Das Fotodokument, das ich erst vor ein paar Tagen erworben habe – wie immer für eine handvoll Euros – ist in vielerlei Hinsicht ein liebenswertes Dokument. Dabei ist das Auto, das darauf abgebildet ist, nun wirklich nichts, für das man sich entflammen kann.
Wir haben es nämlich mit einem braven Chevrolet des Modelljahrs 1927 zu tun, der einen 26 PS leistenden Vierzylinder besaß und auch sonst konventionell daherkam – wahrlich kein Aufreger in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre.
Aber man hüte sich in diesem Fall vor der Arroganz, mit der das Alte Europa selten gut gefahren ist. Tatsächlich wurde der auf den ersten Blick so banale Chevy auch hierzulande geschätzt, und das hatte gute Gründe:

Diese Herrschaften (m/w/d – soviel Zeit muss sein…) kommen Ihnen vielleicht bekannt vor – ich habe sie nämlich schon einmal mitsamt ihrem Chevrolet aus dem Jahr 1927 vorgestellt.
Das waren deutsche Landsleute und ich habe keinen Zweifel, dass sie in einer grundsoliden Villa der Jahrhundertwende aus massivem Ziegelmauerwerk mit 3,50 Meter hohen Decken, Stuck und Holzvertäfelungen residierten.
Eigner einer solchen – ob ihrer ästhetischen Qualitäten und Dauerhaftigkeit immer noch hochgeschätzten – Immobilie zu sein, das war im Deutschland der Vorkriegszeit die Voraussetzung, sich auch nur irgendein einfaches Automobil leisten zu können.
Von der Armut der breiten Masse hierzulande macht man sich heute keine Vorstellung.
Das empörende Elend der deutschen Unter- und Mittelschicht wird von den Fotos der „Goldenen 1920er“ Jahre überstrahlt, die meist aus der Metropole Berlin stammen und bei aller Großartigkeit ein völlig falsches Bild jener Epoche zeichnen.
Wie gesagt, mit ihrem kleinen Chevrolet standen diese Leute damals ganz klar auf der Seite der Privilegierten in Deutschland.
Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass man das 1927er Modell an der kleinen Spitze erkennt, die in den Kühlergrill hineinragt – darüber sieht man das unerwechselbare Markenlogo, das noch heutige Chevies tragen.
Soviel zur ersten Einordnung. Jetzt wechseln wir auf die andere Seite des Atlantiks.
Von dort schickten anno 1933 deutsche Auswanderer das folgende Foto an die Verwandschaft in Good old Germany, das sich gerade anschickte, auf eine damals noch unabsehbare Höllenfahrt zu gehen:
Lassen Sie sich nicht von dem Schriftzug „Milwaukee“ auf dem Kühler des hier abgebildeten Wagens auf eine falsche Fährte locken.
Natürlich ist auch dieses Auto ein 1927er Chevrolet, aber die Besitzer waren gut integrierte Lokalpatrioten und wollten unbedingt den Namen der größten Stadt im US-Bundesstaat Wisconsin festgehalten wissen, wo ihr Auto zuhause war.
Im Unterschied zu dem in Deutschland zugelassenen Wagen verfügte dieses Exemplar nicht über die aufpreispflichtige Vorderstoßstange und die unterschiedlichen Reifenprofile künden von einer damals verbreiteten Nonchalance in dieser Hinsicht.
Oje, denkt nun der gemeine Mitteleuropäer, das müssen arme Leute gewesen sein. Das sieht man ja auch an dem schlichten Holzhaus, nicht wahr?
Ja, das waren damals Leute, die eher am unteren Ende der sozialen Stufenleiter angesiedelt waren – gemessen an den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten zumindest.
Doch für Überheblichkeit gibt es nicht den geringsten Anlass – speziell nicht aus Sicht eines Betrachters aus Deutschland. Noch heute macht sich mancher lustig über die Holzhäuser der Amis – dabei waren und sind wir das Schlusslicht, was Immobilienbesitz in Europa angeht. Das passt so gar nicht zur Erzählung vom reichen Deutschland, nicht wahr?
Schon in den 1930er Jahren verfügte hierzulande vor allem der Fiskus über kolossales Vermögen und plünderte dafür die Bevölkerung aus. Ab 1933 – also als dieses Foto entstand – waren unermessliche Mittel für Autobahnen vorhanden, doch der gemeine „Volksgenosse“ konnte nicht darauf fahren, weil es bestenfalls für ein Moped reichte.
Dass er vielleicht zur Miete in einem der grandiosen Gründerzeithäuser mit Stuck, schmiedeeisernen Balkongittern und Holzvertäfelung wohnte, nutzte ihm herzlich wenig, wenn er einmal zur Cousine fahren wollte, die weit draußen auf dem Lande wohnte.
Da musste er zusehen, wie er mit der Eisenbahn möglichst weit kam, um den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen – oder als Passagier auf einem von Ochsen gezogenen Heuwagen. Autos werden ihm dabei kaum begegnet sein.
Auf einmal sehen wir die Situation aus den Staaten mit ganz anderen Augen:
Die beiden Kinder tragen Schuhe – im Deutschland der Vorkriegszeit liefen die Kleinen auf dem Land barfuß herum – und man hat Geld, um sich Haustiere leisten zu können.
Oder haben Sie etwa die drei Kätzchen übersehen, die hier von dem Buben mit aufmerksamem Blick bedacht werden und noch nach 90 Jahren das Herz erfreuen?
Der Junge hieß Kenneth und er ist hier mit seiner älteren Cousine zu sehen, die skeptisch in die Kamera schaut. Mit der Puppe im Arm scheint sie nicht so recht glücklich zu sein.
Sollte ihre Leidenschaft eher den kuscheligen Vierbeinern gegolten haben oder gar der Benzinkutsche im Hintergrund?
Wir wissen es nicht, nur dass die beiden gerade ein „Glass“ Bier tranken, das ist jedenfalls auf der Rückseite in nur noch mühsam beherrschter deutscher Sprache überliefert. Ob das ein Scherz war oder amerikanische Wirklichkeit, lässt sich nicht sagen.
Kein Scherz, sondern grundsolide Wirklichkeit war der Chevrolet im Hintergrund – und zwar auch bei einfachen Leuten in vermeintlich primitiven Holzhäusern. Dort stand damals nämlich mit großer Selbstverständlichkeit entweder ein Ford oder ein Chevy vor der Tür.
Dazu musste man gerade nicht vermögend sein. Jeder, wirklich jeder konnte sich in den USA Ende der 1920er Jahre ein ordentliches Auto leisten. Möglich machte das der in Deutschland damals wie heute mit Schaum vor dem Mund kritisierte Kapitalismus.
Ohne den wäre Chevrolet nicht imstande gewesen, im Modelljahr 1927 sage und schreibe 1 Million Fahrzeuge dieses Typs zu fertigen. Um genau zu sein: 1.001.820 Exemplare.
Wenn Sie die Wahl hätten zwischen einer kernsoliden Mietskaserne im Berlin jener Zeit, vielleicht garniert mit einem mühsam zusammengesparten Fahrrad im Keller, und einem hübschen Holzhaus irgendwo auf dem Land in Wyoming, vor dem ein 1927er Chevy steht, wie würden Sie entscheiden?
Um mit der draußen auf dem Land wohnenden Cousine ein Bier trinken zu können – ich würde freilich einen Wein bevorzugen, sie wohl auch – und mit den Kätzchen zu spielen, dafür würde ich die durchaus vorhandenen Zumutungen des Kapitalismus jederzeit denen des Sozialismus jedweder Couleur vorziehen – damals wie heute.
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Besten Dank für diesen Einblick! Es hatte in der Tat seinen Grund, warum der Wagen so erfolgreich war, die US-Fabrikate waren damals auch generell durchweg gut gemacht und günstig. Das gilt auch für den Ford A, der den Wettbewerb mit Chevrolet dann mächtig anheizte – gut für die Käufer! Man kann sogar mit 20 PS (bei niedrigem Gewicht) ebenso Spaß haben wie mit 200, das muss letztlich jeder selber wissen. Im Alltag haben die meisten privat beschafften Autos ja selten mehr als 100 Pferdestärken. „Exzesse“ hat es immer schon gegeben, weil es dafür Nachfrage gab und gibt. Man denke an die Duesenbergs der 1930er Jahre bspw.
Hallo Herr Schlenger!
Als treuer Leser Ihrer Beiträge muß ich hier mal Stellung nehmen.
Wir haben unseren 27ér Coach auf einer Fahrzeugmesse gesehen und waren sofort begeistert.
Ich habe den Wagen vom Trailer weg gekauft. Der Chevy (liebevoll „Shabby“ genannt) ist ein kompates Fahrzeug, das 4 Personen ausreichen Platz bietet. Durch die großen Fenster ist es innen hell und nach außen hat man eine gute Sicht.
Die Motorleistung mit 26PS erscheint wenig, aber das Drehmoment des 2,8l Motors gleicht doch einiges aus. Im Alltagsverkehr kommen wir gut zurecht. Der heutige PS-Wahn ist doch irrsinnig, wer brauch bei unserem Verehrsaufkommen hunderte von PS ?
Ich verstehe sehr gut warum sich Menschen damals für diesen Wagen entschieden haben.
Ob Trampas von der Shiloh-Ranch 40 Jahre nach Filmhandlungsverlauf, aber 40 Jahre vor Abschluß der Dreharbeiten in einem Chevrolet Capitol AA nur zum Angeln von Wyoming bis nach Wisconsin an den fernen Michigansee aufgebrochen wäre, würde ich verneinen. Wahrscheinlicher wäre aber, daß er dann in Milwaukee seine neue Harley-Davidson abgeholt hätte, was aber dann auch die Frage nach dem weiteren Verbleib seines Autos aufbrächte. Vielleicht kam solch ein Chevrolet Capitol Tourer dann nicht in Einzelteilen über Borsigwalde, sondern schon fertig montiert und fahrbereit über den großen Teich ? Denn ich hatte heuer das Glück, einen solchen Chevrolet in offener Ausführung in Bad Bentheim betrachten zu können, wußte aber so dank Ihrer Oldtimerbildpräsentationen auch etwas über Halensee und Borsigwalde zu sagen. Vielen herzlichen Dank für ein weiteres Jahr voller Erkenntnisse über die automobile Welt vor 90 bis 100 Jahren !