Gefährte(n) mit eigenem Charakter: Amilcar Typ G bzw. L

Die Marke Amilcar, die zu den wenigen in Frankeich gehörte, die erst nach dem 1. Weltkrieg entstanden, wird von Vorkriegsenthusiasten vor allem für ihre sportlichen Zweisitzer geschätzt.

Anfänglich waren das leichte Cyclecars wie der Typ CC, den wir hier wohl auf einer Aufnahme der frühen Nachkriegszeit sehen, als das Auto schon gut ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel hatte:

Amilcar Type CC ab 1921; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die typischen langgestreckten Vorderkotflügel fehlen hier – sie scheinen irgendwann über die Jahre durch solche ersetzt worden zu sein, die besser vor Verschmutzung des Wagens schützten.

Boten diese ersten Amilcars noch keine eindrucksvollen Leistungen, sollte sich das mit den Nachfolgern ändern.

Einen großen Schritt in Richtung Sportwagen stellte das 1923 eingeführte Modell CGS dar, der aus 1,1 Liter Hubraum 33 PS gewann. Damit waren bereits 115 km/h Spitze möglich. Hier haben wir einen Amilcar dieses Typs im Sporteinsatz, wohl in Deutschland:

Amilcar Typ CGS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Während der Typ CGS auch vom Werk bei Rennen eingesetzt wurde, wurde die ab 1926 angebotene Version CGSS nur noch Privatfahrern angeboten – Amilcar trat inzwischen mit dem enorm starken Sechszylindermodell C6 an, der einer ganz anderen Liga spielte.

Der Amilcar Typ CGSS war noch etwas sportlicher abgestimmt als der CGS – und vor allem bekam er ein ziemlich beindruckendes, bulliges Äußeres, das sich unter anderem durch eine stromlinienförmige Windkappe direkt vor dem Fahrerabteil auszeichnete.

Der Wagen verkaufte sich auch in Deutschland, wie beispielsweise dieses großartige Foto eines im Raum Berlin zugelassenen Amilcar Typ CGSS belegt:

Amilcar Typ CGSS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der enorme Charakter dieses Sportwagens sorgte noch etliche Jahre später für nachvollziehbare Begeisterung, wie wir gleich sehen werden.

Auf dem folgenden Foto bekommt mit einem Mal auch das Motto meines heutigen Blogeintrags „Gefährte(n) mit eigenem Charakter“ seinen Sinn.

Betrachten wir zunächst einen Ausschnitt, auf dem die erwähnte charakteristische Windkappe zu sehen ist, die verrät, dass wir es sehr wahscheinlich abermals mit einem Amilcar des Typs CGSS zu tun haben:

Ist das nicht ein bezauberndes Dokument? Man könnte es auch mit „Zwischen gestern und morgen“ betiteln.

Denn zum Zeitpunkt der Aufnahme im Jahr 1935 gehörte der Amilcar zumindest technisch schon zum alten Eisen, während der nagelneue Fiat 1500 rechts im Bild für die automobile Moderne stand (Vergleichsfoto von hinten hier).

Der Junge, der hier stolz vor dem Amilcar posiert, besaß ganz offensichtlich Geschmack und sein Erscheinungsbild verrät, dass er aus „besseren“ Verhältnissen stammte, wo man vielleicht selbst bereits ein Automobil besaß und sich für edle Gefährte begeisterte.

Doch war der Bub seinerzeit nicht allein mit seinem klaren Votum zugunsten des Amilcar. Er hatte nämlich einen Gefährten – vielleicht aus der Familie , vielleicht ein Freund aus der Nachbarschaft – jedenfalls ein Typ mit wiederum ganz eigenem Charakter:

Amilcar Typ CGSS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

„Werner und Gerhard“ steht von alter Hand auf der Rückseite des Abzugs. Man kann sich den kleinen Werner bereits gut als dicken zigarrerauchenden Unternehmer im Deutschland der Nachkriegszeit vorstellen, während man Gerhard glatt eine spätere Karriere als Frauenheld zutraut.

Allerdings stand diesen beiden hier so herrlich unbeschwerten Charakteren wie der gesamten jungen Generation noch der Zweite Weltkrieg bevor – was aus ihnen und dem Amilcar wurde, wissen wir nicht.

Bleiben wir noch ein wenig beim Thema „Gefährte mit eigenem Charakter“. Denn selbst vielen Amilcar-Freunden ist nur am Rande bekannt, dass es neben den sportlichen Modellen auch konventionelle Tourer und Limousinen dieser Marke gab.

Sind diese nicht gerade von vorne wiedergegeben, ist es alles andere als leicht, sie überhaupt als Amilcar zu identifizieren – geschweige denn, den genauen Typ zu bestimmen.

Genau solch einen Fall kann ich heute präsentieren:

Amilcar Typ G oder L; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hand auf’s Herz: Wer wäre auf Anhieb in der Lage, auch nur den Hersteller dieses Tourenwagens zu nennen?

So fiel auch mir zunächst wenig dazu ein. Doch kann man anhand einiger Elemente den Kandidaten Stück für Stück einkreisen.

Die Vorderradbremsen verraten schon einmal, dass dieser formal wenig einfallsreiche Tourer ab etwa 1925 entstanden ist. Die filigranen Drahtspeichenräder lassen zumindest einen gewissen sportlichen Charakter vermuten.

Bei deutschen Fabrikaten blieben Drahtspeichenräder in den 1920er Jahren die Ausnahme – nur bei den zahlreichen Kleinstwagen, mit denen viele Hersteller nach dem Ersten Weltkrieg ihr Glück versuchten, waren sie verbreitet.

Doch dieses Automobil wirkt eine Spur zu groß, um in diese Kategorie zu fallen. Vor allem aber deutet die nach vorne abfallende Oberseite des Kühlergehäuses auf ein französisches Fabrikat hin – nur so kam ich darauf, mein Glück bei Amilcar zu versuchen:

Fündig wurde ich dann im formidablen (leider vergriffenen) Standardwerk „Amilcar“ von Gilles Fournier und David Burgess-Wise, das ich vor einigen Jahren bei einem Händler auf dem Goodwood Revival Meeting in Südengland erwarb.

Dort finden sich mehrere Abbildungen genau solcher Tourenwagen mit den nach innen gespressten Luftschlitzen in der Motorhaube und der eigenartig grobschlächtigen Halterung der Frontscheibe – man hat schon dezentere Lösungen gesehen.

Der überhaupt wenig ansprechende Charakter des gesamten Aufbaus trägt dazu bei, dass dieser Amilcar außer dem Kühler nichts mit den sportlichen Versionen gemein hat – äußerlich jedenfalls.

Denn unter der uninspirierten Blechhülle findet sich – man glaubt es kaum – der Antrieb des oben vorgestellten Sportmodells CGS! Damit verfügte der Besitzer über eine außergewöhnlich hochwertige Motorisierung in der Kompaktklasse.

Warum Amilcar sich für dieses nüchterne Erscheinungsbild entschied, nachdem man ein Jahr lang einen deutlich raffinierter gestalteten Tourer angeboten hatte, wissen die Götter. Diesen ist auch die Kenntnis des genauen Typs vorbehalten.

Denn Amilcar bot diesen Tourenwagenaufbau sowohl beim Modell G als auch beim 1927 vorgestellten Nachfolgetyp L an. Dieser bot unter identischem Blechkleid wiederum eigenen Charakter.

So hatte man den Motor auf 1,2 Liter vergößert und das Chassis etwas verlängert. Dieses bis zu 90 km/h schnelle 8CV-Modell verkaufte sich bis Produktionsende 1928 recht ordentlich – rund 1.500 Fahrzeuge enstanden mit dem hier vorgestellten Aufbau als Tourer bzw. als Limousine und als ansprechendes Cabriolet.

Wer weiß – vielleicht weht der Zufall irgendwann wieder ein zeitgenössisches Foto eines dieser hierzulande so gut wie unbekannten Amilcar-Modelle ins Haus.

Bis dahin ist für anderweitige Beschäftigung gesorgt – interessantes Vorkriegsmaterial wird nicht weniger, im Gegenteil beschert mir mein Blog laufend neue Überraschungen aus aller Welt.

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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