Mühelos vom Gestern ins Heute: Fiat 1100

Die Zeit zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel ist für viele eine besondere. Einmal doch soll die Uhr langsamer gehen, wenn schon nicht stillstehen.

Liegengebliebenes ohne Hektik erledigen, Zeit mit Freunden, Kindern und Haustieren zubringen oder vielleicht gar nichts im eigentlichen Sinne tun – allenfalls ein Buch lesen, Musik hören oder: sich Gedanken machen.

Ich habe zwar noch einiges an Arbeit zu erledigen, aber bevor Sie mich bedauern: das erledige ich von meinem Refugium im italienischen Umbrien aus. Als Schreibtischtäter bin ich in der glücklichen Lage, von überall aus arbeiten zu können, Internetanschluss vorausgesetzt.

Seit November verfügt das Häuschen auf 600 Meter Höhe über eine Antenne, welche mir ebenso rasanten Internetverkehr wie daheim ermöglicht – ohne Glasfaser-Hokuspokus, horrende Grundgebühren usw. Berechnet wird nur der Verbrauch. Der Anbieter ist auf Ferienimmobilien spezialisiert und ein Musterbeispiel für italienische Infrastrukturkompetenz.

Das hat eine Tradition, die weit zurückreicht – der Nachbarort Spello bezieht sein hervorragendes Trinkwasser noch heute über einen kilometerlangen römischen Aquädukt. Wer mag, kann sich dort außerdem kostenlos für den Privatbedarf abzapfen, was er möchte.

Wieso ich den vermeintlichen Umweg über die Antike ins Hier und Jetzt wähle, wo es doch bloß etwas vom Fiat 1100 der späten 1930er Jahre zu erzählen gibt? Nun, das sehen Sie noch.

Vielleicht haben Sie sich dieser Tage ja in einem nachdenklichen Moment bei dem Gefühl erwischt, dass Ihnen das Heute zunehmend fremd wird, Gewohnheiten zum Problem werden, Gewissheiten zertrümmert daliegen.

Viele meiner Leser können auf einige Jahrzehnte zurückblicken und ich kann mich an eine überwiegend heile Welt der 1970/80er Jahre (in Westdeutschland) zurückerinnern. Damals konnte sich eine vierköpfige Familie mit einem Gehalt ein eigenes Haus mit Garten, zwei Autos und einen Urlaub im Süden leisten.

Zwar ging es nicht mehr so rasant aufwärts wie in der Wiederaufbauzeit und es gab schwierige Phasen mit hoher Inflation, hohen Zinsen und Arbeitslosigkeit. Doch über kurz oder lang bekam die damals nur wenig gegängelte Marktwirtschaft wieder die Kurve.

Der Kalte Krieg war zwar allgegenwärtig, aber das Vertrauen auf die gegenseitige Abschreckung überwog. Trotz enorm hoher Militärbudgets blieb den Leuten genug vom Einkommen und ansonsten hat man sie ihr Alltagsleben leben lassen.

Warum erzähle ich das ? Weil einem angst werden kann bei dem Tempo, mit dem diese Welt von gestern verschwindet und die von heute ihr zunehmend autoritäres und zunehmend hässliches Antlitz zeigt.

Wir vergewissern uns heute, dass der Abstand zwischen gestern und heute gar nicht so groß sein muss, dass sich mühelos beides vereinbaren lässt. Bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautos kann das sogar gelingen, wenn diese selbst schon längst verschwunden sind.

Nach dieser langen Vorrede können Sie sich jetzt hier visuell erholen, hoffe ich:

Assisi (Umbrien), Piazza del Comune; Postkarte der späten 1940er Jahre; Sammlung Michael Schlenger

Hier stehen wir auf dem zentralen Platz der berühmten Pilgerstadt Assisi, in welcher seit dem Mittelalter der Heilige Franziskus verehrt wird. Der verdient das auch dann, wenn man nicht dem christlichen Glauben anhängt – seine Faszination ist jedenfalls ungebrochen.

Das kleine Assisi verdankt seinen enormen Reichtum an Kunstschätzen der Anziehungskraft von San Francesco und der Tatsache, dass sich die Stationen seines Lebens mit bestimmten Orten und Bauten verbinden, die alle noch existieren.

Als Goethe 1786 auf seiner ersten Italienischen Reise Assisi besuchte, begeisterte er sich indessen nur für ein Gebäude: den herrlichen Minervatempel aus der römischen Kaiserzeit. Dessen Fassade ist das Kronjuwel in dieser Platzanlage – da mag der angrenzende mittelalterliche Torre del Popolo noch so hoch sein.

Und so wie römische Tempel einst auf das Forum von „Asisium“ ausgerichtet war, so wacht er auch auf dieser Aufnahme auf den neuzeitlichen Treffpunkt der Bürger:

Schon hier relativiert sich der Abstand zwischen dem Gestern und Heute auf erstaunliche Weise – eine Kontinuität, wie sie sich in Italien vielerorts erhalten hat.

Das gilt vor allem für Regionen wie Umbrien, durch die zwar immer wieder Eroberer zogen, in denen aber kein nennenswerter Bevölkerungsaustausch stattgefunden hat. Diese Aufnahme ist übrigens zu einem Zeitpunkt entstanden, kurz nachdem die Region das letzte Mal Ort kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen war.

Der Kleidung nach zu urteilen, ist die Situation in den späten 1940er Jahren aufgenommen worden – zu einer Zeit, als noch ausschließlich Vorkriegsautos verfügbar waren. Die Leute sind alle gertenschlank, hier und da haben die Anzüge der Herren mehr „Luft“ als erforderlich.

Noch kurz zuvor war die Region Kriegsgebiet. Zwar hatten die Italiener es 1943 geschafft, das Mussolini-Regime zu kippen und Deutschland die Waffenbrüderschaft aufzukündigen. Doch so richtig das strategisch war, so schmerzhaft waren die unmittelbaren Folgen:

Erstens behandelte die deutsche Wehrmacht die ehemaligen Kameraden nun als Feinde und unzählige italienische Soldaten wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert. Zweitens wurden in den von deutschen Truppen kontrollierten Gebieten Italiens rigide alle Ressourcen geplündert, um die Kriegsmaschine am Laufen zu halten.

Und drittens nahmen die aus Süden vorrückenden alliierten Truppen nur wenig Rücksicht auf die italienische Zivilbevölkerung. So waren nun auch die Italiener wehrlos angloamerikanischen Bomberangriffen ausgesetzt, die weder Zivilisten noch Architektur schonten.

Außerhalb Italiens ist dieses dunkle Kapitel kaum bekannt, doch aus eigener Anschauung weiß ich, dass die Erinnerung an die vielen Opfer und oft irreparablen Schäden immer noch wach ist und die Jahrestage der Bombenangriffe würdevoll begangen werden.

Assisi ist nur deshalb verschont worden, weil es einem deutschen Offizier gelungen war, die Stadt gegenüber den Alliierten als Lazarettort auszuweisen, an dem auch gegnerische Verwundete behandelt wurden. Das hat die Stadt tatsächlich vor Zerstörungen bewahrt. Eines der Beispiele für ehrenhaftes Verhalten auf deutscher Seite, an die man auch erinnern muss.

Kurz nach dem Krieg wurde dieser Oberst Valentin Müller für seine Tat in Assisi geehrt – und genau in diese Zeit fällt das heute vorgestellte Foto, welches eine heilgebliebene Welt zeigt.

Die Bürger von Assisi konnten sich glücklich schätzen, sie waren davongekommen. Beim Davonkommen hilfreich war auch der Besitz eines Automobils, doch davon gab es nicht viele. Die Wehrmacht hatte die meisten beschlagnahmt und viele wurden zerstört.

Hier haben wir ein Beispiel dafür – ein blutjunger deutscher Soldat posiert irgendwo an der Südfront mit „seinem“ Fiat 1100:

Fiat 1100 im Dienst der Wehrmacht; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

So repräsentierte die Fiat-Limousine in Assisi kurz nach dem Krieg bereits einen Luxusgegenstand. Dabei handelte es sich nur um das 1937 eingeführte Mittelklassemodel 1100 („Millecento“), das auch in Deutschland als NSU-Fiat gebaut wurde.

Bilder und Beschreibungen dieses in seiner Klasse ganz ausgezeichneten Wagens finden sich zuhauf in meinem Blog.

Daher will ich heute gar nicht weiter darauf eingehen, nur auf eines sei hingewiesen: Man erkennt an dem Wagen in Assisi vertikale Türgriffe – ein Merkmal der in Italien gebauten Ausführungen des „Millecento“, welches die deutschen Varianten nicht besaßen.

Ganz schön viel Geschichte und ganz schön wenig Auto. Stimmt, aber vergessen Sie nicht: Ich schreibe hier, was mir in den Sinn kommt und Sie müssen nichts dafür bezahlen.

Da nimmt man schon mal kulturhistorische Abschweifungen und subjektive Sichtweisen auf dies und das in Kauf, nicht wahr? Aber letztlich geht es immer darum, den Zauber von gestern ins heute zu transferieren, das wollen Sie doch auch, oder?

Genau das dachte ich mir heute morgen.

Die Sonne schien, die Arbeit war bald erledigt, sodass ich am Nachmittag nach Assisi aufbrach. Das Städtchen war voller Menschen, doch das waren keine Pilger oder Touristen, sondern einheimische Ausflügler, die sich in der Zeit nach Weihnachten ein paar Tage mit der Familie gönnen und sich der Schönheit ihrer Heimat vergewissern.

Ich war zuversichtlich, dass es mir gelingen würde, den Beweis dafür sicherstellen zu können, dass das Gestern und das Heute mühelos zusammengehen – hier ist er:

Assisi (Umbrien), Piazza del Comune, 27.12.2023; Bildrechte: Michael Schlenger

Hätte ich eine Leiter gehabt, hätte ich die Aufnahmeperspektive ganz exakt nachstellen können – es ist noch alles da, sogar die prächtigen schmiedeeisernen Kandelaber.

An der Bausubstanz hat sich trotz einiger Erdbeben nullkommanichts geändert, außer dass behutsame Restaurierungen stattgefunden haben.

Wo einst der Fiat 1100 parkte, standen heute die Reste eines Weihnachtsmarkts, aber auch die weichen bald wieder der makellosen Schönheit dieses über einen Zeitraum von rund 1.500 Jahren organisch gewachsenen Platzes.

Neu ist nur, dass man nun unterhalb des heutigen Platzes auf Teilen des römischen Forums wandeln kann. Dort kann man sogar den perfekt erhaltenen Sockel des Minervatempels besichtigen, der ja einst wesentlich höher war, als er heute wirkt.

Gestern und heute liegen hier nur wenige Meter auseinander – diesmal in der Vertikalen.

Wem das jetzt immer noch zuviel Kulturgeschichte und Schwärmerei war, der mag endlich Genugtuung im folgenden Porträt eines noch heute munter umherfahrenden Fiat 1100 finden – wenn auch in Form ders ab 1939 gebauten Variante „Musone“.

Solche modellspezifischen Details verblassen angesichts der Harmonie, welche sich auch hier wieder im Nebeneinander historischer Städte und Vorkriegsautos zeigt. Und das ist die eigentliche Botschaft meines heutigen Blog-Eintrags.

Wir müssen die großartigen Seiten des Gestern in die zunehmend unwirtliche Welt des Heute hinüberretten, sie pflegen und beschützen. Und wir müssen uns den Kräften und Tendenzen entgegenstellen, die unsere Landschaften und Städte, unsere Sprache und unsere bürgerlichen Traditionen bedrohen .

In Italien hat die Moderne auch viele Spuren hinterlassen, vor allem im Norden. Aber es gibt sie, die Provinzen und Bürgerschaften, die ihr phänomenales kulturelles Erbe zu schätzen und zu schützen wissen – sich ihre Identität nicht rauben lassen.

Wenn wir das nicht selbst auch tun, dürfen wir uns nicht beklagen, wenn uns die Gegenwart zunehmend fremd wird und entgleitet. Mühelos vom Gestern ins Heute gelangen, das sollte auch gelingen, ohne unverbesserlicher Nostalgiker oder verschrobener Romantiker zu sein.

Das moderne Italien kann in der Hinsicht ein Vorbild sein – es ist nicht perfekt, aber ich wüsste kein Besseres, um zu erkennen, wie man mühelos vom gestern ins heute gelangt…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.   

4 Gedanken zu „Mühelos vom Gestern ins Heute: Fiat 1100

  1. Freut mich und danke für das Lob! Kritik, Korrekturen und Ergänzungen sind immer willkommen. Viel Vergnügen bei der weiteren Lektüre!

  2. hallo und guten Abend,
    ich kenne Ihren blog erst seit gestern und habe schon einige der Episoden „verschlungen“ .
    Selten habe ich so Erbauliches in den letzten Jahren in Prosa gelesen , einfach nur schön …
    Beim Fiat 508 als Limousine habe ich jetzt allerdings so gestutzt , daß ich meine erste „Bibel“ , das Buch von HH v. Fersen “ Autos in Deutschland 1920-39 “ , als Kind schon erworben in den frühen 70ern , zur Verifizierung zur Hand nahm . Ich irre mich ungern und entsprechend selten .
    Auch der deutsche 1100er hatte die vertikalen Türgriffe, wie auch die ersten Nachkriegs Simca 8 übrigens auch noch .
    Hier im Saarland gibt es übrigens zur Zeit eine ganz gut gemachte Ausstellung zum Thema Auto ( allerdings 50er bis 70er Jahre ) mit vielen historischen Stadtfotos aus diesen Zeiten .
    Aber auch diese Vorkriegsszenarien weiß ich gerne zu schätzen und die Texte sind einfach nur klasse …
    Weiterhin bleibe ich gerne dabei und freue mich auf die Lektüre der älteren Sachen , habe ja gerade erst angefangen , sie zu entdecken ..

    T. Flach

  3. Sehe ich auch so – heute wirken Autos im historischen Stadtbild optisch meist eher störend. Das war bis in die 60er Jahre noch anders.

  4. Ja – wie schön passt der Fiat von damals auf den Platz – man möge sich an gleicher Stelle einen Fiat von heute vorstellen (andere Marken wären noch schlimmer). Irgendwie ist da der Stil restlos abhanden gekommen.

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