Ein Fall für Forscher: Selve Sport-Zweisitzer um 1925

Haben Sie schon einmal vom Flieger und Forscher Gunther Plüschow gehört? Nein? – Ich auch nicht, bis ich heute auf seinen Namen stieß.

Seine Vita bietet genügend Stoff für einen Roman oder einen Abenteuerfilm – leider ein Genre, auf das man sich hierzulande nicht versteht. Vermutlich gilt es als „nicht intellektuell genug“ im Land der kompliziertesten und unverständlichsten Denker.

Dass ich die oberflächliche Bekanntschaft dieses faszinierenden Charakters machen konnte, der im 1. Weltkrieg das Kunststück vollbrachte, aus der Gefangenschaft in England zu entkommen, und der Ende der 1920er Jahre als erster mit dem Flugzeug die Feuerlandregion in Südamerika erkundete, das verdanke ich einem anderen Forscher.

Ich weiß nicht, ob er diese Bezeichnung für sich in Anspruch nehmen würde, aber was Wolfgang Spitzbarth auf seiner Internet-Präsenz zum Automobilkonstrukteur Karl Slevogt zusammengetragen hat, ist für mich jedenfalls das Ergebnis jahrelangen Forschergeistes.

Slevogt hinterließ Spuren bei mindestens acht Autoherstellern aus dem deutschsprachigen Raum und stellt damit ähnlich „bewegte“ Kollegen wie Ferdinand Porsche oder auch Paul Henze in den Schatten.

Mir begegnete er jüngst wieder bei der Beschäftigung mit der heute kaum noch bekannten Marke Selve, unter der in Hameln von 1919-29 Automobile entstanden, die mit Motoren der Muttergesellschaft Basse & Selve (Altena) ausgerüstet wurden.

Einige Reihe von Fotos der frühen Modelle aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre konnte ich bereits präsentieren – hauptsächlich die Vierzylindertypen 6/20 bzw. 6/24 PS.

Man erkennt die Selve-Wagen der frühen 20er Jahre an dem markanten Emblem. welches auf einer geneigten Fläche auf der „Nase“ des Kühlergehäuses angebracht war. Wie das Emblem selbst aussah, das vermittelt vorbildlich die Website von Claus Wulff aus Berlin, dessen Sammlung von Kühleremblemen die wohl am besten für das breite Publikum aufbereitete ist – ich profitiere immer wieder davon.

Hier haben wir nun beispielhaft die Aufnahme eines sochen frühen Selve:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS, Bauzeit: 1919-1923; zugelassen in Westfalen, Originalfoto aus Familienbesitz (Peter Graß)

Für die Identifikation als Selve wichtige Details sind die bei deutschen Autos jener Zeit einzigartigen Parkleuchten am Ende der Motorhaube und die sonst nur bei Hansa zu findenden hoch angebrachten Griffmulden in der Haube. Wie bei deutschen Autos jener Zeit Standard, besaß auch dieser Selve noch keine Vorderradbremsen.

Erstaunlich anders präsentiert sich nun ein Selve, der nur kurz danach entstand – ich datiere ihn auf etwa 1925/26. Das Foto verdanke ich Leser Matthias Schmidt, auf seine Weise ebenfalls ein langjähriger Forscher auf den Spuren deutscher Vorkriegswagen.

Nur das erwähnte Markenemblem sowie dessen Anbringung und Platzierung ermöglichten hier die Ansprache als Selve – ansonsten ist dieser Wagen ohne Vergleich, auf den ersten Blick jedenfalls:

Selve Sport-Zweisitzer von ca. 1925/26; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ein Selve ist das der Kühlerpartie nach zu urteilen eindeutig. Keine Einwände von sachkundigerer Seite? Gut, doch damit verlassen wir auch schon das gesicherte Gelände.

Wenn es an die „terra incognita“ – also die unbekannten Gefilde geht, die noch keiner je zu Gesicht bekommen hat und die auf alten Karten gern mit wilden Phantasiekreaturen bevölkert wurden, dann sind echte Forscher gefragt.

Im vorliegenden Fall gilt das ganz besonders, wie wir noch sehen werden.

Doch zunächst gilt es festzuhalten, was wir hier außer der vertrauten Kühlerpartie sehen: Ins Auge fallen vielleicht zuerst die Bremstrommeln an den Vorderrädern – von wenigen Ausnahmen abgesehen bei deutschen Fabrikaten erst ab 1925 in der Breite verfügbar.

Wie es der Zufall will, war damals der eingangs erwähnte Karl Slevogt als neuer Konstrukteur bei Selve verpflichtet worden (ab Oktober 1924) und er sorgte schon 1925 für neue Modelle mit verbesserten Chassis und Fahrwerken sowie stärkeren Motoren.

Verfügbar waren nun die Motorisierungen 8/35 bzw. 9/36 PS in Verbindung mit Vierradbremsen. Doch auch eine ältere Sportausführung mit Spezifikation 8/40 PS war im Angebot und Karl Slevogt setzte diese persönlich erfolgreich bei diversen Rennen ein.

Das wirft aus meiner Sicht die Frage auf, womit wir es bei dem auf dem Foto von Matthias Schmidt abgebildeten Selve zu tun haben, den wir hier endlich in Gänze sehen:

Selve Sport-Zweisitzer von ca. 1925/26; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

So muss ein Sportwagen aussehen, nicht wahr? Langer Vorderwagen, endlose Motorhaube und ein auf’s Nötigste beschränktes Piloten-Cockpit sowie Tank und Reserverräder in der hinteren Hälfte.

In der gedruckten Literatur konnte ich nichts Entsprechendes finden – nur eines fiel mir auf: der Vorderwagen mit den 10 großen Entlüftungsschlitzen in der Motorhaube findet sich fast exakt so bei den erwähnten neuen Selve-Modellen 8/35 PS bzw. 9/36 PS sowie bei der 6-Zylinderversion 11/45 PS, welche ebenfalls von Karl Slevogt geschaffen wurde.

Aber: Der Radstand des Zweisitzers auf dem Foto von Matthias ist erheblich kürzer als bei den Serienausführungen der erwähnten Selve-Typen.

Das eröffnet aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten: Entweder bot man auf verkürztem Chassis eine sportlich aussehende Ausführung der von Slevogt entwickelten Typen 8/35 bzw. 9/35 PS an oder die bereits vorhandene Sportversion 8/40 PS wurde weitergebaut.

Dazu würde passen, dass diese über einen kürzeren Radstand verfügte (3,10 m statt 3,25), wobei mir diese Differenz immer noch zu gering vorkommt. Überhaupt sieht mir das Gerät stark nach einer Spezialversion aus, wie sie vielleicht nur auf Wunsch gefertigt wurde.

An dieser Stelle kommen wir wieder auf das Thema „Forscher“ zurück. Denn es gibt ein Foto des eingangs erwähnten Gunter Plüschow in seinem Selve-Sportwagen, der über eine identische Karosserie verfügt zu haben scheint.

Allerdings bezieht sich dies nur auf diesen Ausschnitt:

In einer ganz ähnlichen Situation findet sich Flieger und Forscher Gunther Plüschow auf einem Foto, das ihn in seinem Selve zeigt.

Um es zu finden, muss man selbst etwas Forschergeist an den Tag legen, denn es versteckt sich im Abschnitt „Selve 1924-28“ auf Wolfgang Spitzbarths Website zu Karl Slevogt.

Da ich an diesem Punkt das Territorium einigermaßen gesicherten Wissens verlasse, übergebe ich an dieser Stelle an die Forscher unter meinen Lesern – vielleicht kann uns jemand genau sagen, was es mit dem mysteriösen Selve Sport-Zweisitzer auf sich hat.

Es wird doch am Ende nicht Gunther Plüschow selbst darin sitzen? Das wäre ein fabelhaftes Ergebnis von Forschergeist. Aber auch jede andere fundierte Einschätzung ist mir willkommen – bitte dafür wie immer die Kommentarfunktion nutzen.

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Freude am Detail: Selve 6/20 PS bzw. 6/24 PS

Sich an Details abarbeiten – das kann entweder zu idealen Lösungen führen oder dazu, dass man das Wesentliche aus dem Auge verliert. Dies macht den Unterschied aus zwischen souveränen Marktführern und überforderten Akteuren, die nichts fertigbekommen.

Leider neigt sich die Waage hierzulande inzwischen allzuoft zugunsten des zweiten Phänomens – zum Selbstzweck verkommenen Detailfetischismus, der das Ziel aus dem Auge verliert und sich im Labyrinth selbstgeschaffener Komplexität verzettelt und verirrt.

Beruflich bedingt habe ich hin und wieder das zweifelhafte Vergnügen, die Software eines großen deutschen Anbieters zur Abrechnung von Aufträgen benutzen zu müssen. Etwas weniger Intuitives, weniger Bedienerfreundliches, weniger Logisches ist mir auf diesem Sektor noch nicht untergekommen. Solche Lösungen müssen im Detail präzise sein, aber der Anwender muss am Ende damit zeitsparend und sicher umgehen können.

Kein einziges weltweit von Millionen genutztes und geschätztes modernes Alltagsgerät kommt aus Deutschland – das muss Gründe haben, die im Detail liegen.

Dagegen ist im Fall von Vorkriegswagen auf alten Fotos gerade die obsessive Beschäftigung mit Details ein steter Quell der Freude, ja oft genug der entscheidende Erfolgsfaktor – heute bringe ich ein Beispiel dafür:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ist das nicht erbaulich, wie der Fotograf hier den Blick auf das für ihn entscheidende Detail gelenkt hat? Ihm waren die beiden Insassen dieses Tourenwagens wichtiger als anderes und wir freuen uns noch nach rund 100 Jahren über die lebendige Wirkung.

So sind die Dame mit der modischen Bubikopf-Frisur und ihr voller Vorfreude in die Ferne schauenden Nachbar am Lenkrad für immer jung geblieben – was für ein schönes Ergebnis dank des Sinns für’s Detail am rechten Ort!

Ohne die beiden wären wir nicht halb so erbaut von dieser Aufnahme. Aber wir hätten selbst dann noch genügend Details, mit denen wir uns produktiv auseinandersetzen können.

Wie das geht, lässt sich anhand einer oberflächlich schnöden Nebensache wie den beiden höhenversetzt angeordneten Klappen an der Flanke des Wagens zwischen Motorhaube und Vordertür nachvollziehen.

Sie dienten der Belüftung des Fußraums, in dem es für Fahrer und Beifahrer ziemlich heiß werden konnte – dort strahlten nämlich Getriebe und Auspuffanlage kaum isoliert ihre Hitze ab. Was in der kalten Jahreszeit willkommen war, wurde bei warmen Temperatur zur Tortur.

Warum hier zwei Klappen verbaut waren und warum sie unterschiedlich hoch angebracht wurden, kann ich nicht sicher sagen. Möglicherweise geschah es in rein dekorativer Absicht.

Einen Vorteil hatte die nach meinem Eindruck ziemlich einzigartige Anordnung aber: Dieses Detail erlaubt nämlich eine Ansprache des Wagens als Tourenwagen des Typs 6/20 PS oder 6/24 PS, wie ihn die norddeutsche Firma Selve Anfang der 1920er Jahre baute.

Präzise dieselbe Gestaltung findet sich an dem Exemplar, das auf dem folgenden Foto aus der Sammlung von Leser Jason Palmer zu sehen ist:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Jason Palmer (Australien)

Während der Blick auf die Insassen in diesem Fall nicht halb so reizvoll ist, sehen wir hier die Details der Frontpartie, welche die Identifikation als Selve erlauben.

Dazu zählt vor allem die Gestaltung des spitz zulaufenden Kühlers mit der schräg oben auf der „Nase“ angebrachten Markenplakette (zum Vergleich siehe meine Selve-Galerie).

Gleichzeitig sorgen die ungewöhnlich kleinen und oben angeordneten Haubenschlitze dafür, dass man den Wagen nicht mit dem zeitgleichen und weit häufigeren Presto Typ D 9/30 PS verwechseln kann.

Hier noch ein Ausschnitt der Partie, welche auf dem eingangs gezeigten Foto zu sehen ist – es stimmt alles bis ins Detail überein. Man sieht hier zudem besagte Klappen geöffnet:

Das ist doch ein ganz nettes Ergebnis von Detailfetischismus, oder? Der Vollständigkeit halber sei hier auch auf die seitlichen Parkleuchten verwiesen, die es in den frühen 1920er Jahren bei deutschen Fabrikaten sonst nicht gab – das war eher typisch für US-Modelle.

Doch wie ich in der Einleitung sagte, soll man bei aller Detailfreude das Ganze nicht aus dem Auge verlieren – und so wäre es doch einigermaßen unbefriedigend, wenn man mit der Betrachtung einzelner Elemente endete.

Tatsächlich ist die heutige Auseinandersetzung mit den Details der frühen Selve-Wagen aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg kein Selbstzweck. Vielmehr sind wir nun in der Lage, das Fahrzeug als Ganzes wahrzunehmen und zu würdigen.

Denn wie es der Zufall will, hat der Fotograf seinerzeit das Auto mit dem sympathischen jungen Paar auch in seiner Gesamtheit für die Nachwelt abgelichtet:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Jetzt sieht man das Auto, welches nicht ganz scharf wiedergegeben ist, mit anderen Augen und weiß es dank der Beschäftigung mit vorgenannten Details besser einzuordnen.

Und nun fallen einem auch weitere Dinge auf, die das Fahrzeug bei allen Mängeln der Wiedergabe interessant machen. Denn wieder haben wir die merkwürdigen kleinen Haubenschlitze, diesmal aber weiter hinten angeordnet.

Besser erkennt man dies auf diesem Foto, das denselben Wagen zeigt:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Solche Details wollen vermutlich nicht viel bedeuten, was die Datierung und/oder Motorisierung dieses Selve angeht – doch werfen sie gewisse Fragen, die ich derzeit nicht beantworten kann. Handelt es sich um zufällige Variationen in der laufenden (Manufaktur-)Produktion oder ist dies ein Hinweis auf eine zeitliche Abfolge?

Und was ist davon zu halten, dass es den Selve auch mit ähnlich anmutender Karosserie, aber oben in der Haube angebrachten Griffmulden gab?

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ich vermute einfach, dass parallel unterschiedliche Stile angeboten wurden – für Kunden, die damals ebenfalls Freude an solchen Details hatten…

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Der Weg zur Erleuchtung: Ein Selve Tourer um 1920

In der griechischen Philosophie der Antike wie im Zen-Buddhismus gibt es ein hübsches Gleichnis, dessen jeweilige Aussage bemerkenswert übereinstimmt. In beiden Fällen geht es den Schülern um die Erlangung des jeweils höchsten Ziels – der Seelenruhe, der Glückseligkeit oder eben der Erleuchtung (Zen).

Die Schüler bemühen sich redlich, studieren die einschlägigen Werke, meditieren eifrig und denken sich, dass sich so irgendwann der erhoffte Zustand einstellen muss. Doch weit gefehlt, nichts dergleichen will ihnen gelingen.

Sie fragen daraufhin ihren Lehrmeister, was sie noch tun können. In einer fernöstlichen Variante ignoriert sie der Meister völlig oder murmelt irgendeine Belanglosigkeit wie „Das Wasser fließt stets den Berg hinab“ und lässt sie damit allein. Sie müssen schon selbst zur inneren Erleuchtung gelangen, sonst ist es keine.

Die griechische Version, an die ich mich erinnere, geht in die Richtung, dass der Lehrer ihnen rät, das Streben nach der Seelenruhe einfach sein zu lassen. In dem Moment, in dem sie aufhören, angestrengt danach zu suchen, folge diese ihnen ganz von selbst wie der eigene Schatten.

Daran musste ich heute denken, als ich wieder einmal Dutzende von Fotos in meinem Fundus mit unidentifizierten Vorkriegswagen durchstöberte – wild entschlossen, dass sich ein Geistesblitz einstellen möge. Doch nichts in der Hinsicht geschah.

Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen, denn die Erleuchtung in diesen Dingen gelingt tatsächlich oft meist beiläufig im Vorübergehen, wenn man eigentlich einer anderen Sache nachgeht und sich plötzlich wie von selbst eine Erkenntnis einstellt.

So hatte ich bereits aufgegeben und dachte, dass ich dann eben irgendeinen eindeutigen Fall präsentiere – am Material mangelt es ja nicht. Doch dann blieb der Blick hieran hängen:

Selve Typ 6/20 PS oder 6/24 PS, Bauzeit: 1919-1923; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dieses schöne Foto eines Tourenwagens der frühen 1920er Jahre hatte mir Leser Matthias Schmidt (Dresden) vor einiger Zeit in digitaler Form zugesandt. Irgendeine Vermutung hatte ich seinerzeit geäußert, doch die Aufnahme dann erst einmal aus dem Auge verloren.

Heute aber wurde mir schlagartig klar, warum sich dieses Auto mit der hübschen, aber damals keineswegs einzigartigen Zweifarblackierung und dem ebenfalls modischen Spitzkühler ohne erkennbares Emblem präzise ansprechen lässt.

Die Kühlerform fand sich seinerzeit ähnlich auch beim Presto Typ D 9/30 PS, während die beiden Griffmulden in der Seite der Motorhaube eher typisch für Hansa-Automobile waren.

Doch für die angestrebte Erleuchtung sorgte letztlich, dass ich die seitlich am Windlauf hinter der Motorhaube montierten Standlichter bemerkte. Diese waren der Schlüssel zur Erkenntnis, denn die gab es so nach meiner Wahrnehmung nur an den Typen 6/20 PS bzw. 6/24 PS, welche der norddeutsche Hersteller Selve von 1919-1923 baute.

Hier haben wir ein prachtvolles Vergleichsexemplar auf einem Foto von Leser Klaas Dierks:

Selve Typ 6/20 PS oder 6/24 PS, Bauzeit: 1919-1923; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Ignorieren Sie die abweichende Ausführung des Tourenwagenaufbaus, das war damals individuelle Manufakturarbeit. Konzentrieren Sie sich stattdessen ganz auf die Frontpartie.

Stellt sich mühelos die Erleuchtung ein?

Falls nicht, muss das folgende Beispiel aber nun wirklich erhellend wirken – denn hier erkennt man sogar das Selve-Emblem auf dem Kühler:

Selve Typ 6/20 PS oder 6/24 PS, Bauzeit: 1919-1923; Originalfoto: Sammlung Peter Graß

Sie sehen: So einfach kann es sein, sich illluminieren zu lassen. Die dazu erforderlichen Beleuchtungsmittel und die Bereitschaft, sich ganz den sinnlichen Eindrücken auszuliefern, vorausgesetzt geht das ganz von alleine.

Es mag etwas weit hergeholt erscheinen, doch in der Tat lassen sich solche Fälle am ehesten dadurch lösen, dass man nicht angestrengt nach der Erkenntnis sucht, sondern sich einfach dem ausliefert, was an Eindrücken bereits in einem selbst vorhanden ist.

Ganz ohne eigenes Zutun bleibt unser Geist an Vergleichbarem hängen, das er einmal unbewusst bemerkt und abgespeichert hat und serviert unserem Bewusstsein die ersehnte Erkenntnis wie auf dem Silbertablett. Dann dürfen wir uns erleuchtet fühlen und empfinden für einen Moment Glückseligkeit, weil sich zuvor rätselhafte Dinge in sonnenklarer Erkenntnis auflösen, auch wenn es bloß um Vorkriegsautos geht.

Solchermaßen erleuchtet verabschiede ich mich für heute. Morgen steht der Fund des Monats November an – was das sein wird? Keine Ahnung, ich lasse es einfach geschehen. Das scheint mir der rechte Weg zur Erleuchtung zu sein in diesen dunklen Tagen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.   

Genug zum Glücklichsein: „Selve“-Tourenwagen

Meine Erfahrung ist: Nichts gewinnt die Herzen auf Oldtimer-Veranstaltungen so sehr wie ein sympathisch präsentiertes Vorkriegsauto.

Wenn ich mit meinem Peugeot 202 Pickup auftauche, dessen Äußeres von einem langen arbeitsreichen Autoleben erzählt, dann bleiben Frauen aller Altersklassen fasziniert davor stehen, schauen in den Innenraum, schnuppern, lassen sich davor fotografieren.

Man muss überhaupt nichts über diese Wegbereiter unserer modernen Mobilität wissen, um von ihnen angezogen sein. Die Männer begeistern sich meist für die einfache, offen vor Augen liegende Technik, während sich die Damen eher von den Formen verführen lassen.

Die Krönung ist natürlich, selbst einen Veteranen zu besitzen und zu beherrschen. Psychiater und Lebensberater hassen vermutlich Vorkriegsautos, denn die machen sie offensichtlich arbeitslos:

Veteranenausfahrt 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Diese schöne Situation konnte ich anno 2015 bei einer Veteranenausfahrt festhalten, an der ich als Passagier in einem Cadillac von 1912 teilnehmen durfte (Bildbericht hier).

Dennoch bedarf es keineswegs des Besitzes eines wirklich alten Automobils, um festzustellen: „Genug zum Glücklichsein“ – auch wenn Sie mit etwas Geduld für weniger als 10.000 EUR einen fahrbereiten Vorkriegs-Ford oder einen Austin 7 bekommen.

Nein, die Magie dieser Fahrzeuge überträgt sich bereits beim Betrachten, beim Schrauben daran und sogar dann, wenn man nur noch ein paar alte Familienfotos besitzt, auf denen die Altvorderen mit einem Vorkriegswagen zu sehen sind.

Heute kommt alles zusammen und ich kann versprechen: Es gibt für alle Beteiligten „Genug zum Glücklichsein“. Den Anlass dafür, dass Fortuna ihr Horn so großzügig ausschüttet, gab mir Peter Graß, der mich um die Identifizierung des Wagens auf folgendem Foto bat:

Selve Tourenwagen (wohl 6/20 PS oder 6/24 PS); Originalfoto aus Familienbesitz (Peter Graß)

Der Erste, der hier „Genug zum Glücklichsein“ fand, war ich selbst, denn ein solches Foto findet sich nicht alle Tage.

Der Spitzkühler mit dem schrägliegenden Emblem auf der „Nase“ verriet mir, dass dieser Tourenwagen ein „Selve“ sein muss – ein erst ab 1919 gebautes Fabrikat des gleichnamigen Konzerns, der vor allem für seine Motorenproduktion in Altena (Westfalen) bekannt war.

Die Automobilfertigung von Selve in Hameln währte nur 10 Jahre und die Zahl der Fahrzeuge hielt sich in Grenzen – jedenfalls sind Fotos davon eine Rarität und entsprechend überschaubar ist bislang meine „Selve“-Fotogalerie (mehr Material gibt es hier).

Anhand einiger Details wie der seitlich hinter der Motorhaube angebrachten elektrischen Parkleuchten und der kantig ausgeführten „Schulter“ der Karosserie entlang des Passagierraums würde ich diesen Selve auf Anfang der 1920er Jahre datieren.

Damals kamen nur zwei Modelle in Betracht, der 1,6 Liter-Typ (6/20 PS, später 6/24 PS) und der 2,1 Liter-Typ (8/30 PS, später 8/32 PS). Ich tendiere im vorliegenden Fall zu dem schwächeren Modell (siehe meine Selve-Galerie).

Ein ähnliches Fahrzeug dieses Typs zeigt das folgende Foto aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks, das für uns Vorkriegsfreunde ebenfalls in die Kategorie „Genug zum Glücklichsein“ fällt – denn wo sonst findet man denn so etwas Schönes?

Selve Tourenwagen (wohl 6/20 PS oder 6/24 PS; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Als an hunderten Aufnahmen geschulter Leser meines Blogs werden Sie zwar registrieren, dass die Kühlerpartie, die beiden Griffmulden in der Motorhaube, die Position der Standlichter und die zweigeteilte Frontscheibe übereinstimmen.

Doch die übrige Karosserie ist moderner (will heißen: schlichter) gestaltet. Das gilt vor allem für die erwähnte Schulterpartie, also den oberen Abschluss der Flanke, der hier weniger akzentuiert ausgeführt ist. Der Fahrer kann nun seinen Ellenbogen lässig auflegen.

Mir gefällt der Selve auf dem Foto von Peter Graß aber ebenfalls. Mit seiner Zweifarblackierung wird er in natura markanter gewirkt haben, als es ein Schwarz-Weiß-Foto vermitteln kann.

Hinzu kommt, dass dieser Wagen zum Aufnahmezeitpunkt schon etliche Kilometer auf meist schlechten Landstraßen hinter sich hatte. Das verraten nicht nur einige durch ehrliche Arbeit erworbene Blechverformungen, sondern auch, dass sein Fahrwerk überholt werden musste.

„Woher weiß er das denn jetzt?“, mag sich mancher fragen. Nun, ich bin zwar durchaus für die eine oder andere (mehr oder wenige) plausible Annahme zu haben, aber für eine steile These in Sachen Reparaturbedarf will auch ich Evidenz.

Damit kann ich heute aufwarten, denn Peter Graß hat mir eine zweite Aufnahme des Selve in digitaler Form übermittelt, die nicht nur die gewünschte Beweiskraft hat, sondern vollkommen das Motto „Genug zum Glücklichsein“ zum Ausdruck bringt:

Selve Tourenwagen (wohl 6/20 PS oder 6/24 PS); Originalfoto aus Familienbesitz (Peter Graß)

Kann man das Glück besser zum Ausdruck bringen, das ein Vorkriegsauto vermittelt?

Dieser Mann, der hier wohl ausgeschlagene Buchsen der Vorderrradaufhängung repariert (wer es besser weiß, möge das im Kommentarbereich verraten), ist bei seiner Arbeit ganz bei sich – selten habe ich jemanden so zufrieden und freundlich schauen sehen.

Das leichte Lächeln um die Mundwinkel – der klare, selbstbewusste Blick ins Objektiv – wunderbar. Einem so sympathischen Mann hätte ich jedes Auto abgekauft.

Dieses Foto wäre für sich genommen bereits „Genug zum Glücklichsein“ und jeder geplagten Seele als Zielbild zur Meditation zu empfehlen.

Glücklich machen konnten wir jedoch mit der Identifikation des Selve-Tourers vor allem Peter Graß, dem wir diese schönen Dokumente verdanken. Denn jetzt weiß er endlich, an was für einem Auto sein Vater Hans Graß einst arbeitete!

Der ist übrigens auch auf dem ersten Foto des Selve ganz links zu sehen – dort im feinen Anzug mit Krawatte posierend. Dabei war es gar nicht sein Auto, das er einst reparierte – wem es wirklich gehörte, wissen wir leider nicht.

Aber wenn wir heute etwas gelernt haben, dann ist es die Botschaft aus einer längst vergangenen Welt: „Genug zum Glücklichsein“, das liegt vor allem in einem selbst.

Das alte Blech von annodazumal ist dann eine willkommene Zutat, aber in der genüsslichen Betrachtung liegt ebenso tiefe Zufriedenheit wie im Besitz, meine ich.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Fund des Monats: Ein Selve „Selecta“

Heute habe ich das Vergnügen, einen der im wahrsten Sinne „großen“ Unbekannten der deutschen Vorkriegs-Automobilgeschichte präsentieren zu können.

Er stammt von einer Marke, die für sich bereits zu den Exoten zählen dürfte – Selve. Sie war gewissermaßen ein Nebenprodukt der Motorenfertigung des Maschinenbaukonzerns Basse & Selve aus Altena in Westfalen.

Hier eine Originalreklame von Anfang 1918, die das Können der Firma unterstreicht, denn Flugmotoren für militärische Zwecke erforderten höchste Standards, was Materialeinsatz und Fertigungstoleranzen anbelangt:

Selve-Reklame aus „Motor“, Anfang 1918; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Nach Ende des 1. Weltkriegs musste die Flugmotorenproduktion aufgegeben werden. Firmenchef Walther von Selve ergriff 1919 die Gelegenheit zum Kauf der Norddeutschen Automobilwerke (NAW) in Hameln, wo zuletzt das damals recht bekannte Modell „Sperber“ gefertigt worden war.

Die eigene Automobilproduktion bot für Basse & Selve die Möglichkeit, sich nun auf PKW-Motoren zu verlegen – den Anfang machten zwei Vierzylinder-Modelle mit 24 bzw. 32 PS. Das eine oder andere Exemplar davon ist in meiner Selve-Galerie zu sehen.

Damit trat Selve auch in der Werbung erstmals als Automarke in Erscheinung:

Selve-Reklame vom Anfang der 1920er Jahre; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Ab 1925 bot man unter der Marke Selve erstmals einen Sechszylinder an – den Typ 11/45 PS, welcher ein Spitzentempo von 100 km/h ermöglichte – damals ein beachtlicher Wert.

Dieses Modell wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Aufbohren des Motorblocks von 2,9 auf 3,1 Liter und leichte Erhöhung der Verdichtung bewirkten ab 1927 eine Steigerung der Spitzenleistung auf 50 PS – beim Ventiltrieb hielt man an der Seitensteuerung fest.

Der Selve 12/50 PS scheint danach zwar motorenseitig unverändert geblieben zu sein, doch nach einigen Quellen erhielt er 1928 eine hydraulische Vierradbremse nach Lockheed-Patent – nur ein Jahr nach dem Adler Standard 6.

Jedenfalls findet sich diese Angabe im Standardwerk „Autos in Deutschland 1920-1939“ von Altmeister Heinrich von Fersen, welches zwar fehler- und lückenhaft ist, aber immer wieder auch Details offenbart, die sich andernorts nicht finden.

Dort ist auch das einzige mir bislang bekannte Foto des Selve mit hydraulischer Vierradbremse zu finden, der den Namenszusatz „Selecta“ trug. In der neueren Literatur (Werner Oswald, Deutsche Autos 1920-45, Ausgabe 2019) findet sich weder der Hinweis auf die Hydraulikbremse noch eine Abbildung des Selve „Selecta“.

Vermutlich gehören Originalaufnahmen dieses letzten (bis 1929) gebauten Selve-Automobils zu den ganz großen Raritäten – umso mehr dürfte die Freunde solcher Exoten diese exzellente Aufnahme (aus der Sammlung von Leser Klaas Dierks) elektrisieren:

Selve „Selecta“; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Eine hervorragendes Dokument wie dieses wünscht man sich von unzähligen anderen „Unbekannten“ jener Zeit – es gibt sie, sie schlummern bloß meist in ängstlich verborgenen Sammlungen, ohne dass jemand davon erfährt.

Hier haben wir die komfortable Situation, dass die Aufnahmeperspektive den Wagen das Kühleremblem und gleichzeitig die gesamte Gestaltung des Aufbaus erkennen lässt – mit Ausnahme der bei den damaligen Autos unerheblichen Heckpartie.

Die Krönung ist freilich der Schriftzug auf dem Kühlergrill: „Selve Selecta“ steht dort, mehr Klarheit kann man sich nicht wünschen.

Für die Freunde des Adler Standard 6 ist dieser großartige Fund ein schwerer Schlag, denn der praktisch zeitgleiche Selve Selecta illustriert, dass der Adler keineswegs so einzigartig in der deutschen Automobillandschaft war, wie das bisweilen dargestellt wird.

Die Frankfurter Adlerwerke hatten jedoch bei ihrem Versuch, den damals in Deutschland dominierenden US-Sechzylinderwagen eine formal ebenbürtige Konkurrenz entgegenzusetzen, in einer Hinsicht die Nase vorn: er war viel „billiger“ als der Selve.

Kolossale 11.500 Reichsmark wurden 1929 für den Selve Selecta verlangt. Das waren rund 5.000 Mark mehr als für den Adler Standard 6 zu berappen waren. Betriebswirtschaftlich war die Modellpolitik von Selve ebenso irrational wie die vieler anderer deutscher Hersteller.

Aber wie sagte einst Richard Wagner: „Deutschsein heißt, eine Sache um ihrer selbst zu tun“. Was aus Idealismus an Großartigem entstehen kann, aber auch an Verstiegenem bis Entsetzlichem, dafür finden sich in unserer Geschichte hinlänglich Beispiele.

Zu den für uns Nachgeborene erbaulichen Produkten dieser „Against all odds“-Mentalität gehört zweifellos dieses Prachtexemplar eines in Berlin zugelassenen Selva „Selecta“, das in fotografisch konservierter Form seinesgleichen suchen dürfte:

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Nicht ganz „der Selbe“: Selve 8/32 PS Tourer

Mein heutiger Blog-Eintrag schließt in gewisser Weise an die kürzliche Besprechung eines NAW „Colibri“ an. Denn der Ort, an dem das Automobil entstand, um das es geht, war derselbe – Hameln in Niedersachsen.

Doch weder der Hersteller noch der Wagen waren „der Selbe“ – es war vielmehr ein Selve. So lautete nämlich der Name, unter dem im alten NAW-Werk in Hameln nach dem 1. Weltkrieg wieder Autos gebaut wurden, nun von den Selve Automobilwerken.

Ihr Gründer – Walter Selve (1876-1948) – sah dort die Möglichkeit, neben dem väterlicherseits aufgebauten Konzern „Basse & Selve“ aus Altena nun auch Autos zu bauen, und das mit selbst entwickelten Motoren!

Das erforderliche Können war bei Basse & Selve durchaus vorhanden, denn im 1. Weltkrieg hatte man Hochleistungsaggregate für die deutsche Luftwaffe gebaut:

Reklame von Basse & Selve aus dem 1. Weltkrieg; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die übrige Automobilbau-Kompetenz holte man sich in Gestalt von Ernst Lehmann, dem früheren Chefkonstrukteur bei Metallurgique in Belgien (und davor Ingenieur bei Daimler).

Selve-Wagen genossen recht bald einen guten Ruf, wozu auch Sporterfolge beitrugen. In welchen Stückzahlen sie allerdings gebaut wurden, gehört zu den zahllosen Mysterien, die deutsche Autohersteller der zweiten und dritten Reihe umwittern.

Aus meiner bisherigen, recht dürftigen Ausbeute an historischen Fotos von Selve-Wagen schließe ich, dass es bestenfalls eine niedrige vierstellige Zahl war.

Das zumindest von der Karosserie früheste Selve-Auto ist mir auf dieser Aufnahme begegnet, die aus dem Firmenarchiv der Werkzeugfirma Hazet stammt und die ich einst zur Bestimmung des Wagens darauf zugesandt bekommen habe:

Selve 8/20 PS bzw. 8/24 PS; Originalfoto aus dem Archiv der Hazet-Werk GmbH & Co. KG

Neben diesem frühen 8/20 PS- bzw. 8/24 PS-Typ (1,6 Liter Hubraum) gab es Anfang der 1920er Jahre auch ein geringfügig größeres Modell, das bis 1925 im Programm blieb: den Selve 8/30 PS (später 8/32 PS) mit 2,1 Liter-Aggregat.

Mangels eindeutig bezeichneten Fotomaterials fällt es schwer, die Motorisierungsvarianten auseinanderzuhalten. Jedenfalls verfügten sie beide über einen Spitzkühler, der dem des Presto Typ 9/30 PS sehr ähnlich sah, zumindest von der Seite.

Von vorn ist ein Selve jedoch an dem weiter oben angebrachten und flacher liegenden Markenemblem zu erkennen – selbst bei unscharfen Aufnahmen wie hier:

Selve 8/32 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Selve verfügt über eine modernere Karosserie ohne den eckigen Verdeckkasten am Heck und vorn eleganter auslaufende Kotflügel.

Demnach könnte es sich um das kurz nach dem Typ 6/20 bzw. 6/24 gebaute Modell 8/30 bzw. 8/32 handeln. Sicher ist das natürlich nicht, da auch der schwächere Typ bis Produktionsende 1923 einen solchen modernisierten Aufbau erhalten haben kann.

Ein Unterscheidungsmerkmal behalten wir aber im Hinterkopf, und das sind die seitlich direkt hinter dem Ende der Motorhaube angebrachten Positionsleuchten – meiner Einschätzung nach ein weiteres Indiz für eine eher späte Entstehung.

Da obiger Selve noch keine Vorderradbremse besitzt, können wir den noch größeren, ab 1926 gebauten Typ 11/45 PS ausschließen (die Datierung des Selve in der Neuauflage des „Oswald“ – Deutsche Autos 1920-45 – auf S. 501, ist wahrscheinlich falsch).

Immerhin erlauben die wenigen Vergleichsfotos von Selve-Wagen der ersten Hälfte der 1920er Jahre eine klare Identifikation auch dieses schönen Tourers:

Selve 8/30 bzw. 8/32 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese hervorragende Aufnahme verdanke ich einmal mehr Leser Klaas Dierks, der zusammen mit Matthias Schmidt (Dresden) und Marcus Bengsch zahlreiche wichtige Beiträge zum Gedeihen meiner stetig wachsenden Bildergalerien geleistet hat.

Die eigenwillige Form der Luftschlitze und der aus fünf (unleserlichen) Großbuchstaben bestehende Firmenname auf dem vorderen Nabendeckel schien zunächst in Richtung „Freia“ zu deuten (eine noch geheimnisvollere deutsche Marke).

Der Spitzkühler mit dem typisch platzierten Emblem, die charakteristische Anbringung der Positionsleuchten, die Wartungsklappe unterhalb des außenliegenden Handbremshebels sowie die flache, gepfeilte Frontscheibe sprechen aber klar für einen Selve.

Auch die im oberen Teil der Haubenseiten befindlichen Griffmulden finden sich bei genauem Hinschauen bei Selve-Wagen – nicht bei allen, aber offenbar beim Typ 8/30 bzw. 8/32 PS:

Interessant wäre zu erfahren, ob die pfeilfömig in das Blech gepressten Entlüftungsschlitze in der Haube auf einen speziellen Karosseriehersteller hindeuten.

Davon abgesehen scheint dieser Aufbau nämlich vollkommen denen des Darmstädter Manufaktur Autenrieth zu entsprechen, die sich in der dünnen Literatur zu Selve finden.

Der mutmaßliche Besitzer des Selve – hier lässig mit Spitzbart, Fliege, Nickelbrille und Ballonmütze posierend – hätte es uns natürlich verraten können.

Und zur Motorisierung hätte natürlich der Fahrer erschöpfend Auskunft geben können, der frisch rasiert am Steuer Platz genommen hat, um die Reisegesellschaft mit übererfüllter Frauenquote souverän und sicher ans Ziel zu bringen:

Es muss ein warmer Frühlings- oder Sommertag gewesen sein, sonst hätten die Damen den Hals mit Schals oder Tüchern vor dem kühlen Fahrtwind geschützt und Reisemäntel getragen.

In der letzten Reihe dürfte noch ein Platz freigewesen sein – eventuell reserviert für die Person, die dieses schöne Dokument vor rund 95 Jahren angefertigt hat. Gern wüsste man, wer das gewesen ist.

Doch kann man sich auch posthum bedanken, denn ein Selve, der sich im Detail als nicht ganz „das Selbe“ entpuppt wie die bisherigen Aufnahmen von Tourern dieser Marke, ist ein außergewöhnlicher Fund.

Dann noch ein vollbesetzter Tourer bei Sonnenschein, was will man mehr? So etwas ist nie ganz das „Selbe“ – das gilt erst recht für einen Selve…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Keine typische Studentenkiste: Ein Selve Tourer

Auf Fotos der Nachkriegszeit findet man öfters Automobile der 1920/30er Jahre, die – in die Jahre gekommen und geringgeschätzt – für allerlei Schabernack herhalten mussten.

Als Beispiel dafür mag diese Aufnahme dienen, die wahrscheinlich einen Benz 8/20 PS der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg zeigt, der entweder beim Karneval oder einem Studentenulk zum Einsatz kam:

Benz Tourenwagen (wohl Typ 8/20 PS); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Für die Studententhese könnte der angeklebte Rauschebart eines der Insassen sprechen – entweder eine Anspielung auf einen Professor oder den an deutschen Universitäten von Kommunisten bis heute verehrten Spinner, Schnorrer, Ehebrecher und Misanthropen Karl Marx.

Wie dem auch sei, die Stimmung auf dieser Aufnahme ist ziemlich ausgelassen, wobei sich die beiden Herren im kurzen Kleidchen ausgesprochen wohl zu fühlen scheinen…

Vielleicht zwanzig Jahre älter mag die folgende Aufnahme sein, die einen mit Studenten vollbesetzten Tourenwagen zeigt – die zwar ebenfalls (überwiegend) gut aufgelegt sind, aber dennoch die guten Sitten zu wahren wissen – zudem ist kein Frauensvolk anwesend:

Selve Tourenwagen, vermutlich Typ 8/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Tourenwagen war mit Sicherheit kein billiger Untersatz für irgendeinen Studentenulk. Typisch für seine Zeit war er zwar schon, aber er blieb doch eine ziemliche Rarität, wie wir noch sehen werden.

Anfänglich hielt ich dieses Auto mit seinem ausgeprägten Spitzkühler und den sechs Luftschlitzen in der Haube für einen D-Typen mit 9/30 PS Motorisierung, der in der ersten Hälfte der 1920er Jahre von Presto in Chemnitz in größerer Zahl gebaut wurde.

Hier zum Vergleich ein solcher Presto Typ D auf einem Foto von Leser Klaas Dierks:

Presto Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auf den ersten Blick ist die Ähnlichkeit in der Tat recht groß. Der zweite Blick offenbart dann aber doch eine ganze Reihe Unterschiede:

Beim Presto weist die Kühlermaske auf der Innenseite eine ausgeprägte Sicke auf, die sechs Luftschlitze sitzen weiter hinten und statt fünf Radbolzen sind deren sechs zu sehen. Vor allem aber besitzt der D-Typ von Presto praktisch immer sehr markant ausgeführte, vorn spitz zulaufende Vorderkotflügel, und die beiden vorderen Rahmenenden sind mit einem Blech verbunden.

All‘ das fehlt dem Wagen auf dem Bild mit den wackeren Studenten, was auf einem zweiten Foto desselben Wagens noch deutlicher wird:

Selve Tourenwagen, vermutlich 8/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sind die jungen Herren schon deutlich wagemutiger, doch die untergelegte Decke zum Schutz der Motorhaube verrät, dass das keine heruntergerittene Studentenkiste war.

Vermutlich hatte sich einer der Burschen das Auto von seinem alten Herrn ausgeliehen oder einer Freundin aus begütertem Hause ausgespannt – leider wissen wir nichts über Ort, Jahr oder Anlass der Aufnahme.

So bleibt uns als Studienobjekt nur das Auto und das Wissen, dass es sich – trotz der großen Ähnlichkeit – um keinen Presto handeln kann. Aber was ist es dann?

Nun, den Schlüssel zur Lösung liefert bei allen technischen Mängeln ein Detail der Kühlerpartie auf dem zweiten Foto:

Hier sieht man nicht nur die erwähnte Decke zur Schonung des Lacks der Motorhaube, sondern auch, dass auf der Spitze der Kühlermaske ein großes, schrägliegendes Emblem angebracht ist.

Beim Presto D-Typ war das Emblem deutlich kleiner und stärker nach vorn geneigt, wie folgende Ausschnittsvergrößerung einer weiteren (noch unveröffentlichten) Aufnahme aus meinem Fundus mit wünschenswerter Deutlichkeit erkennen lässt:

Das reizvolle Komplettfoto dieses Wagens stelle ich gelegentlich ebenfalls vor – zusammen mit einer unkonventionellen Ausführung des Presto Typs D 9/30 PS.

Nun aber zur Auflösung welcher deutsche Tourenwagen besaß die erwähnten Details an der Frontpartie, die sich von denen des Presto D-Typs unterscheiden?

Die Antwort findet sich auf einer Aufnahme, die ich mit freundlicher Genehmigung der Werkzeugfirma Hazet zeigen darf, denn sie stammt aus deren Firmenarchiv.

Ich hatte einst das Vergnügen, eine ganze Reihe von Autos auf Fotos aus dem Hazet-Firmengeschichte zu identifizieren, darunter dieses:

Selve Typ 6/20 PS oder 6/24 PS; Originalfoto aus dem Archiv der Hazet GmbH & Co. KG

Auf dieser Aufnahme, die wahrscheinlich einen Typ 6/20 PS oder 6/24 PS zeigt, der Anfang der 1920er Jahre vom Selve-Werk in Hameln gebaut wurde, erkennt man das oben erwähnte, beinahe flach auf dem Kühlervorderteil liegende große Markenemblem.

Im Unterschied zu unserem „Studienobjekt“ besitzt dieser Selve nur vier statt sechs Luftschlitze in der Motorhaube. Das lässt bei aller Ähnlichkeit der übrigen Vorderpartie vermuten, dass die Studenten den parallel verfügbaren deutlich stärkeren Typ 8/30 PS (später: 8/32 PS) für ihre Zwecke „besetzt“ hatten.

Dabei handelte es sich um einen Zweiliterwagen, der 90 statt nur 70 kmh erreichte und merklich länger war als das 1,6 Liter-Modell. Beide besaßen übrigens bereits Innenschaltung, Anfang der 1920er Jahre keineswegs selbstverständlich.

Woher beziehe ich dieses Wissen? Nun, da muss ich sagen, dass das mir zugängliche Material zu den Selve-Wagen, die nur zwischen 1919 und 1929 gebaut wurden, ziemlich dünn und womöglich auch nicht sonderlich zuverlässig ist.

Da mir inzwischen weitere zeitgenössische Aufnahmen von Selve-Wagen zur Bestimmung vorliegen, bei denen mir eine zuverlässige Ansprache ebenfalls schwerfällt, bin ich für alle Hinweise auf Fotos oder Dokumente gesichert datierter und identifizierter Wagen dieser interessanten Nischenmarke dankbar (siehe Kommentarfunktion).

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Lang ist’s her: Endlich wieder ein Selve Tourenwagen

Lang ist’s her, dass ich in meinem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos einen Wagen der heute kaum noch bekannten deutschen Marke Selve zeigen konnte.

Im November 2017 durfte ich folgendes Foto aus dem Werksarchiv der Werkzeugfirma HAZET ausführlich besprechen (hier):

Selve 8/20 oder 8/24 PS; Originalfoto aus Werksarchiv der Hazet Gmbh & Co. KG

Den mächtigen Tourenwagen konnte ich als ein frühes Exemplar aus der 1919 gestarteten Automobilproduktion des Selve-Konzerns identifizieren.

Zur Historie der Marke Selve gehört die Flugmotorenproduktion von Basse & Selve im westfälischen Altena während des Ersten Weltkriegs.

Hier haben wir eine Originalreklame aus meiner Sammlung, die aus Heft Januar/Februar 1918 der Zeitschrift „Motor“ stammt:

Basse & Selve Flugmotor, Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Keine 12 Monate nach Erscheinen dieser Anzeige war der 1. Weltkrieg vorbei und wie viele andere Rüstungsfabrikanten im In- und Ausland musste sich auch der Selve-Konzern nach einer neuen Verwendung der Kapazitäten im Motorenbau umsehen.

Man entschied sich für den Kauf von NAW in Hameln, wo einst die „Sperber“-Automobile gebaut worden waren. Dort fand man eine Kompetenz im Fahrzeugbau vor, die durch die Motorenfabrikation von Basse & Selve ideal ergänzt wurde.

So entstanden ab 1919 in Hameln in den neugegründeten Selve-Automobilwerken Wagen, die mit hauseigenen Vierzylinderaggregaten ausgestattet waren, die anfänglich bei Hubräumen von 1,6 bis 2,1 Litern zwischen 20 und 32 PS leisteten.

Welcher Motor genau unter der Haube verbaut war, sah man vielen Autos jener Zeit von außen nicht an. Das gilt auch für den Selve, den ich heute vorstellen will:

Selve Tourenwagen Typ 6/20 oder 6/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Identifikation als Selve ist anhand der Position der ovalen Markenplakette auf dem Spitzkühler möglich. 

Einige Details wie die abweichende Ausführung der Vorderschutzbleche und die schlichte Ausführung des Tourenwagenaufbaus ohne hinten angesetzten Verdeckkasten sprechen tendenziell dafür, dass es sich bei dem Selve nicht mehr um eines der frühen Nachkriegsmodelle handelt.

Gleichzeitig deutet das Fehlen von Vorderradbremsen auf eine Entstehung  vor 1925 hin. Damit kommen zwei äußerlich ähnlich Selve-Typen in Betracht, das Modell 6/24 PS mit 1,6 Liter Hubraum und das größere und länger gebaute Modell 8/32 PS.

Mangels Vergleichsfotos oder sonstiger Abbildungen in der dünnen Literatur zu der bis 1929 aktiven Marke erscheint eine genauere Ansprache des Selve vorerst nicht möglich.

Das ist aber hinnehmbar, denn die Erfahrung zeigt, dass sich früher oder später neue Belegaufnahmen finden oder Markenkenner weiterführende Hinweise geben.

Darin liegt einer der Vorteile des Blog-Formats – neue Erkenntnisse kann ich in bisherige Artikel und die Markengalerien einfließen lassen oder auch neue Einträge verfassen.

Ebenso lassen sich Fehleinschätzungen korrigieren – ein Beispiel dafür wird übrigens Gegenstand des nächsten „Fund des Monats“ sein…

Unterdessen begnügen wir uns mit der nicht nur für die raren und reizvollen Selve-Autos geltenden Erkenntnis „Lang ist’s her“, hier vorgetragen von Zarah Leander:

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Fund des Monats: „Selve“ Tourenwagen um 1920

Wenn man einen Oldtimerblog für Vorkriegsautos betreibt und sich dabei auf historische Originalfotos stützt, braucht man dreierlei: Geduld, Gespür und Glück.

Geduld, um sich einen Überblick über die Markenvielfalt der Vorkriegszeit zu erarbeiten – Gespür, um anhand kleiner Details in die richtige Richtung recherchieren zu können – Glück, um auf seltene Exemplare zu stoßen.

Beim heutigen Fund des Monats kommt alles zusammen:

Selve Tourenwagen; Originalaufnahme aus dem HAZET-Firmenarchiv

Dieses auf den ersten Blick traurige Überbleibsel einer Glasfotoplatte erhielt der Verfasser von Philipp Nusch, der bei der renommierten Werkzeugfirma Hazet arbeitet, mit der Bitte um Identifikation des abgebildeten Wagens.

Die Aufnahme ist eine von zahlreichen weiteren aus dem Firmenarchiv, aber mit Abstand die faszinierendste. Denn hier haben wir etwas ganz Rares vor uns – einen Tourenwagen der norddeutschen Marke Selve.

Bevor wir uns an die Herleitung machen, einiges Wissenswertes über diese bis 1929 existierende Manufaktur von Qualitätswagen.

Die Automarke Selve wurde vom Ingenieur Walter von Selve gegründet, der zu den Pionieren der Verwendung von Aluminium im Motorenbau gehörte.

Seine in Altena angesiedelte Firma Basse & Selve fertigte im 1. Weltkrieg unter anderem Flugmotoren, was als Qualitätsausweis gelten darf.

Doch auch Einbaumotoren für PKW stellte man mit einigem Erfolg her, die in Autos von Marken wie Beckmann, Körting und Mannesmann montiert wurden. Ein Kapitel, von dem die meisten Oldtimerfreunde wohl noch nichts gehört haben.

1919 (nach manchen Quellen 1917) kaufte Walter von Selve die „Norddeutschen Automobilwerke“ (NAW) in Hameln, die vor dem 1. Weltkrieg Modelle wie den „Colibri“ oder den „Sperber“ gefertigt hatten.

Einen dieser raren Vögel haben wir bereits vor längerer Zeit hier vorgestellt:

NAW „Sperber“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Technisch und formal hatten die ab 1919 im ehemaligen NAW-Werk in Hameln gebauten Selve-Wagen mit den Vorkriegsmodellen zwar nichts gemeinsam.

Doch fanden die Selve Automobilwerke bei NAW eine Kompetenz im Fahrzeugbau vor, die durch die Motorenfabrikation von Basse & Selve ideal ergänzt wurde.

So entstanden ab 1919 Selve-Wagen, die anfänglich mit Vierzylinderaggregaten ausgestattet waren, die bei Hubräumen von 1,6 bis 2,1 Litern zwischen 20 und 32 PS leisteten.

Welcher Motor unter der Haube verbaut war, sah man vielen Autos jener Zeit von außen nicht an – das gilt auch für „unseren“ Selve, den wir nach einiger Fleißarbeit hier wieder in seiner ursprünglichen Pracht sehen:

Ja gut, mag man nun sagen – ein Tourenwagen mit dem damals in Deutschland immer noch verbreiteten tulpenförmigen Aufbau und Spitzkühler – das kann alles Mögliche sein.

Sicher, Anfang der 1920er Jahre gab es hierzulande dutzende Autohersteller, von denen die meisten längst vergessen sind, die ähnliche Wagen bauten. Doch einen Selve erkennt man an Details seiner Frontpartie:

Der Junge im Matrosenanzug, der uns die Zunge herausstreckt, wird uns nicht vom genauen Studium dieses Bildausschnitts abhalten.

Auf zwei Dinge kommt es hier an: Erstens trägt der Wagen ein schräg auf der Kühlermaske angebrachtes ovales Herstelleremblem, auf dem in der Mitte eine Art Wappen zu erahnen ist. Zweitens ist die Quertraverse zwischen den beiden Rahmenauslegern auffallend abgetreppt.

Das findet sich genauso auf folgendem Ausschnitt eines Fotos wieder, das eindeutig einen Selve der frühen 1920er Jahre zeigt:

Selve; Fotoquelle Wikimedia

Hier kann man sogar den Markennamen auf dem Kühleremblem lesen. Übrigens zeichnet sich auf dem Ausgangsfoto auf der Nabenkappe des rechten Vorderrads ebenfalls der Schriftzug der Marke ab.

Auch die vier im hinteren Teil der Motorhaube angebrachten Luftschlitze und die V-förmige Windschutzscheibe finden sich bei den wenigen überlieferten Abbildungen von Selve-Wagen um 1920 wieder.

Die Identifikation des Autos als Selve ist eindeutig, vieles spricht für ein frühes Exemplar, also ein 6/20 oder 6/24 Modell:

Der fast waagerecht auslaufende Hinterkotflügel ist ein Überbleibsel der Zeit vor dem 1. Weltkrieg – solche schwungvollen Elemente wichen in den 1920er Jahren rasch nüchterner Sachlichkeit.

Die außenliegende Handbremse ist ein weiteres Detail, das nach dem 1. Weltkrieg bald verschwand ebenso wie die handbetriebene Ballhupe neben dem Fahrer.

Nach Lage der Dinge kann man diesen Selve als frühes Nachkriegsmodell ansprechen. Interessanterweise hat ein beinahe identisches Auto in Schweden überlebt, von dem im Netz leider nur unscharfe Aufnahmen verfügbar sind:

Selve 6/24 PS; Bildquelle: DEWEZET

Die Feststellung in Werner Oswalds Standardwerk „Deutsche Autos 1920-1945“, wonach der schwedische Selve vermutlich der einzige noch erhaltene Wagen der Marke sei, ist zum Glück überholt.

Im Hamelner Automuseum befindet sich ein weiteres Auto des einst angesehenen norddeutschen Herstellers, das die Zeiten als Feuerwehrwagen überdauert hat:

Selve 8/32 PS von 1921; Bildrechte Helmut Möller

Mehr lässt sich zu dem Foto des Selve-Tourenwagens vorerst nicht sagen. Ergänzende Informationen sachkundiger Leser sind daher willkommen und werden in diesen Blogeintrag aufgenommen.

Einstweilen sei der Firma Hazet für die Genehmigung gedankt, dieses äußerst seltene Foto eines frühen Selve aus ihrem Firmenarchiv zeigen zu dürfen.

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Vor 100 Jahren: NAW „Sperber“ – ein Auto aus Hameln

Leser dieses Blogs dürfen neben Bildberichten über klassische Vorkriegswagen heute noch bekannter oder existierenderer Marken auch Porträts von Exoten aus aller Welt erwarten. Für den Individualisten sind solche ultrararen Veteranen das Salz in der Suppe.

Das können französische Wagen von Bellanger-Frères, britische Fahrzeuge von Crossley oder auch belgische Autos von Metallurgique sein. Doch auch am deutschen Markt buhlten einst zahllose Hersteller mehr oder weniger erfolgreich um die Gunst der Käufer.

Als Beispiel sei die Berliner Automarke NAG genannt, deren großzügige und hochwertige Wagen hier bereits öfters besprochen wurden. Heute geht es um den ähnlich klingenden Hersteller NAW aus dem niedersächsischen Hameln.

NAW war der Markenname der Norddeutschen Automobil-Werke, die von 1907-1919 eine kurze Blütezeit erlebten. Es  gibt nur wenige überlebende Fahrzeuge dieser einst international angesehenen Marke und ein historisches Originalfoto ist ebenso rar.

Selbst in Halwart Schraders Standardwerk „Deutsche Autos 1885-1920“ findet sich im gesamten fünfseitigen Bericht über NAW kein einziges historisches Foto eines Autos der Marke. Von daher ist folgender alter Abzug ein großartiger Fund:

© NAW „Sperber“ Tourenwagen, 1911-19; Foto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Anbieter dieses Fotos wusste, was er da hat und lieferte eine präzise Beschreibung. Ein früherer Besitzer hatte auf der Rückseite Marke, Typ und technische Details vermerkt.

Dass sich sonst niemand für die Abbildung interessierte, sodass diese für einen lächerlichen Preis zu erwerben war, kündet von der Ignoranz der hiesigen Klassikerszene gegenüber wirklich raren Autos der Frühzeit.  

Schauen wir uns den Wagen einmal näher an:

Auf der Kühlermaske ist in erhabenen Lettern der Schriftzug „SPERBER“ zu lesen. Das war das ab 1911 gebaute Modell von NAW, das mit einem 1300 bzw. 1600 ccm großen Vierzylindermotor gebaut wurde.

Es handelte sich damit hubraummäßig um einen Kleinwagen, der mit 15-20 PS damals jedoch als ausreichend motorisiert galt. Äußerlich machten die Autos von NAW einen erwachsenen Eindruck, was von der guten Verarbeitung unterstützt wurde.

Noch vor Kriegsbeginn 1914 erhielt der NAW Sperber ein 4-Gang-Getriebe, was bis in die 1930er Jahre keine Selbstverständlichkeit sein sollte.

Unser Foto dürfte noch vor dem 1. Weltkrieg aufgenommen worden sein. Darauf weist weniger die Tourenwagenkarosserie hin, die bei vielen Herstellern noch bis in die 1920 üblich bleiben sollte. Den entscheidenden Hinweis gibt der Hut der ernst schauenden Mitfahrerin auf dem Rücksitz:

So ausladende Kopfbedeckungen waren mit dem Ende der Kaiserzeit 1918 passé. Im vorliegenden Fall handelt es sich zudem um ein wenig geschmackvolles Beispiel. Wie elegant die Hutmode jener Zeit sein konnte, zeigt der Vergleich mit dem Foto einer jungen Dame, die sich seinerzeit vor einem Albatros-Flugzeug ablichten ließ.

Zum Schicksal der Marke NAW sei angemerkt, dass das Hamelner Werk 1917 von der Firma Selve übernommen wurde, die dort von 1920-29 grundsolide Wagen unter eigenem Namen fertigte. Wer sich näher für die einstige Automobilproduktion in Hameln interessiert, sei auf diesen Überblick verwiesen.