Zeugen des Umbruchs anno 1910: Stoewer G4 und LT4

Nach dem angeblichen „Ende der Geschichte“ – eine am Ende des Kalten Kriegs verkündete These, über die ich schon als damals Zwanzigjähriger schmunzeln musste, stellen wir seit einigen Jahren fest, dass sich die Welt erneut im rapiden Umbruch befindet.

Im „Westen“ scheinen die liberalen Ideale in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht auf dem Rückzug zu sein – ein sich für alles zuständig fühlender Staat ist auf dem Vormarsch einhergehend mit zunehmend planwirtschaftlichen Tendenzen.

Gleichzeitig akzeptieren immer mehr aufstrebende Länder die westliche Vormachtstellung in ideeller wie ökonomischer Hinsicht nicht länger. Es ist unerheblich, wie man das wertet und ob man die Akteure etwa in Asien mit Kategorien des 20. Jh. versucht zu charakterisieren.

Es gibt kein Zurück in die heile Welt des Westens der 1980/90er Jahre, die Geschichte schreitet immer voran und den Aufstieg wie den Untergang von Mächten hält niemand auf. Wir sind aktuell Zeugen, wie sich die Welt neu ordnet.

Warum sollte es uns auch anders ergehen als unseren Vorfahren? Dass vordergründig nichts bleibt, wie es ist, dass lässt sich schon in der Frühzeit des Automobils besichtigen.

Das Tempo der Umwälzungen war damals atemberaubend. Fünf Jahre entsprachen in der Vorkriegszeit bereits einer ganzen Autogeneration, was dazu beitrug, dass eben noch moderne Fahrzeuge wenig später heillos veraltet waren und vom Markt verschwanden.

Ein besonderes Jahr war in dieser Hinsicht 1910 – jedenfalls was Automobile im deutschsprachigen Raum angeht. Denn praktisch von einem Jahr auf das andere setzte sich in der Gestaltung eine dem Sport entlehnte Neuerung durch – der Windlauf.

Wem der Begriff noch nicht geläufig ist, der wird ihn am Ende der heutigen Betrachtung verinnerlicht haben. Doch zunächst gehen wir zurück ins Jahr 1909. Damals sah ein Wagen der renommierten Marke Stoewer aus Stettin noch so aus:

Stoewer Tourenwagen, wohl Typ G4; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Diese schöne Momentaufnahme entstand einst irgendwo im Baltikum, soviel ist überliefert. Deutsche Firmen hatten damals dank uralter Handelsverbindungen im Ostseeraum eine Präsenz in der Region, wie sie in der Nachkriegszeit wohl nie wieder erreicht wurde.

Stoewer hatte mit seiner günstigen Lage an der Ostsee besonders gute Voraussetzungen und exportierte seine Wagen nach Skandinavien und Russland, aber eben auch ins Baltikum mit seinem faszinierenden Nebeneinander an regionalen Kulturen.

Der Tourer auf dem Foto von Leser Klaas Dierks dürfte ein Exemplar des Typs G4 gewesen sein, der von 1908 bis 1910 gebaut wurde und einen 1,6 Liter-Motor mit 12 PS (später 15 PS) besaß.

Gegen die Ansprache als zeitgleichen, aber stärkeren 2,5-Liter-Typ PK4 sprechen trotz übereinstimmender Kühlerpartie mehrere Details. Dazu zählt die Gestaltung der Radnaben, vor allem aber der kurze Radstand (2,50 m im Vergleich zu 2,80 m).

Auch wenn es nicht einfach ist, die Größenverhältnisse aus einer solchen Perspektive abzuschätzen, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass der Radstand dieses Wagens 2,80 Meter betragen haben soll. Die 2,50 Meter des G4 finde ich realistischer.

Wichtiger ist ohnehin etwas anderes: Auf dieser Aufnahme trifft die Motorhaube noch rechtwinklig auf die Stirnwand, welche zugleich die Abtrennung zum „Innenraum“ darstellt. Auf besagter Stirnwand ragte vor 1910 steil die Windschutzscheibe auf.

Hier ist zwar das Unterteil nach hinten geneigt, was für ein gewisse Lenkung des Luftstroms bzw. einen Staubschutz für Fahrer und Beifahrer sorgt. Doch das musste eigens so eingestellt werden, war also noch kein fixes Element des Aufbaus.

Das änderte sich wie gesagt anno 1910 schlagartig.

Inspiriert von entsprechenden Bauteilen bei Sportwagen, die dort ab 1908 Anwendung fanden, verbauten die Hersteller im deutschsprachigen Raum erstmals einen „Windlauf“, auch Windkappe genannt.

Was damit gemeint ist, lässt sich an diesem Wagen nachvollziehen:

Stoewer Tourenwagen, wohl Typ LT4 von 1910; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Zu verdanken haben wir diese Aufnahme Leser Matthias Schmidt aus Dresden. Sie kann es nicht nur von der Qualität und Erhaltung mit dem Foto aufnehmen, das Klaas Dierks beigesteuert hat. Sie illustriert auch präzise den Modellwechsel bei Stoewer anno 1910!

Wer genau hinschaut, erkennt den neu eingeführten Windlauf in Form einer aufwärtsweisenden Blechpartie zwischen Motorhaube und Frontscheibe – hier noch mit einem Höhenversatz, der bereits 1912 meist verschwunden war.

Abweichend stellen sich auch die vorderen Rahmenenden dar – sie sind jetzt stärker nach unten gekröpft und wirken auch kräftiger in der Ausführung.

Das findet sich genau so beim 1910 eingeführten Nachfolger des Stoewer G4 – dem Typ LT4. Er besaß ebenfalls einen 1,6 Liter-Motor, der nunmehr 20 PS leistete.

Festzuhalten ist außerdem eine Art Innenkotflügel in Form eines zusätzlichen Blechs, das die Fahrzeugfront gegen Verschmutzung durch die Vorderräder schützt.

Der ab 1911 gebaute Stoewer B1 – der Nachfolger des LT4 – besaß dieses Detail ebenfalls. Doch die noch wie nachträglich aufgesetzt wirkende Windkappe des Wagens auf dem Foto von Matthias Schmidt spricht für die frühe Datierung auf 1910 und somit für den nur in jenem Jahr gebauten LT4.

Was bleibt von dieser Betrachtung außer der Erkennntnis, dass alles im Fluss ist und wir uns mit den unabänderlichen Umbrüchen in unseren Tagen abfinden müssen?

Nun, zwei Dinge: Zum einen kann man sich heute nach Belieben mit den Dingen und Phänomenen der Vergangenheit befassen und darin versenken, wie vielleicht noch in keiner Epoche zuvor. Unsere Welt besteht also nicht nur aus dem Hier und Jetzt, sondern wird auch durch alle die faszinierenden Dinge bereichert, die Menschen einst geschaffen haben.

Zum anderen ist es erstaunlich, wie vieles es gibt, das sich über die Zeiten erhalten hat und uns mit der Welt von gestern verbindet. Das gilt für eine Violine ebenso wie für das Beil, mit dem man sein Feuerholz zurichtet, das gilt für die Krawatte, die man sich zu einem bestimmten Anlass immer noch bindet, wie für den Reiz von Damenschuhen mit Absatz.

Und wenn Sie einmal bewusst um ihr Auto herumgehen, dann finden Sie da immer noch „Kotflügel“, obwohl es längst keine Pferdeäpfel mehr auf den Straßen mehr gibt, es gibt auch immer noch Handschuhfach und Hutablage.

Sogar der heute thematisierte Windlauf begleitet uns heute noch durch’s automobile Dasein. Es ist die unscheinbare Blechpartie zwischen dem hinteren Abschluss der Motorhaube und der Windschutzscheibe.

Erstaunlich, nicht wahr? Und wenn Sie mal wieder den Eindruck haben, dass Sie die Welt nicht mehr begreifen, weil alles so rasant im Wandel ist, dann suchen Sie Zuflucht in meinem Blog – hier steht die Zeit nämlich still in Form fotografisch eingefrorener Momente.

Im übrigen sei an den paradoxen Ausspruch des Fürsten von Lampedusa im sizilianischen Roman „Gattopardo“ erinnert: „Alles muss sich ändern, damit die Dinge so bleiben, wie sie sind.“ Begrüßen wir bei aller Begeisterung für die automobile Vergangenheit auch die Gegenwart und Zukunft – was auch Neues entsteht, trägt doch immer auch bekannte Züge…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ein Gedanke zu „Zeugen des Umbruchs anno 1910: Stoewer G4 und LT4

  1. Doch noch ein paar Bemerkungen zum damaligen Entwicklungsstand der Technik im Hause Stoewer:
    Genaue Analyse der „Windschutzeinrichtung“ beim ersten Wagen ergibt einen fest und unbeweglich verschraubten, undurchsichtigen unteren Teil des Windschutzes sowie eine um 180 Grad schwenkbare Scheibe. Hierbei handelt es sich demnach um eine Vorform der nachmaligen Windkappe .
    Noch nie gesehen habe ich in diesen Baujahren so was wie Schonbezüge auf den ja wohl durchweg aus gutem Leder bestehenden Ledersitzen.
    Hier eindeutig zu sehen, offenbar aus hellem Segeltuch
    genäht.
    Die stärkere Ausrundung der vorderen Rahmenenden beim neueren Wagen steht in Beziehung zur deutlich schwächeren Federsprengung
    der Vorderfedern. Das brachte eine Komforterhöhung durch „feinfühligeres“ Ansrechen der Federn auf die Gegebenheiten des deutschen Straßenwesens.

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