Zu den großen Autonationen der Vorkriegszeit – bitte lachen sie jetzt nicht – gehörte auch das kleine Belgien. Bis zum 1. Weltkrieg waren die unzähligen belgischen Fabrikate sogar lange Zeit auf Augenhöhe mit den führenden Herstellern im benachbarten Frankreich.
In unserem sehr von sich eingenommenen Land bedeutender Pioniere wie Daimler und Benz, Horch und Maybach wird gern die Leistung der Nachbarn westlich des Rheins bei der Entwicklung des Automobils zu einem alltagstauglichen und wachsenden Schichten zugänglichen Fortbewegungsmittel übergangen.
Speziell die belgischen Hersteller verdienen dabei, wieder in ein angemessenes Bild gerückt zu werden – einen Beitrag dazu will ich heute leisten. Im Vorfeld beschäftigte mich die Frage, weshalb zwar Belgien, aber nicht die benachbarten Niederlande trotz einiger kultureller Überschneidungen eine bedeutende Automobilfabrikation besaßen.
Ohne dies nun genau untersucht zu haben, vermute ich, dass dies einfach eine Frage der Kohle war. Damit ist aber nicht die Verfügbarkeit von Kapital gemeint – die alte Händlernation der Holländer gehörte und gehört zu den reichsten Europas.
Nein, der entscheidende Faktor für die technologischen Voraussetzungen einer Automobilinduustrie scheint mir konkret das Vorhandensein großer Kohlevorkommen zu sein. Dies haben England, Frankreich, Deutschland und eben auch Belgien gemeinsam.
Die Entwässerung von Bergwerken erforderte irgendwann den Einsatz von Dampfmaschinen, der Abtransport der geförderten Kohle legte den Einsatz von Eisenbahnen nahe.
Die zur Beherrschung und Weiterentwicklung dieser Technologien erforderte fähige Ingenieure und hochqualifizierte Arbeiter. Dazu entstanden entsprechende Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen, die vielfältige Früchte abwarfen, die wir heute für selbstverständlich halten. Das Automobil ist vielleicht das großartigste Resultat.
Allerdings brauchte man zu dessen Erwerb vor 100 Jahren zumindest außerhalb der USA auch im übertragenen Sinne reichlich „Kohle“. Das veranschaulicht das Foto, welches ich Ihnen heute vorstellen darf – es stammt aus dem Fundus von Matthias Schmidt (Dresden):

Was den Hersteller diese beeindruckenden Sechsfenster-Limousine (in Deutschland hätte man sie später wohl als Pullman-Limousine tituliert) betrifft, ist der Fall klar:
Auf dem Kühler ist das Akronym FN zu erkennen, wobei die beiden Buchstaben durch ein hochgestelltes Gewehr mit Bajonett getrennt sind. Das war das Markenemblem der Fabrique Nationale d’Armes de Guerre, welche 1886 zur Produktion von Kriegswaffen im belgischen Herstal gegründet worden war.
Ab 1896 begann FN seine Aktivitäten breiter aufzufächern – zunächst mit der Aufnahme einer Fahrradproduktion. Nach einigen Fehlversuchen ließ man anno 1899 von einem italienischen Ingenieur einen Automobil-Prototyp entwickeln. Er markiert den Beginn einer stürmischen Entwicklung bis in die 1920er Jahre.
Hierzulande kaum bekannt dürfte beispielsweise der 100 PS starke Hybrid-Rennwagen sein, den FN im Jahr 1902 für einen gewissen Camille Jenatzy konstruierte. Der deutsche Kronprinz Heinrich besaß außerdem einen um 1910 entstandenen 6,8 Liter Sportwagen von FN, der auf einem Patent von Rochet-Schneider basierte.
Vor dem 1. Weltkrieg nahm FN auch die Produktion von Klein- und Mittelklassewagen auf. Daran knüpfte man ab 1918 an. Ende 1922 wurde das neue Vierzylindermodell 2200 (mit 2,2 Hubraum) herausgebracht. Viergang-Getriebe, optionale Linkslenkung und innenliegende Schaltung zeichneten den Wagen als fortschrittliche Konstruktion aus. 1925 wurden serienmäßig zudem Vorderradbremsen verbaut, ab nun Standard in der Klasse.
Einen solchen FN 2200 sehen wir sehr wahrscheinlich auf dem Foto von Matthias Schmidt. Nicht ganz ausschließen möchte ich den bereits 1914 vorgestellten stärkeren FN 3800, der allerdings nur in dreistellige Stückzahl von 1921-1925 entstand.
Vom gut 30 PS leistenden Mittelklassemodell FN 2200 entstanden bis 1926 dagegen rund 1500 Exemplare. Fast die doppelte Stückzahl wurde zwar von dem parallel angeboteten Kleinwagen FN 1300 gebaut – doch der kommt trotz ähnlicher Gestaltung der Kühlerpartie für den schweren Sechsfenster-Aufbau des heute vorgestellten Wagens kaum in Betracht.
Ende 1925 wurde der FN 2200 übrigens technisch modernisiert – bei gleichbleibendem Hubraum erhielt er nun im Zylinderkopf liegende Ventile. Damit war nun eine Spitzengeschwindigkeit von 100 km/h erreichbar.
Spontan wüsste ich jetzt kein technisch und leistungsmäßig vergleichbares deutsches Fabrikat in dieser Hubraumklasse. Kein Wunder, dass sich einige Leute mit Kohle und ohne nationalistisch begrenzten Horizont auch in Deutschland hierzulande gern ein solches Gerät zulegten und es fast zehn Jahre immer noch fuhren (Porträt hier):
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Sehr interessant – danke für die Ergänzung!
Nicht nur Prinz Heinrich besaß einen FN, auch Prinz-Regent Luitpold von Bayern hatte einen. 1912 kaufte er einen FN 10/25 PS bei den Gebrüdern Beissbarth in München, die u.a. eine FN-Vertretung hatten und ließ sich in deren Karosseriefabrik eine Landaulet-Karosserie maßschneidern.
Mit Grüßen
Alex