Leben in vollen Zügen: Ein Hanomag „Kurier“

Na, woran dachten Sie zuerst beim Titel meines heutigen Blog-Eintrags? Rhetorische Frage… Als ich noch Schüler, später Lehrling und sodann Student war, lag die Assoziation auf der Hand – das Leben in vollen Zügen genießen und genau das habe ich getan.

Zwar nutzte ich damals praktisch täglich die Bahn als Fortbewegungsmittel, doch an überfüllte Züge und entsprechende Unzuträglichkeiten kann ich mich kaum erinnern.

Irgendwann nach der Jahrtausendwende wurde aus dem Leben in vollen Zügen ein beinahe regelmäßiger Horror – auf der Strecke zum Arbeitsplatz in Frankfurt/Main waren Ausfälle, Umleitungen, defekte Heizungen, Klimaanlagen und Toiletten fast der Normalzustand.

Hinzu kamen notorisch falsche oder unterbleibende Durchsagen an den Bahnsteigen – alles Sachen, die nicht nur auf inkompetentes Führungspersonal beim Staatsbetrieb Deutsche Bahn oder gar eine angebliche Privatisierung zurückzuführen waren.

Nein, der Laden hatte und hat ein zunehmendes strukturelles Problem mit dem Arbeitsethos in der Breite der Belegschaft. Vor über zehn Jahren wurde mir das Leben in vollen (oder ausfallenden) Zügen zu bunt – ich machte mich selbständig und arbeite seither von zuhause oder von beliebigen Orten, an denen ich mich gerade aufhalte.

Mein Arbeitsleben ist dadurch zwar in gewisser Weise härter geworden – sechs Wochen bezahltes Nichtstun und Lohnfortzahlung bei oft selbstverschuldeten bis frei erfundenen Malaisen gibt es nicht, auch wird man mit der vollen Höhe der Vorsorgebelastungen konfrontiert, die Angestellten durch den angeblichen Arbeitgeberanteil vernebelt werden.

Doch die Vorteile überwiegen, und wenn andere sich dem Roulettespiel des Bahnfahrens aussetzen – ich habe wirklich Mitleid mit den Leuten bei allem, was man so hört – kann ich mich der Gartenarbeit hingeben, am alten Blech schrauben, mit dem Rad oder Moped fahren usw.

Nichtstun kenne ich übrigens nicht, und das wäre ja auch Verschwendung von Lebenszeit.

So, jetzt habe ich wieder viel zu lange meine subjektive Sicht auf das Leben in vollen Zügen dargelegt – höchste Zeit jemand anderem das Feld zu überlassen. Wer das war, weiß ich zwar nicht, seine Existenz bleibt geheimnisvoll schattenhaft…

Doch hat er eine Spur seines Wirkens hinterlassen, die ich Ihnen nicht vorenthalten will, und die ist ein wunderbar sympathisches Zeugnis des Lebens in vollen Zügen:

Hanomag „Kurier“, Zulassung Tilsit (Ostpreußen); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese schöne Aufnahme entstand einst bei tiefstehender Sonne und erzählt vom Ende eines langen Sommertags in Ostpreußen – im Landkreis Tilsit, um genau zu sein.

Dort war nämlich der kleine Hanomag „Kurier“ mit zweitürigem Limousinenaufbau zugelassen, auf dem das junge Fotomodell sitzt, welches gerade das Leben in vollen Zügen mit der damals obligaten Zigarette in der Hand genießt.

Zu dem Auto ist nicht viel zu sagen – ein ab 1934 gebauter konservativ gehaltener Wagen der unteren Mittelklasse mit 1,1 Liter-Vierzylinder und 23 PS Leistung. Die Stärke der Hanomags lag in der sehr robusten Konstruktion, was die gemessen an der Stückzahl (gut 10.000 Stück) relativ vielen überlebenden Exemplare in der Nachkriegszeit erklärt.

Ohnehin fasziniert auf dieser Aufnahme wie so oft das menschliche Element:

Man könnte es bei dieser Betrachtung bewenden lassen und den Tag zufrieden mit sich und der Welt beschließen, wäre da nicht ein Makel.

Denn wir wissen, dass diese unbekannte Ostpreußin und ihr Fotograf im Winter 1944/45 die Heimat vor der näherrückenden Sowjetarmee verlassen mussten. Das konnten sie allerdings nicht in vollen Zügen tun, wie das anfangs noch meine Mutter im Februar 1945 tun „durfte“, als sie als 13-jährige aus dem schlesischen Liegnitz floh.

Nein, aus Ostpreußen mussten die Menschen überwiegend zu Fuß und mit Pferdefuhrwerken auf „unfreiwillige Wanderschaft“ gehen – ein zynisches „Bonmot“ eines sehr von sich eingenommenen ehemaligen deutschen Bundespräsidenten .

Ich erspare uns an dieser Stelle die auf Youtube verfügbaren Bordkameraaufnahmen sowjetischer Jäger, die damals Flüchtlingstrecks zusammenschossen – ein widerlicher „Sport“, an dem bekanntlich auch die damaligen „Kameraden“ der US-Luftwaffe Gefallen fanden, wenn sie keinen echten Gegner fanden.

Im vorliegenden Fall wissen wir immerhin, dass der jungen Dame auf dem Kotflügel des Hanomag wahrscheinlich die Flucht gelungen ist, sonst hätten wir kaum diese Aufnahme.

So bleibt am Ende nicht viel vom Leben in vollen Zügen übrig, außer einem Kloß im Hals, oder? Doch eine Sache: Dass wir alles tun sollten, um uns nicht in einen Krieg hineinziehen zu lassen. Dazu gehört glaubwürdig wehrhaft zu sein, was das eigene Territorium und die eigene Lebesweise angeht, aber sich ansonsten neutral zu verhalten.

Nicht umsonst pflegen die meisten, die an einem Krieg teilgenommen und das überlebt haben, zu sagen: „Krieg ist Scheiße“. Also sehen wir dazu, dass wir das Leben in vollen Zügen genießen, aber nicht in solchen an die Front bzw. im Zinksarg oder auf der Bahre zurück…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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