im heutigen Europa alles in Englisch erledigen und beschaffen lässt, ist schlicht Propaganda von Kulturbanausen. Am deutlichsten wird das vielleicht, wenn man sich für die reichhaltige tschechische Automobilkultur interessiert…

Zurück zum Mathis: Der Wagen lässt sich dank der Website von Francis Roll eindeutig als Typ GM bestimmen, der ab Ende 1924 gebaut wurde. Nachfolgend ein dort entnommenes Foto, das denselben Typ zeigt wie die Aufnahme von Klaas Dierks:

Francis Roll liefert auch noch die zugehörigen Informationen zu diesem Typ:

  • Vierzylindermotor mit 1,6 Liter Hubraum, seitengesteuert
  • Steuer-PS: 10CV, effektive Maximalleistung: 25 PS
  • Viergang-Getriebe, mechanisch betätigte Vierradbremsen
  • Höchstgeschwindigkeit: 80 km/h

In der abgebildeten Ausführung wurde der Mathis Typ GM 10 CV von Ende 1924 bis Ende 1927 gebaut.

Danach erhielt der Wagen einen Flachkühler, der ihn praktisch über Nacht seines unverwechselbares Gesichts beraubte. So wurde er bis 1929 weitergefertigt und sollte damit der am längsten gebaute Wagentyp von Mathis bleiben.

Wo aber genau war der schnittige Mathis Tourenwagen abgelichtet worden, den ich heute vorstellen durfte? Das Nummernschild ist leider nur teilweise lesbar – die Kennung „IK“ verweist jedenfalls auf Schlesien.

So unwahrscheinlich es auch ist – erkennt jemand die Silhouette der Stadt bzw. der Bauten im Hintergrund wieder?

Die Frage mag kühn erscheinen, aber auf dem Sektor „Déjà-vu“ habe ich schon einiges erlebt. Zudem mag es einen weiteren Abzug desselben Fotos geben, der in einem anderen Album die Jahrzehnte überdauert hat, aber eine Ortsangabe aufweist.

So oder so können wir an solchen neu auftauchenden Relikten der Vorkriegszeit mittlerweile ein weit vielschichtigeres Bild der Automobilwelt von gestern zeichnen, als dies den Literaturpionieren der 1970er und 80er Jahre möglich war.

Heute waren wir Zeuge einer ganz unwahrscheinlichen Verbindung zwischen dem Elsass und Schlesien – wo sonst gibt es etwas darüber zu lesen?

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

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