Bossa Nova auf 4 Rädern: Fiat 501 „Boattail“ in Rio

Heute möchte ich ein wunderbar melancholisches Foto vorstellen, das vom Welterfolg des Fiat 501 Anfang der 1920er Jahre kündet, aber zugleich ein zeitloses Thema anklingen lässt – die merkwürdige Mischung aus Schönheit und Schmerz.

Dabei unternehmen wir eine Reise aus Europa ins ferne Brasilien – ins Mutterland der Bossa Nova, die zwar erst in den 1950er Jahren entstand, aber schon wieder historisch ist. Wem dieser Musikstil nichts sagt, kann am Ende eine Kostprobe davon genießen.

Doch beginnen wir erst einmal ganz sachlich mit diesem Tourenwagen:

Fiat 501 Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses ab 1919 gebaute Fahrzeug war der erste Welterfolg von Fiat aus Turin: Bis 1926 wurden rund 80.000 Exemplare des Typs 501 mit 1,5 Liter-Seitenventiler (23 PS) gebaut.

Italien war zum damaligen Zeitpunkt zwar eines der Armenhäuser Europas, gehörte aber wie Rumänien zu den „Siegern“ des 1. Weltkriegs, die die Gunst der Stunde genutzt hatten, fragwürdige Gebietsansprüche durchzusetzen.

So stand Fiat 1919 für die Seite der „Guten“ und konnte entsprechend unbelastet in die globale Offensive gehen. Tatsächlich begegnet man dem kompakten, bald als unzerstörbar geltenden Typ 501 in fast jedem Winkel der Welt.

Selbst beim einstigen Gegner ließen sich etliche Fiats des Typs 501 absetzen, so dieser „Roadster“ mit Schwiegermuttersitz, der in Berlin Käufer fand:

Fiat 501 Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Neben klassischen Tourern und solchen sportlich anmutenden Zweisitzern mit Notsitzen im Heck für Schwiegermutter und Schwägerin gab es auch raffiniertere Sonderaufbauten.

Ein großartiges Beispiel dafür präsentierte vor einiger Zeit Fernando Sobrinho aus Brasilien in der Facebook-Gruppe „Cars of the 1900s to the 1930s“. Es handelt sich um einen extravaganten „Boattail“-Roadster“ auf Basis des Fiat 501.

Die genaue Quelle der Aufnahme aus Rio de Janeiro ließ sich nicht klären, dennoch möchte ich dieses Dokument meiner Leserschaft nicht vorenthalten:

Fiat 501 Bootsheck-Roadster; Foto via Fernando Sobrinho (Brasilien), Originalquelle unbekannt

Viele Dinge gefallen mir an diesem Sport-Zweisitzer. So ist der Aufbau elegant auf’s Unerlässliche reduziert:

– Ja, man braucht Räder, aber man verwendet filigrane Drahtspeichenräder, die dem Auge nichts verbergen.

– Ja, man braucht Kotfügel, aber man reduziert sie auf die Schutzfunktion für die Insassen.

– Ja man braucht einen Einstieg, verzichtet aber auf Türen.

– Ja, man muss irgendwie ins Auto kommen, beschränkt sich aber auf eine winzige Trittstufe.

– Ja, man braucht irgendeine Heckpartie, verzichtet aber auf ein dort angebrachtes Verdeck und lässt die Karosserie nach hinten abfallen.

Nur einen Luxus leistet man sich: eine pfeilfömig zulaufende zweigeteilte Windschutzscheibe

Das ist die gestalterische Logik dieses hinreißenden Roadsters mit Bootsheckkarosserie. Leicht im Aufbau, lässig in der Konstruktion und dabei von perfekter Eleganz.

Damit sind wir fast schon beim eingangs erwähnten Musikstil der Bossa Nova. Doch ein Element fehlt noch bei soviel Schönheit – die Melancholie, mit der jede nahezu vollkommene Schöpfung daherkommt. Auch sie findet sich letztlich auf dieser Aufnahme:

Die beiden Männer in dem rassigen Fiat hatten eigentlich allen Grund, sich glücklich zu schätzen – vor rund 90 Jahren in Rio de Janeiro gehörten sie mit einem solchen Fabeltier zu einer hauchdünnen Oberschicht.

Doch beide schauen so, als seien sie mit dem Kopf woanders, als hofften sie, dass die Sache bald vorbei sei. Es gibt viele Gründe im Leben, die einem Anlass geben, äußerlich zu funktionieren, aber dennoch von Traurigkeit erfüllt zu sein.

Wir wissen nicht, was die beiden Fiat-Insassen einst innerlich beschäftigte. Ich habe meine eigenen Gründe, dieser Tage mit ihrer offenkundigen Melancholie zu sympathisieren – nein, es ist kein Liebeskummer.

Eine Antwort bleiben uns auch diese alten Fotos oft schuldig, die von vergangenen Leben und alten Automobilen erzählen und fast das einzige sind, das uns heute noch mit der Welt von gestern verbindet.

Doch es gibt neben der Fotografie eine weitere Technologie, die auf wunderbare Weise eine Zeitreise ermöglicht, die Tonaufzeichnung. So können wir im 21. Jahrhundert Klängen lauschen, deren Schöpfer längst vergangen sind.

Passend zum heutigen Bild aus Rio de Janeiro empfinde ich diese kühle und stets ein wenig traurige Bossa Nova-Stimmung, die vor bald 60 Jahren verewigt wurde:

Hochgeladen von Universal Music Group; Quelle: Youtube.com

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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