Meisterhafte Inszenierung: NAG C4 Sport-Tourer

Gefühlt ist es noch gar nicht so lange er, dass ich hier eine meisterhafte Ausführung des NAG C4 10/30 PS-Modells vorgestellt habe, welches Anfang der 1920er Jahre eines der meistgebauten deutschen Automobile war.

Doch gerade stellte ich fest, dass seither schon wieder mehr als zweieinhalb Jahre ins Land gezogen sind. Höchste Zeit also, daran anzuknüpfen, bevor wir 2023 würdevoll verabschieden (der Fund des Jahres steht an…).

Seinerzeit hielt ich dieses von Ernst Neumann-Neander – dem Jugendstil-Künstler und bedeutenden Automobil-„Influencer“ – entworfene Prachtexemplar für ein Einzelstück:

NAG C4 Sport-Tourer mit Karosserie nach Entwurf von E. Neumann-Neander; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Während die Frontpartie mit dem unverwechselbaren spitz zulaufenden Ovalkühler weitgehend mit der Serienausführung übereinstimmt, folgt darauf ein außergewöhnlich niedriger Passagierraum mit extrem flacher und geneigter Frontscheibe, winzigen Türen und knapp oberhalb der Heckkotflügel angesetztem Minimalverdeck.

Bemerkenswert sind auch die Staukästen auf dem Trittbrett und die „Aufsteighilfe“ am Ende.

Wie radikal anders dieser Aufbau war, das erschließt sich einem, wenn man sich die Standardausführung betrachtet. Praktischerweise habe ich vor kurzem wieder eine „neue“ Aufnahme davon aufgetrieben – und jetzt kann ich sie sinnvoll verwerten:

NAG C4 Tourer mit Standard-Karosserie; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diesen Aufbau mit hoher Seitenlinie und schön gewölbter „Tulpenkarosserie“ findet man vor allem in der Anfangszeit der Produktion des 1920 eingeführten Vierzylindermodells C4 10/30 PS der altehrwürdigen Berliner NAG.

Jetzt könnte einer sagen: „Schön und gut, aber woran soll man hier eigentlich erkennen, dass auch das ein NAG dieses Typs ist?“

Nun kann ich nicht erwarten, dass alle meine aktuellen Leser von Anfang an mit dabei sind oder wissen, dass ich dieses Modell bereits dutzendfach in meiner NAG-Galerie dokumentiert habe – nebenbei die wohl größte frei zugängliche ihrer Art überhaupt.

Also werfen wir einen kurzen Blick auf die Kühlerpartie, denn die ist wie fast immer bei Automobilen jener Zeit entscheidend:

Zugegeben: Man muss schon eine Weile hinschauen und die Linien der einzelnen Bauteile auseinanderhalten. Achten Sie darauf, wie sich die Kurve des Kühlerausschnitts unterhalb des rechten Kotflügels fortsetzt – sie lässt sich gedanklich zu einem Oval ergänzen.

Schwieriger zu erkennen ist der senkrechte Verlauf der spitz zulaufenden Vorderkante des Kühlers – Sie können die oben kaum wahrnehmbare Linie am unteren Ende des rechten Scheinwerfers wieder aufnehmen.

Beides zusammen findet sich so nur beim NAG C4 10/3 PS, während der bisweilen ähnlich wirkende Kühler der D-Typen von Stoewer erstens keinen ovalen Ausschnitt aufweist und zweitens an der Vorderkante stets leicht geneigt ist.

Zur Identifikation als NAG C4 passt auch die Gestaltung der Stahlspeichenräder mit fünf Radbolzen und sechskantiger Nabenkappe.

Praktisch keinerlei Hinweise auf Hersteller und Typ liefert dagegen der übrige Aufbau – solche Karosserien waren im deutschen Sprachraum nach dem 1. Weltkrieg bei vielen Automarken gang und gebe:

Nur wenn man schon eine Vermutung in der Richtung hätte, könnte man den Wagen auch anhand dieses Bildausschnitts sicher als NAG C4 identifizieren – das ermöglichen Vergleiche der Partie rund um die vordere Blattfederaufnahme der Hinterachse.

Wenn Sie mögen, können Sie das einmal selbst anhand der einschlägigen Fotos in meiner NAG-Galerie versuchen – Sie werden sehen, dass es machbar ist. Ich nutze zuverlässig eingeordnete Aufnahmen in meinen Galerien selbst öfter als Referenz als die bei vielen deutschen Modellen der 1920er Jahre karge Literatur.

Nun aber genug von solchen Dingen – wollte ich nicht am Neanderschen Meisterentwurf auf Basis des NAG C4 anknüpfen? Genau das war das Ziel und möglich gemacht hat es mir wie so oft ein Leser mit formidabler Sammlung und großem Gespür für Qualität – Klaas Dierks.

Ich weiß, dass er es nicht nötig hat, so erwähnt zu werden, aber es gilt nun einmal: Ehre, wem Ehre gebührt. Und alle Leser sollen wissen: Wer sich mit Fotos aus der eigenen Sammlung beteiligt, wird selbstverständlich gewürdigt – es sei denn, er möchte das nicht.

Gerne gebe ich zu, dass dieses herrliche Dokument die Aufnahme mühelos übertrifft, mit der ich seinerzeit in Vorlage gegangen war:

Die Persönlichkeiten am neben und im NAG schaffen es, die außerordentlichen Qualitäten des Wagens in den Hintergrund rücken zu lassen.

Erneut ist etwas Konzentration auf die Linienführung erforderlich. Am besten orientiert man sich an der Seitenlinie von der Frontscheibe bis zum Heck – wieder sehr niedrig ausgeführt mit kleinen Türen und knapp über dem Kotflügel angbrachten Verdeck.

Auch den monumentalen Staukasten und die Aufstiegshilfe an dessen Ende findet man hier. Abweichende Details wie die der Schonung des Lacks dienenden durchbrochenen Bleche unterhalb der Tür und auf der Oberseite der Tür ändern nichts am Befund:

Auch dass muss ein Sport-Tourer nach Entwurf von Ernst Neumann-Neander sein!

Die Frontpartie macht es allerdings diesmal schwerer, sie dem Typ C4 10/30 zuzuordnen:

Auf dem Originalfoto kann man vermutlich unter der Lupe das markante NAG-Emblem auf der Nabenkappe erkennen – auf diesem Ausschnitt ahnt man bestenfalls etwas in der Richtung. Die Kühlerpartie liefert ebenfalls nur eine Indikation, aber vermutlich wäre man auch hier auf den NAG C4 als wahrscheinlichsten Kandidaten gekommen.

Man sieht an diesem Beispiel, wie wichtig jedes Foto auch von exotischen Ausführungen ein und desselben Modells sein kann – jedes kann prinzipiell einen Hinweis auf die Ansprache anderer Fahrzeuge geben. In diesem Fall ist es der Spezialaufbau als Sport-Tourer.

Ob der sich ähnlich auf anderen deutschen Fabrikaten jener Zeit fand, ist mir nicht bekannt. Vielleicht weiß jemand mehr und hat sogar die passende Abbildung dazu.

Ausschließen kann man auf dem Sektor gar nichts, auch das trägt zum schier unerschöpflichen Reiz des Reichs der Vorkriegsautos bei.

Dieser speist sich aber oft auch aus dem menschlichen Element und das Foto von Klaas Dierks zeigt das ideal anhand dieser meisterhaften Inszenierung:

Viel mehr kann man sich nicht wünschen, wenn man solche Autoporträts der Vorkriegszeit liebt. Über jeder diese Personen ließen sich endlose Betrachtungen anstellen, doch die erspare ich Ihnen heute.

Studieren Sie einfach die Gesichter, stellen Mutmaßungen über Verwandschaftsverhältnisse und sonstige Beziehungen oder gar Charakterzüge an. Vielleicht findet jemand sogar heraus, wer hier zu sehen ist.

Die junge Dame mit dem wunderbar lockenumrahmten Gesicht wirkt nämlich auf mich dermaßen perfekt zurechtgemacht, dass sie eine bekannte Schauspielerin, Tänzerin oder Sängerin ihrer Zeit gewesen sein könnte.

Leider ist auf dem Foto dazu nichts Näheres überliefert, nur dieses: „Rhöndorf 1926“. Jetzt sind Sie an der Reihe, wenn Sie mögen. Ich schalte alle Kommentare frei, sofern sie kein blühender Unsinn sind (für den bin ich selbst zuständig).

Nach diesem neuerlichen Meisterstück gehe jetzt noch eine Viertelstunde vor die Tür, schaue ein wenig sehnsüchtig nach dem Vollmond und mache mir Gedanken über den Kandidaten für den Fund des Jahres…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.   

2 Gedanken zu „Meisterhafte Inszenierung: NAG C4 Sport-Tourer

  1. Klasse, vielen Dank! Bleibt die Frage, ob der Entwurf von Neumann-Neander stammt wie bei dem ersten NAG mit diesem Aufbau. Er war ja damals sehr aktiv und hatte Patente auf Dutzende Karosserieformen.

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