Vor 100 Jahren: Studebaker „Big Six“ aus Schlesien

Heute unternehmen wir eine kleine Zeitreise zurück ins Jahr 1923 anhand eines Fotos, bei dem man sich wie so oft fragen kann: Was verbindet mich eigentlich damit?

Nun, neben der schwer erklärlichen Anziehungskraft von Vorkriegsautomobilen ein klein wenig auch das eigene Herkommen.

Während ich an meinem Blog schreibe bzw. während der vorbereitenden Arbeiten hängt zu meiner Rechten an der Wand eine großformatige Karte Schlesiens aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gestochen von Matthias Seutter in Augsburg.

Meine 1931 in Liegnitz geborene Mutter hat sie mir zusammen mit der Leidenschaft für Antiquitäten aller Art vermacht.

Sie musste Anfang 1945 die Heimat mit einem Koffer verlassen, um nie wieder in die großbürgerliche Welt der Baumgartstraße zurückzukehren:

Liegnitz, Baumgartstraße (heute: Skarbka Fryderyka); Ansichtskarte der 1920er Jahre

Die über viele Jahre erworbenen Kupfer- und Stahlstiche aus Schlesien waren ein Versuch, ein klein wenig vom Verlorenen zu bewahren. Sie umgeben mich heute und erinnern mich täglich an einen untergegangenen Teil Deutschlands.

Für mich ist keine Wehmut damit mehr verbunden, aber zu meinem Interesse an der Welt von gestern haben diese Dinge sicher beigetragen.

So registriere ich es jedesmal mit besonderem Wohlwollen, wenn mir auf einem historischen Autofoto das Nummernschild-Kürzel „IK“ begegnet – denn dieses stand einst für Schlesien.

Dann schlage ich nicht nur nach, wo der Wagen genau zugelassen war, sondern ich schaue auch, ob ich den Ort auf meiner Schlesienkarte wiederfinden kann.

Und tatsächlich: an der Grenze der Markgrafschaft Oberlausitz (Marchionatus Lusatiae Superioris) und des Fürstentums Liegnitz (Ducatus Lignicensis) findet sich die Stadt Luban (sonst meist: Lauban) – etwa auf einer Linie zwischen Dresden und Liegnitz (heute: Legnica).

Im gleichnamigen Landkreis Lauban war dieser großzügige Wagen zugelassen:

Studebaker „Big Six“ von 1923/24: Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass es sich bei dieser 6-Fenster-Limousine um ein amerikanisches Fabrikat handeln dürfte, darauf brachte mich die Gestaltung der Vorderstoßstange.

Solche Teile finden sich in den frühen 1920er Jahren zuerst an US-Fabrikaten, dann als Zubehörteil auch an Wagen deutscher Hersteller. Die Tatsache, dass sich das Kühleremblem hier auf der Stoßstange zu wiederholen scheint, spricht jedoch gegen ein Nachrüstteil.

Anhand der Kühlergestaltung konnte ich den Wagen rasch als Studebaker identifizieren. Die genaue Typansprache erforderte dann ein Studium der in solchen Fällen unverzichtbaren US-Autobibel „Standard Catalog of American Cars“ von Kimes/Clark.

Auf Seite 1419 fand ich dort die notwendigen Angaben zu dem konkreten Modell. Demnach sind die Scheibenräder eine Besonderheit des Studebaker „Big Six“ ab 1923.

Das war das damalige Spitzenmodell der Marke mit einem 5,8 Liter großen Sechszylinder (seitengesteuert), der 65 PS bei 2000 Umdrehungen leistete. Das Modell blieb bis 1924 im Programm, die Kühlerform spricht aber für das Jahr 1923.

Man fragt sich schon, wie ein US-Wagen dieser Größenordnung einst ins beschauliche Lauban kam. Der große Boom der amerikanischen Importwagen sollte ja erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre stattfinden.

Nun, irgendeine uns nicht bekannte Geschichte wird dazu geführt haben, dass dieser Studebaker „Big Six“ vor dem Gasthaus „Kaiser Joseph“ von Alfred Kittelmann haltmachte:

Studebaker „Big Six“ von 1923/24: Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Begebenheit hinter dieser Aufnahme verliert sich im Dunkel der Zeiten, doch vielleicht lässt sich wenigstens noch etwas über die Örtlichkeit in Erfahrung bringen.

Könnte diese Aufnahme vielleicht bei einer Urlaubsreise nach Österreich oder ins benachbarte Böhmen entstanden sein?

Im letzteren Fall besteht eine kleine Chance, dass sich der Ort ebenfalls auf meiner Schlesienkarte wiederfindet, denn dort ist zumindest ein „Bohemiae Pars“ abgebildet…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

10 Gedanken zu „Vor 100 Jahren: Studebaker „Big Six“ aus Schlesien

  1. Es gibt durchaus Fotos mit viel Leben darauf, aber für Postkarten wählten die Fotografen oft Uhrzeiten oder Gelegenheiten, bei denen das Stadtbild möglichst menschenleer war. Wenn ich irgendwo unterwegs Fotos mache, warte ich auch darauf, dass ich keine Menschen oder Autos im Bild habe – ist also eine willkürliche Vorauswahl.

  2. Ich wundere mich immer über die alten Fotos von Städten, sei es Eger, Nürnberg oder sonstwo: gähnend leere Strassen, die von dichter Bebauung gekennzeichnet sind und wo also damals viele Menschen auf engstem Raum lebten. Benötigte man damals keine Versorgung (und Entsorgung) mit egal was ? Bilder vom Wochenmarkt in Eger – jedes Kuhdorf hat einen größeren Bauernmarkt. Möglicherweise verstehe ich da was nicht …
    Apropos: es gibt eine tolle Dokumentation der Historiker aus Gefrees über die Planung der „Sudeten-Autobahn“, die Schlesien mit der A9 verknüpfen sollte, der Bau wurde teilweise begonnen .. .

  3. Zum Glück meiner engeren schlesischen Verwandschaft blieb ihr das Schicksal des „Durchschnitts- Schlesiers“ erspart, da sie als Studienrätin während des Ferienaufenthaltes auf Helgoland den jungen, weitgereisten Vogelwart und Gründer der Vogelwarte als Staatl. Institut kennenlernte, der wohl nach Forschungsreisen quer durch Osttibet und mehrjähriger Internierung in Canton Bedarf der Familien- Gründung hatte und von der stattlichen Bresslauerin ebenfalls angetan war, die ja ebenfalls studierte Biologin war.
    Also: Elise Anders hieß ab Weihnachten 1920 anders und war bald junge Mutter auf Helgoland und mußte die Schafmilch selber „herstellen“ !

  4. Besten Dank, Herr Weigold! Ihre ergänzenden, ironischen oder auch korrigierenden Anmerkungen schätze ich sehr. Schön, dass man sie in Liegnitz anno 2004 so wohlwollend empfangen hat – Deutsche und Polen unterhalb der ideologisch vernagelten politischen Ebene verstehen und respektieren einander heute zum Glück. Und: schön zu wissen, dass Sie und mich die familiäre Schlesien-Connection verbindet!

  5. Herzlichen Dank, Herr Börner! Habe Ihre Nachricht mit den vielen Fotos nicht vergessen, bislang konnte ich aber nichts in Sachen Beckmann ausfindig machen. Beste Grüße, M. Schlenger

  6. Hallo Herr Schlenger,
    als noch „echter“, also in Breslau geborener Schlesier (Jg. 1944) geht es mir so wie Ihnen: Wenn ich, wo auch immer, ein Bild eines Vorkriegsautos mit dem Kennzeichen „IK…“ sehe, schaue ich genauer hin, ob es nicht eventuell ein Produkt meines Urgroßvaters gewesen sein könnte. Ihm gehörte die Automobilfabrik Otto Beckmann & Co., Breslau.
    Ich hatte dazu bereits Korrespondenz mit Ihnen im vorigen Oktober und eines der vielen angehängten Bilder aus meiner Sammlung zeigt die Schwester meiner Großmutter Ilse Beckmann auf Beckmann 42 PS-Sportwagen anno 1925. Ausgerechnet das Kennzeichen ist nicht vollständig lesbar, es lautete: IK 7890. Und Breslau- wie auch Schlesien-Stiche hängen auch bei mir an der Wand…

  7. Die Anschaffung eines so hochmögenden amerikanischen Wagens im Jahre 1924 (wir erinnern: es ging nach überstandener Inflation steil bergauf in der deutschen Wirtschaft !) zeugte damals sicher von wirtschaftlich denkendem und weniger völkisch- nationalistisch überformtem Pragmatismus
    des Käufers.
    Und, vergessen wir nicht: die in den (damaligen) Nachkriegs- jahren prekäre Situation der deutschen Fahrzeug- Industrie führte ja zu einer verstetigten Mangellage auf dem deutschen
    Automarkt, in dem die cleveren
    amerikanischen Kaufleute, die ihre auf Pump finanzierten Posten von im Überfluss produzierten fortschrittlichen sowie preiswerten Wagen übers Meer schickten um sie bei der damals neuen Branche des „Auto- Handels“ zu platzieren.
    Es gab ja erst in Ansätzen die flächendeckende Verbreitung von Autowerkstätten, geschweigedenn so was wie „Händlernetze“ !
    Damals fand der Autohandel noch vorwiegend in den Etagen
    bürgerlicher Wohnhäuser in bester Geschäftslage statt.
    Die selbst aus dieser Zeit überlieferte Vielfalt phantasievoll gestalteter und oft wenig informativer Prospekte zeugt davon. Die hier gezeigte großbürgerliche Lage in der wohlhabenden Handels- und Industriestadt Liegnitz (die übrigens auch in den Erzählungen meiner Breslauer Großmutter oftmals präsent war und in der Teile ihrer weitläufigen Verwandtschaft ansässig waren) dürfte sich für das Gewerbe bestens geeignet haben!
    Ich selbst habe als Teilnehmer der damals neu veranstalteten Oldtimer- rally Legnica (2004 als erster Deutscher) und fand es sehr zuvorkommend, daß einer vom Org.- Team rechtzeitig zum Start auf mich etwas verloren wirkenden „Kannnitverstahn“ aufmerksam wurde und man mir eine nette Studentin zugesellte mit der es auf Englisch gut klappte und es sogar für einen Platz bei der:Siegerehrung reichte!
    Wer der Frage nachgeht, wie dieses neue Gewerbe „Autohandel“ so schnell raum-greifen konnte in den ach so kargen Nachkriegsjahren, muß sich klar machen, daß der vergangene Weltkrieg erstmals ein weitgehend technisierter war, in dem die Verwendung des Automobils eine wesentliche Rolle spielte und nach der Demobilisierung 1918/19 nicht nur abertausende moderner und nun billig zu habender Autos und (Einheits-)Lastwagen freistelle.
    Auch das nun von einem Tag auf den anderen beschäftigungslose Potenzial an „erfahrenen“ Kraftfahrern, Mechanikern und T- Offizieren suchte händeringend nach einem ihrem
    Qualifizierungs- Profil entsprechenden Broterwerb. Eine berufliche Grundlage für ein ziviles Dasein fehlte ja einer ganzen Generation desullusionierter Kriegsfreiwilliger !
    Was lag also näher, insbesondere für ansonsten berufs- und ausbildungslose
    Offiziere, als sich der Zukunft zuzuwenden und Automobil- Kaufmann zu werden ( Merke: “ Ist der Handel noch so klein…“)
    Und da lag es nahe sich als Geschäftsmann mit internationalen „Beziehungen“
    den überseeischen Agenten
    Als Partner anzubieten.
    Der Reiz dieses Import- Systems der Amerikaner lag ja vor Allem in der sofortigen Verfügbarkeit guter und vergleichsweise preisgünstiger Ware.
    Dies “ Marktlage“ trug sicher zur raschen Verbreitung auf den meisten europäischen Märkten bei und führte ja wegen der noch sehr restriktiven Import- Zölle und Steuern alsbald zu ersten Montage und sogar Produktionwerken.

  8. Der Ort des Gasthofs „Kaiser-Josef-Quelle“ ist somit gefunden, mich hat die Familiennamenssuche ins östlich benachbarte Löwenberg zwischen Goldberg und Lauban geführt. Meine automobilhistorische Suche hätte angesichts des Kühlergrills bei Brennabor begonnen, aber das Emblem führt dann doch über den „großen Teich“, wobei ich zunächst bei Buick hängengeblieben wäre. So aber ist es ein Studebaker, der vielleicht zunächst in die Tschechoslowakische Republik kam, wobei man nun wissen müßte, wann die Kennzeichenerteilung IK-54405 erfolgte, um den Importweg zu ermitteln. Vielen Dank für diesen weiteren schönen Bildbericht !

  9. Hallo Herr Schlenger,
    der Gasthof heißt anscheinend vollständig „Kaiser Josef-Quelle“ und befand sich in Strassberg (Isergebirge) in Schlesien nahe Meffersdorf wohl auch im Kreis Lauban.
    Schöne Grüßer,
    KD

Kommentar verfassenAntwort abbrechen