Irrfahrt an den Wörthersee: Talbot DC10 Sport-Tourer

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – diese überzeitliche Erkenntniss formulierte einst Goethe – der am vielseitigsten begabte deutsche Kulturmensch aller Zeiten, der im Unterschied zu anderen nur klugen Köpfen Lebensweisheit mit Lebensfreude vereinte.

Mit dem wohlwollenden Segen des Meisters aus Weimar irren, das fühlt sich doch gleich ganz anders an – vor allem, wenn man sich auf gelungene Weise zu korrigieren weiß.

Genau das werde ich heute tun, liebe Leser. Die Abonnenten unter Ihnen hatten kürzlich noch das exklusive, doch letztlich zweifelhafte Vernügen, einen prächtigen Sport-Tourer von Mitte der 1920er Jahre als Austro-Daimler ADM verkauft zu bekommen.

„Unterwegs mit Franzy„, so war der inzwischen gelöschte Blog-Eintrag betitelt und führte unter anderem an den Wörthersee im schönen Österreich. Diesen Teil der Geschichte muss ich nicht neu schreiben, auch die hübsche Franzy wird wieder darin vorkommen!

Doch führt uns die Reise diesmal nicht von Wien – dem Sitz von Austro-Daimler – an den Wörthersee, sondern sie beginnt im französischen Suresnes westlich von Paris. Wie konnte es zu einer solchen Kursänderung kommen?

Nun, ich will sie an meiner Irrfahrt teilhaben lassen, damit Sie sehen, dass ich durchaus meine Gründe hatte, zunächst Wien für den Ausgangspunkt der Tour mit Franzy zu halten.

Auch wenn es die Geschichte geografisch komplizierter macht, muss ich außerdem noch einen Abstecher ins bayrische Augsburg machen. Dort nahm die Sache nämlich auf gewisse Weise ebenfalls ihren Anfang und zwar hiermit:

Austro-Daimler ADM Sport-Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese außergewöhnliche Aufnahme wollte ich eigentlich noch eine Weile für mich behalten – jetzt brauche ich sie, um besagten Irrtum zumindest erklärbar machen zu können.

Dieser sportlich flach gehaltene Tourenwagen mit gepfeilter Frontscheibe und dynamisch wirkendem Türausschnitt ist nämlich eine besonders attraktive Variante des Austro-Daimler Typ ADM, der ab 1922 mit einem hochkarätigen 6-Zylindermotor mit Ventilsteuerung über obenliegende Nockenwelle angeboten wurde.

Der Typ ADM wurde vor allem als klassischer Tourenwagen verkauft, wie hier zu sehen:

Austro-Daimler ADM; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt

Es handelte sich um den ersten Wagen der Wiener Marke, welcher nach dem 1. Weltkrieg ohne den bis dato noch verbreiteten Spitzkühler (Typen AD6-17 und ADV) daherkam.

Anfangs leistete das Modell nur 45 PS aus 2,6 Liter Hubraum, doch legte man rasch nach, da der Motor erhebliche Leistungsreserven bot und das Publikum nach deutlich mehr verlangte, um souverän Fernreisen und Alpenpässe absolvieren zu können.

So könnte das oben abgebildete Exemplar bereits über die Zweivergaser-Ausführung verfügt haben, die den Ansprüchen eher angemessene 60 Pferdestärken bot.

Doch woran ist denn so ein Austro-Daimler ADM zu erkennen, abgesehen vom markentypischen Flachkühler, den auch das spätere Modell ADR besaß?

Nun, ansatzweise ist das für den geschulten Betrachter bereits auf der obigen Aufnahme aus dem Fundus meines Sammlerkollegen Matthias Schmidt zu erkennen.

Besser sieht man es indessen auf der folgenden Aufnahme aus meinem eigenen Bestand:

Austro-Daimler ADM (linkes Fahrzeug); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn diese Aufnahme dazu einlädt, sich mit der unbekannten dunklen Limousine mit sechs Seitenfenstern und drei Sitzreihen zu befassen, widmen wir unsere Aufmerksamkeit dem Tourer dahinter.

Unverkennbar wieder ein Austro-Daimler, doch diesmal ist das entscheidende Merkmal gut sichtbar, das ihn von seinen äußerlich ähnlichen Nachfolger ADR unterscheidet.

So ist die Hinterachse dieses Wagens am Ende einer Längsblattfeder angebracht, deren vordere Aufhängung sich weit vorne befindet. Diese sogenannte Cantilever-Aufhängung findet sich bevorzugt bei Wagen jener Zeit mit sportlicher Charakteristik.

Der auf den Austro-Daimler ADM folgende Typ ADR besaß dieses Detail nicht, seine Pendelachse wies Querblattfedern auf.

Besagte Cantilever-Federung findet sich auch an dem raffinierter geschnittenen Austro-Daimler ADM Sport-Tourer, der einst in Augsburg abgelichtet wurde. Möglich, dass es sich um die ab 1924/25 angebotene 3-Liter-Version handelt, die 70 PS (später 100 PS) leistete:

Studieren Sie noch einmal die Kühlerpartie, behalten Sie die Drahtspeichenräder mit den mächtigen Bremstrommeln vorn im Hinterkopf und prägen sich die Form von Windschutzscheibe und Türausschnitt ein.

Abgespeichert? Gut, dann geht es jetzt von Augsburg gedanklich über Wien weiter, wo einst Austro-Daimler das Modell ADM fertigte.

Mit dieser naheliegenden Reiseroute im Kopf ist man dermaßen beschränkt, dass man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch den folgenden Wagen gleich als Austro-Daimler ADM mit sportlichem Tourenwagenaufbau einsortiert, oder?

Talbot DC10 Sport; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dass es sich ebenfalls um eine Variante des Austro-Daimler ADM handeln dürfte, diese Vermutung liegt auch deshalb nahe, weil der Wagen auf einer einst in Österreich versandten Postkarte abgebildet war.

Adressatin war die fesche „Franzy“, die im Wagen zu sehen ist. Sie war die Gattin eines österreichischen Majors namens Dvorak, mit dem sie in Pörtschach am Wörthersee residierte – in der großartigen Villa Seehort, die noch existiert (gönnen Sie sich ruhig einen Blick darauf, so etwas kann heute keiner mehr).

Ebendorthin schickte anno 1929 ein gewisser Fredy die Postkarte:

Die Frau Major – also Franzy – wird hier als „tapfere Schlachtenbummlerin“ während irgendwelcher Manöver im Jahr 1929 angesprochen.

Ich vermute, dass Sie ihren Gatten bei dieser Gelegenheit im Wagen begleitete. Außerdem nehme ich an, dass sie im Haushalt Dvorak in der Villa Seehort die Hosen an und die Hand auf dem Portemonnaie hatte.

Denn ein Major – wenn es kein Generalmajor ist – ist kein hoher Offiziersrang, mit dem ein Einkommen verbunden war, welches den Besitz eines derartigen Luxuswagens ermöglichte wie dem, in dem sich Franzy offensichtlich sehr wohl fühlte:

Ein kurioses Detail auf dieser Aufnahme ist nebenbei die Schiefertafel, auf die jemand in expressiver Schrift „Heute keine Probe“ geschrieben hatte – das bezog sich auf den örtlichen Männer-Gesang-Verein.

Wenn ich es richtig lese, befand er sich in Friedberg (Steiermark), aber vielleicht irre ich mich, da ich selbst in Friedberg zur Schule gegangen bin, wenngleich in Hessen.

Ob der Soldat, der Franzy anschaut, ihr Ehemann Major Dvorak war? Und in welcher Beziehung mögen die übrigen Herren zu ihr und zueinander gestanden haben?

Wichtiger ist indessen etwas anderes: Der Kühler erweist sich trotz gleicher Grundform als nicht zu einem Austro-Daimler zugehörig. Das typische verschlungene Markenemblem fehlt, stattdessen sieht man ein unlesbares Firmenzeichen mit einer hell gehaltenen Diagonale.

Diese Gestaltung findet man nicht bei Austro-Daimler, sondern bei einer anderen Marke:

Talbot Typ DC10; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Darauf kam ich allerdings erst, als mich ein französisches Mitglied meiner englischsprachigen Vorkriegsauto-Gruppe bei Facebook darauf aufmerksam machte.

Tatsächlich handelt es sich bei dem Auto, mit dem Franzy in Österreich die Manöveraktivitäten ihres Gatten Major Dvorak verfolgte, um ein französisches Fabrikat – einen Talbot!

Damit ist klar, dass unser Ausflug an den Wörthersee im Talbot-Werk in Suresnes bei Paris begann – Augsburg und Wien hatte ich irrtümlich als Zwischenstationen angesehen.

Sehr wahrscheinlich war es ein Modell DC10, ein Vierzylindertyp mit zwar nur 1,6 Liter Hubraum, der aber dank im Zylinderkopf hängenden Ventilen eine Charakteristik aufwies, die mit 2-Liter-Wagen mithalten konnte.

Der Typ DC10 besaß wie der Austro-Daimler Vorderradbremsen eine Cantilever-Hinterradfederung (oft verdeckt, aber nicht immer), zudem waren Drahtspeichenräder mit Rudge-Zentralverschlussmutter als Extra erhältlich.

Vor allem aber gab es ihn mit einem sportlichen Tourenwagenaufbau, welcher dem des Austro-Daimler ADM sehr ähnlich sieht (Beispiel hier).

So ist am Ende der kuriose Befund zu konstatieren, dass „Franzy“ einst mit einem Franzosen unterwegs war, während ihr Mann im Dienst des Vaterlands irgendwelche Truppenübungsplätze frequentierte.

Festzuhalten bleibt: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – aber Goethe macht im Faust aus der Not gewandt auch eine Tugend, indem er sagt: „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen. Ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Genauso verhält es sich: Alles vermeintliche Wissen ist vordergründig und vorläufig – daher traue man keinem Hohenpriester, der drohend ewige Wahrheiten verkündet, und auch keinem „Experten“, der selbstgewiss und mit schönen Worten bisweilen Irrtümer predigt…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

3 Gedanken zu „Irrfahrt an den Wörthersee: Talbot DC10 Sport-Tourer

  1. Die Karosserie des Talbot Sport-Tourer müsste von Kelsch sein. Kelsch hat identische Karosserien, inkl. der Frontscheibe, auf Delage-Chassis gebaut. Auch die Karosserie-Plkette hat exakt die Form von Kelsch.
    Liebe Grüße
    Alex

  2. Aus gegebenem Anlass möchte ich mir heute mal diese ominöse „Cantilever“- Federung ( deutsch: Ausleger) näher ansehen und ihr Wirkprinzip verdeutlichen:
    Warum findet man sie wohl vorwiegend bei Autos mit „sportlichem“ Anspruch?
    Nun, dieses Aufhängungs- hier wohl besser Anlenkungsprinzip verbindet einige Vorteile gegenüber dem sonst noch allgemein üblichen Feder- „gehänge“:
    Indem die Federn als Rahmenverlängerung wirken verlegen sie die freitragede Länge des Rahmens ein Stück nach vorne und beenden somit die statische Hauptaufgabe des Fahrzeugrahmens an den Hauptlager- Zapfen der Federaufhängung was doch wohl eine erhebliche Anzahl der unsportlichen Kilos eingespart haben dürfte, musste doch alles dahinter angeordnete Tragwerk nur den ab da noch vorhandenen
    Aufbau + Nutzlast abstützen.
    Gleichzeitig fand auch Einleitung der Vortriebskraft über die Hauptlagerzapfen statt und wurde somit direkt auf die Haupträger des Rahmens übertragen (was wiederum Gewicht für anderweitige kraftaufnehmende Bauteile sparte).
    Da die Federpakete hier gerade sein konnten und somit die mit den Federenden fest verbundene Hinterachse praktisch frei von dem mit durchschwingenden Halbeliptikfedern zwangsläufig auftretendem „Eigenlenk“- verhalten war.
    Wichtiger jedoch: wir haben hier das erste mal den „Aufstelleffekt“ des nachmaligen Querstabilisators, der uns heute das zügige Durchfahren von Kurven so angenehm macht !
    Wie wir an den besprochenen Foto- Beispielen sehen, waren diese „Candilever“- Federn auch weitmöglichst aussen, meist wohl auch noch (in Fahrtrichtung) schräg nach aussen gerichtet, was zusätzlich der Kurvenstabilität diente indem es die Abstützpunkte an der Hinterachse so breit wie möglich anlegte.
    Da hinter der Achse die gesamte
    Spurbreite freibleibend war, konnte natürlich auch der dem sportlichen Fahrer angemessene reichliche Brennstoffvorat bequem untergebracht werden !

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