Fund des Monats: Der Metallurgique-Maybach

Den Fund des Monats präsentiere ich für gewöhnlich eher sachlich – das fängt schon beim Titel an. Dieser fällt heute dennoch in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich aus.

Erstens verwende ich den bestimmten Artikel, denn es handelt sich um ein unzweifelhaftes Einzelstück. Zweitens vereint das vorgestellte Vehikel zwei Markennamen, die eigentlich nichts miteinander verbindet. Drittens nenne ich kein Baujahr, weil man sich dann für eines der in Frage kommenden Jahre entscheiden müsste: 1907, 1919 oder 1950.

Den echten Kennern der Vorkriegsszene ist dieses in jeder Hinsicht einzigartige Fahrzeug natürlich bekannt. Ich selbst musste eine Weile recherchieren, bevor ich herausfand, was das für ein Auto war, welches auf der folgenden Aufnahme zu sehen ist.

Diese entstand irgendwann in den späten 1950er Jahren in Westdeutschland, wie die Heckpartie eines DKW aus Nachkriegsfertigung und die deutsche Türaufschrift beweist:

Metallurgique-Maybach; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ungeachtet der furchteinflößenden Dimensionen nähern wir uns diesem Gefährt ganz respektlos und behandeln es wie jeden anderen unbekannten Zeitzeugen auf vier Rädern.

Am Anfang steht – das ist der einfache Part – die Datierung. Die gasbetriebenen Scheinwerfer verweisen schon einmal auf die Zeit vor dem 1. Weltkrieg – ab 1913/14 wurde bei Automobilen der Oberklasse zunehmend elektrische Beleuchtung angeboten.

Das unvermittelte Aufeinanderstoßen der Motorhaube und der Schottwand zum Fahrerabteil verweist auf die Epoche vor 1910. In jenem Jahr starb der englische König Edward VII, der namensgebend für die um 1900 einsetzende Edwardian Era war, die sich in Großbritannien auch auf Autos aus jener Zeit bezieht – die sogenannten „Edwardians“.

Dazu passt der „Aufbau“, der statt einer Karosserie lediglich auf dem Chassis montierte Sitzgelegenheiten umfasst.

Man würde das Erscheinungsbild des Wagens jedenfalls irgendwo zwischen 1905 und 1910 verorten – das wird sich noch als zutreffend und zugleich „nicht ganz richtig“ erweisen.

Unerwartet schwierig wird es, wenn es um die Ansprache des Herstellers geht. Ein sechszackiger Stern auf dem Kühler mit den beiden Großbuchstaben „MM“ darin sollte doch mühelos einem bestimmten Fabrikat zuzuordnen sein, möchte man meinen.

Ist es auch, bloß kam ich erst nicht sofort darauf. Ich hatte mich von dem gedoppelten „M“ auf die falsche Fährte locken lassen. Und nein: „MM“ steht mitnichten für Metallurgique-Maybach, auch wenn es perfekt passt – ein kurioser Zufall, nebenbei.

Zwar war es die belgische Firma Metallurgique, welche ab 1905 das Kürzel „MM“ verwendete, das auf etlichen Bauteilen der damaligen Wagen erscheint. Doch das zweite „M“ stand für den Firmensitz „Marchienne-au-Pont“.

Ebendort hatte man 1907 ein neues Spitzenmodell herausgebracht, welches die Basis des späteren Metallurgique-Maybach darstellen sollte. Die Rede ist vom fast 100 PS leistenden Vierzylindertyp 60/80 CV mit 9,9 Litern Hubraum.

Einer dieser Riesen fand damals einen britischen Käufer und wurde 12 Jahre später – anno 1919 – Gegenstand einer bemerkenswerten „Fusion“. So wurde das Chassis verlängert und der Motor durch etwas ersetzt, was das ursprüngliche Aggregat in den Schatten stellte.

Verbaut wurde ein 6-Zylindermotor aus dem süddeutschen Hause Maybach, der vor dem 1. Weltkrieg als Antrieb für Boote und Luftschiffe gefertigt worden war. Mit gigantischen 21 Litern Hubraum leistete der Motor 180 PS bei einer Drehzahl von weniger als 1500 U/min.

Der in der englischen Grafschaft Norfolk lebende neue Eigner dieser Schöpfung hatte nur zwei Jahre Freude daran – er starb bereits 1921. Fast 30 Jahre schlummerte der Metallurgique-Maybach anschließend einen Dornröschenschlaf.

1951 erfuhr ein ebenfalls in der Region lebender Enthusiast – Gordon Fitzpatrick (1906-1986) von der Wiederentdeckung des Monsters und erwarb es.

Gemeinsam mit einem motorenkundigen ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen brachte Fitzpatrick den Wagen wieder zum Laufen und verpasste ihm einen selbstentworfenen Aufbau, da die Ausführung von 1919 nicht mehr nach „Edwardian“ aussah.

Die vom ursprünglichen Metallurgique stammende Haubenpartie wurde beibehalten. Fitzpatrick setzte den 180 km/h schnellen Wagen bei Wettbewerben ein und fuhr außerdem damit durch halb Europa.

Bei einer solchen Gelegenheit muss das heute vorgestellte Foto entstanden sein. Wann und wo genau das war – und wen es am Steuer zeigt – muss bisher offen bleiben.

Der Metallurgique-Maybach wechselte wiederholt den Besitzer, präsentiert sich aber immer noch in dem großartigen Zustand, in den ihn einst Gordon Fitzpatrick versetzt hat. Ob man das Auto nun als echten Edwardian ansieht oder nicht, ist letztlich unerheblich.

Es ist auf jeden Fall ein authentisches Zeugnis vom Weiterleben eines frühen Supersportwagens aus einer Epoche, in der hauptsächlich Hubraum und Haltbarkeit sowie die völlige Furchtlosigkeit der „Insassen“ über die Leistungsfähigkeit bestimmten.

Und nun genießen Sie die Details dieses Fabeltiers, vielleicht werden Sie auch das eingangs erwähnte Kürzel „MM“ dabei wiederentdecken:

Videoquelle: Youtube.com; hochgeladen von Classic Motorcars Holland

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ein Gedanke zu „Fund des Monats: Der Metallurgique-Maybach

  1. Interesting photo. I have sat in this car and I have seen it in action as I wrote a booklet on its history for the current owner. And we summarized it in Rare & Unique Vehicles a couple years ago.
    I don’t know the person, but he’s not Douglas Fitzpatrick and he’s not Gerry, the mentioned war prisoner. Here is a photo from the Autocar, 1956 showing the two of them
    https://ceautoclassic.eu/files/met.jpg

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