Nicht ganz „der Selbe“: Selve 8/32 PS Tourer

Mein heutiger Blog-Eintrag schließt in gewisser Weise an die kürzliche Besprechung eines NAW „Colibri“ an. Denn der Ort, an dem das Automobil entstand, um das es geht, war derselbe – Hameln in Niedersachsen.

Doch weder der Hersteller noch der Wagen waren „der Selbe“ – es war vielmehr ein Selve. So lautete nämlich der Name, unter dem im alten NAW-Werk in Hameln nach dem 1. Weltkrieg wieder Autos gebaut wurden, nun von den Selve Automobilwerken.

Ihr Gründer – Walter Selve (1876-1948) – sah dort die Möglichkeit, neben dem väterlicherseits aufgebauten Konzern „Basse & Selve“ aus Altena nun auch Autos zu bauen, und das mit selbst entwickelten Motoren!

Das erforderliche Können war bei Basse & Selve durchaus vorhanden, denn im 1. Weltkrieg hatte man Hochleistungsaggregate für die deutsche Luftwaffe gebaut:

Reklame von Basse & Selve aus dem 1. Weltkrieg; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die übrige Automobilbau-Kompetenz holte man sich in Gestalt von Ernst Lehmann, dem früheren Chefkonstrukteur bei Metallurgique in Belgien (und davor Ingenieur bei Daimler).

Selve-Wagen genossen recht bald einen guten Ruf, wozu auch Sporterfolge beitrugen. In welchen Stückzahlen sie allerdings gebaut wurden, gehört zu den zahllosen Mysterien, die deutsche Autohersteller der zweiten und dritten Reihe umwittern.

Aus meiner bisherigen, recht dürftigen Ausbeute an historischen Fotos von Selve-Wagen schließe ich, dass es bestenfalls eine niedrige vierstellige Zahl war.

Das zumindest von der Karosserie früheste Selve-Auto ist mir auf dieser Aufnahme begegnet, die aus dem Firmenarchiv der Werkzeugfirma Hazet stammt und die ich einst zur Bestimmung des Wagens darauf zugesandt bekommen habe:

Selve 8/20 PS bzw. 8/24 PS; Originalfoto aus dem Archiv der Hazet-Werk GmbH & Co. KG

Neben diesem frühen 8/20 PS- bzw. 8/24 PS-Typ (1,6 Liter Hubraum) gab es Anfang der 1920er Jahre auch ein geringfügig größeres Modell, das bis 1925 im Programm blieb: den Selve 8/30 PS (später 8/32 PS) mit 2,1 Liter-Aggregat.

Mangels eindeutig bezeichneten Fotomaterials fällt es schwer, die Motorisierungsvarianten auseinanderzuhalten. Jedenfalls verfügten sie beide über einen Spitzkühler, der dem des Presto Typ 9/30 PS sehr ähnlich sah, zumindest von der Seite.

Von vorn ist ein Selve jedoch an dem weiter oben angebrachten und flacher liegenden Markenemblem zu erkennen – selbst bei unscharfen Aufnahmen wie hier:

Selve 8/32 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Selve verfügt über eine modernere Karosserie ohne den eckigen Verdeckkasten am Heck und vorn eleganter auslaufende Kotflügel.

Demnach könnte es sich um das kurz nach dem Typ 6/20 bzw. 6/24 gebaute Modell 8/30 bzw. 8/32 handeln. Sicher ist das natürlich nicht, da auch der schwächere Typ bis Produktionsende 1923 einen solchen modernisierten Aufbau erhalten haben kann.

Ein Unterscheidungsmerkmal behalten wir aber im Hinterkopf, und das sind die seitlich direkt hinter dem Ende der Motorhaube angebrachten Positionsleuchten – meiner Einschätzung nach ein weiteres Indiz für eine eher späte Entstehung.

Da obiger Selve noch keine Vorderradbremse besitzt, können wir den noch größeren, ab 1926 gebauten Typ 11/45 PS ausschließen (die Datierung des Selve in der Neuauflage des „Oswald“ – Deutsche Autos 1920-45 – auf S. 501, ist wahrscheinlich falsch).

Immerhin erlauben die wenigen Vergleichsfotos von Selve-Wagen der ersten Hälfte der 1920er Jahre eine klare Identifikation auch dieses schönen Tourers:

Selve 8/30 bzw. 8/32 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese hervorragende Aufnahme verdanke ich einmal mehr Leser Klaas Dierks, der zusammen mit Matthias Schmidt (Dresden) und Marcus Bengsch zahlreiche wichtige Beiträge zum Gedeihen meiner stetig wachsenden Bildergalerien geleistet hat.

Die eigenwillige Form der Luftschlitze und der aus fünf (unleserlichen) Großbuchstaben bestehende Firmenname auf dem vorderen Nabendeckel schien zunächst in Richtung „Freia“ zu deuten (eine noch geheimnisvollere deutsche Marke).

Der Spitzkühler mit dem typisch platzierten Emblem, die charakteristische Anbringung der Positionsleuchten, die Wartungsklappe unterhalb des außenliegenden Handbremshebels sowie die flache, gepfeilte Frontscheibe sprechen aber klar für einen Selve.

Auch die im oberen Teil der Haubenseiten befindlichen Griffmulden finden sich bei genauem Hinschauen bei Selve-Wagen – nicht bei allen, aber offenbar beim Typ 8/30 bzw. 8/32 PS:

Interessant wäre zu erfahren, ob die pfeilfömig in das Blech gepressten Entlüftungsschlitze in der Haube auf einen speziellen Karosseriehersteller hindeuten.

Davon abgesehen scheint dieser Aufbau nämlich vollkommen denen des Darmstädter Manufaktur Autenrieth zu entsprechen, die sich in der dünnen Literatur zu Selve finden.

Der mutmaßliche Besitzer des Selve – hier lässig mit Spitzbart, Fliege, Nickelbrille und Ballonmütze posierend – hätte es uns natürlich verraten können.

Und zur Motorisierung hätte natürlich der Fahrer erschöpfend Auskunft geben können, der frisch rasiert am Steuer Platz genommen hat, um die Reisegesellschaft mit übererfüllter Frauenquote souverän und sicher ans Ziel zu bringen:

Es muss ein warmer Frühlings- oder Sommertag gewesen sein, sonst hätten die Damen den Hals mit Schals oder Tüchern vor dem kühlen Fahrtwind geschützt und Reisemäntel getragen.

In der letzten Reihe dürfte noch ein Platz freigewesen sein – eventuell reserviert für die Person, die dieses schöne Dokument vor rund 95 Jahren angefertigt hat. Gern wüsste man, wer das gewesen ist.

Doch kann man sich auch posthum bedanken, denn ein Selve, der sich im Detail als nicht ganz „das Selbe“ entpuppt wie die bisherigen Aufnahmen von Tourern dieser Marke, ist ein außergewöhnlicher Fund.

Dann noch ein vollbesetzter Tourer bei Sonnenschein, was will man mehr? So etwas ist nie ganz das „Selbe“ – das gilt erst recht für einen Selve…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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