Spagat zwischen Stil und Funktion: Adler 10/45-50 PS

Heute unternehmen wir einen Ausflug ins Deutschland der Mitte der 1920er Jahre. Damals gewann eine der für mich fatalsten Ideologien in Sachen Gestaltung die Oberhand – der radikale Funktionalismus.

Ohne Rücksicht auf jahrtausendealte Erfahrungen und menschliche Bedürfnisse erhoben einflussreiche Vertreter ihrer Zunft die frei erfundene These zum Naturgesetz, wonach sich die Gestaltung eines Gegenstands aus seiner Funktion zu ergeben habe.

Schönheit, Eleganz und Wohlproportioniertheit als eigene Werte wurden unnötig abgetan, Dekor wurde von einigen deutschen Design-Extremisten sogar kriminalisiert.

Diesem unseligen Geist haben wir unter anderem die bis heute hierzulande unausrottbare und immergleiche freudlose Schukarton-Architektur zu verdanken. Zum Glück gibt es im Ausland auch andere Strömungen, die dem primitiven Bauhaus-Kult abgeschworen haben und durchaus expressiven bis überwältigenden Formen wieder Raum geben.

Im Bereich der Automobilgestaltung markiert die Mitte der 1920er Jahre die Abkehr von den Relikten der damaligen Vorkriegszeit – vor allem dem bis dato im deutschen Sprachraum dominierenden Spitzkühler, der Dynamik und Windschnittigkeit zum Ausdruck brachte:

unbekannter deutscher Tourenwagen der frühen 1920er Jahre; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Rein funktionell brauchte man diese aufregenden Formen nicht, ein flacher Kühler erreichte bei ausreichender Dimensionierung denselben Luftdurchsatz.

Auch die breite und hier zusätzlich farblich betonte „Schulter“ an der Flanke der Karosserie war nicht „notwendig“ – dasselbe gilt für den nach hinten waagerecht auslaufenden Kotflügel, welcher die Dynamik des Wagens rein optisch betonen sollte.

Auch bei der Traditionsfirma „Adler“ aus Frankfurt am Main hinterließ die neue Nüchternheit ab 1925 unübersehbar Spuren – selbst bei gehobenen und enorm teuren Wagen wie dem Typ 10/45 PS von 1925 bzw. seinem 6-Zylinder-Pendant 10/50 PS.

Beide Varianten lassen sich äußerlich m.E. nicht auseinanderhalten, der minimale Unterschied im Radstand hilft nicht, wenn man alte Fotos vor sich hat wie dieses:

Adler 10/45 PS bzw. 10/50 PS von 1925-26; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wie man bei einem fast eigenschaftslosen Tourenwagen darauf kommt, dass man es wahrscheinlich mit so einem mittelschweren Adler von 1925/26 zu tun hat (es gab darüber noch einen raren 18/80 PS Typ), das habe ich vor einigen Jahren hier vorgeführt.

In der Zwischenzeit tauchte noch ein dazu passendes Foto auf, das ich wieder einmal Leser Klaas Dierks verdanke, der ein ganz besonderes Gespür für Qualität hat.

Die Aufnahme lässt erkennen, dass Adler der Spagat zwischen Stil und Funktion tatsächlich gelungen war. Hier zeigt sich der Tourer 10/45 bzw. 10/50 PS durchaus gefällig:

Adler 10/45 PS oder 10/50 PS, Bauzeit: 1925/26; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Dass ein ansprechender Stil hier nicht zu kurz kommt, ist freilich vor allem dem gekonnt posierenden und figurbetont gekleideten Mann neben dem Auto zu verdanken.

Ein Übriges tun hier die geneigte Frontscheibe und der verwegen wie eine Bombe gestaltete Reservekanister auf dem Trittbrett. Wäre es nach der beschränkten Logik der Funktionalisten gegangen, hätte man dort zwingend einen rechteckigen Kasten installiert.

Heute habe ich dank eines weiteren Lesers und mit guter Nase ausgestatteten Sammlers – Matthias Schmidt aus Dresden – das Vergnügen, erneut den Spagat zwischen Stil und Funktion zu thematisieren, den ein Foto mit einem Adler Tourer von Mitte der 20er Jahre erkennen lässt:

Adler 10/45 PS oder 10/50 PS, Bauzeit: 1925/26; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dass wir es hier mit demselben Typ zu tun haben, das muss wohl nicht umständlich begründet werden. Gern wüsste man wieder, ob und wie sich das 4-Zylindermodell 10/45 PS vom nur ein Jahr später erschienen 6-Zylindertyp 10/50 PS äußerlich unterschieden.

Auch wäre es reizvoll zu erfahren, weshalb die Adler-Leute den 6-Zylinder nach nur einem Jahr – also anno 1926 – mit geändertem Verhältnis aus Zylinderbohrung und Hub anboten. Jedenfalls wurde das nun kurzhubigere Aggregat drehfreudiger und die Spitzenleistung fiel bei 3000 Umdrehungen pro Minute statt zuvor 2800 an. War das der einzige Grund?

Vier Gänge und Vierradbremsen waren allen diesen Varianten gemeinsam, ebenso die solide 12 Volt-Elektrik und der achtbare Radstand von rund 3,30 Metern. Quellen zu den Hintergründen dieser Varianten sind mir nicht bekannt.

Auch die Website des seit über 50 Jahren bestehenden Adler Motor Veteranen-Clubs schweigt sich über diese Modelle ebenso aus wie über die meisten frühen Adler, obwohl Material und Wissen dort sicher reichlich vorhanden sind.

So bleibt mir heute nur, dieses Foto von Matthias Schmidt meiner quasi im Vorübergehen aufgebauten Adler-Galerie einzuverleiben – der größten allgemein zugänglichen ihrer Art.

Eine letzte Bemerkung zum Spagat zwischen Stil und Funktion kann ich mir nicht verkneifen. Wieso posieren die beiden Herren in dem repräsentativen Adler ausgerechnet in Unterwäsche – also dem ultrafunktionellen Feinripp-Unterhemd?

Ich könnte mir nur vorstellen, dass sie in einer Fabrik mit schmutzigen Arbeiten tätig waren, gerade aus der Dusche kamen und die Gelegenheit nutzten, den Adler des Direktors zu okkupieren. Das hätte schon wieder einen gewissen kühnen Stil…

Doch nein, das ist eher unwahrscheinlich, der Kontext dieses Fotos mit dem Kleinkind muss ein anderer gewesen sein. Ideen dazu – auch humorvolle – sind wie immer willkommen!

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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