Der Herde fern und doch ganz nah: Austro-Daimler ADV

Mit dem Titel meines heutigen Blog-Eintrags bin ich sehr zufrieden. Denn er spielt mit der schillernden Doppeldeutigkeit des Begriffs der Herde und beschreibt zugleich treffend das, was ich diesmal an Bildmaterial zu bieten habe.

Zufälligerweise, geht es dabei fast genau 100 Jahre zurück in die erste Hälfte der 1920er Jahre. Damals fuhr unter Deutschlands Automobilisten die Mehrheit – von Masse möchte ich mangels derselben nicht sprechen – vor allem Modelle in der Klasse von etwa 25 bis 30 PS Spitzenleistung.

Am verbreitetsten waren: Brennabor Typ P 8/24 PS, Presto Typ D 9/30 PS, NAG Typ C 10/30 PS und Protos Typ C 10/30 PS. Etwas darüber angesiedelt war der Mercedes Knight 16/45 PS, von dem ebenfalls einige tausend Exemplare entstanden:

Daimer „Mercedes“ 16/45 PS (vermutlich); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wem das alles zu ordinär war und wer sich fern der Herde bewegen wollte – noch dazu mit forcierter Gangart – für den kam aus deutscher Produktion allenfalls noch der Kompressor-Mercedes 10/40/65 PS in Betracht.

Von den zuvor genannten, in größeren Stückzahlen gebauten Wagen unterschied der sich vor allem durch die moderne Motorenkonstruktion mit v-förmig im Zylinderkopf hängenden Ventilen und Steuerung über obenliegende Nockenwelle.

Wer es sich auf den damaligen Straßen traute, konnte damit ohne Weiteres die magische Grenze von 100 km/h übertreffen.

Der im Alltag wichtigeren Elastizität des Motors – geschätzt auf Reisen und auf Bergstrecken – wurde allerdings durch den relativ geringen Hubraum von 2,6 Litern Grenzen gesetzt.

Welche Wahl hatte nun der Herrenfahrer, welcher damals abseits der Herde fahren wollte – und noch dazu mit der Souveränität, die man sich für längere Touren gen Süden und über die Alpen wünschte?

Da kam im deutschsprachigen Raum neben dem raren Simson Typ F 14/65 PS eigentlich nur ein Modell eines etablierten Herstellers in Betracht: Der Typ ADV von Austro-Daimler!

Dieses phänomenale Fahrzeug mit seinem prachtvollen 4,4 Liter Sechszylinder, der dank obenliegender Nockenwelle besonders drehfreudig war und 60 PS leistete, habe ich in meinem Blog bereits das eine oder andere Mal gewürdigt.

Doch bislang konnte ich „nur“ die gängige offene Ausführung als Tourenwagen zeigen:

Austro-Daimler ADV; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Auf dieser Aufnahme erkennt man die vorderen Trommelbremsen, welche den 1923 eingeführten Typ ADV vom technisch sonst weitgehend identischen Vorgänge AD617 unterschieden.

Serienmäßig bot diese gerade bei Abfahrten so wichtige Zutat unter deutschen Herstellern damals meines Wissens niemand. Ein Beispiel für ein anderes ausländisches Serienfabrikat, welches sogar schon ab 1920 Vorderradbremsen verbaute, bringe ich bei Gelegenheit.

Mit den Vorderradbremsen verwies der Austro-Daimler ADV seinerzeit alle deutschen Konkurrenten auf hintere Plätze. Doch so sehr sich der Besitzer eines solchen Wagens damit bereits fern der Herde bewegte, gab es die Möglichkeit auf noch mehr Distinktion.

Wer richtig solvent war und bei Fernreisen Wert auf vollwertigen Wetterschutz legte, der kaufte den Austro-Daimler ADV kurzerhand als Limousine und dann natürlich mit dem besonders aufwendigen und kolossal teuren Sechsfensteraufbau:

Austro-Daimler ADV; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der Herr mit den Segelohren und der Sturmfrisur gab auch durch seine extravagante Kleidung zu erkennen, dass er ein Dasein fern der Herde bevorzugte. Im 19. Jh hätte man ihn halb geringschätzig, halb heimlich bewundernd als Dandy bezeichnet.

Man sieht an seinem Beispiel, dass man sich Individualität in der äußeren Erscheinung nicht notwendigerweise durch Verstümmelungen mittels allerlei Blechzutaten in der Haut oder wilder Malereien unter derselben erkaufen muss.

Dieser Paradiesvogel von Mann mit der wenig stahlhelmgerechten Haarpracht war ein Musterbeispiel für einen Zeitgenossen, der sich bewusst außerhalb der Herde platzierte, ohne zu provozieren und aus Hässlichkeit einen Kult zu machen.

Da können die Damen diesmal leider nicht mithalten, denen ich sonst doch so gern gerecht zu werden mich bemühe. Doch die antifeminine Mode jener Jahre wirkte leider nur an wenigen Frauentypen überzeugend, wobei ich nichts gegen einen frechen Bubikopf und ein Charleston-Kleid einzuwenden habe, wenn Gesicht und Figur dazu passen.

Doch bei dieser „Konkurrenz“ erzielt diesmal der Herr für mich den ersten Preis in diesem Mode-Concours.

Er war mit seinem sportlich karierten Dress der Herde aus meist feisten Mittelklasse-Automobilisten fern, denen man den „Genuss“ von zu fettem Essen, Schnaps und Zigarren deutlich ansah.

Gleichzeitig war er mit dem mächtigen Austro-Daimler ADV mit Limousinenaufbau aber auch der Herde ganz nah und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Denn Fortuna wollte, dass ich zusammen mit dem Albumblatt, auf dem die obige Aufnahme die Zeiten überdauert hat, ein umseitig aufgeklebtes Foto erwarb, das die vom Individualisten verachtete Herde diesmal von ihrer schönsten, ja liebenswerten Seite zeigt.

Vermutlich auf einer der Touren mit dem Austro-Daimler muss diese stimmungsvolle Aufnahme entstanden sein, mit der ich für heute schließen möchte – denn eine solche zeitlose Szenerie bedarf keiner weiteren Kommentierung:

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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