Wann waren Sie das letzte Mal vom Aussehen eines neuen deutschen Autos wirklich begeistert?
In meinem Fall ist das über 10 Jahre her – der 2012 eingeführte Mercedes-Benz CLS in der hocheleganten und radikal unvernünftigen Version als „Shooting Brake“ hatte es mir wirklich angetan – zum ersten Mal seit Daimlers S-Klassen-Coupé der 1980er Jahre.
Seither deprimiert mich nur noch, was aus den Fabriken hierzulande rollt – ganz abgesehen vom selbstmörderischen Opportunismus, mit dem man sich der realitätsentrückten Automobil-Planwirtschaft der EU-Priesterkaste und ihrem Elektrokult unterwirft.
Ein Grund mehr, Ablenkung in der Zeit vor rund 100 Jahren zu suchen, in der kaum etwas besser war als heute – bis auf drei Dinge: Manieren, Kleidung und das Erscheinungsbild der meisten Automobile.
Den Beweis dafür will ich heute am Beispiel eines der meistverkauften deutschen Wagens der ersten Hälfte der 1920er Jahre erbringen. Und am Ende werden Sie vielleicht meinem Urteil zustimmen: Wahre Schönheit altert nicht!
Eine erste Ahnung in der Richtung vermittelt uns diese Dame, die einst an einem kalten Tag im offenen Wagen unterwegs war und sich entsprechend ausstaffiert hatte:

Der Tourer, neben dem sie steht, gehört zu den wenigen Autos jener Zeit, die sich bereits anhand eines derartigen Bildausschnitts sicher identifizieren lassen.
Denn die Kombination aus vorn spitz zulaufenden Kotflügeln und sechs in der hinteren Haubenhälfte angeordneten Luft“kiemen“ gab es nur bei einem Modell – dem Typ D 9/30 PS von Presto aus Chemnitz in Sachsen.
Dass dieses Exemplar über nachgerüstete Radabdeckungen verfügt und vom markanten Kühler wenig zu sehen ist, stört dabei nicht.
Wir sehen dasselbe Fahrzeug hier auf einer zweiten Aufnahme, welche die bis auf den Spitzkühler völlig beliebige Linienführung erkennen lässt:
Tatsächlich war es die Kühlerpartie, welche dem von 1921-25 in etlichen tausend Exemplaren gebauten Vierzylindermodell ihr unverwechselbares Erscheinungsbild gab.
Spitzkühlerwagen gab es nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland und Österreich wie Sand am Meer – eine Mode, welche in anderen Ländern nicht annähernd so ausgeprägt war.
Vielleicht war der Alltag nach dem verheerenden Ausgang des 1. Weltkriegs mit britischer Hungerblockade und den mörderischen Lasten des Versailler „Vertrags“ so deprimierend, dass man gezielt überall dort den Exzess suchte, wo es noch ging.
Neukonstruktionen waren bei den meisten Herstellern nicht drin, sodass die Technik überwiegend auf Vorkriegsniveau blieb. Dafür traute man sich etwas, wo es kaum mehr kostete – aber wirksam war: an der aufmerksamkeitsstarken Frontpartie:
Man bekommt hier ansatzweise eine Vorstellung wie scharfkantig der Kühler des Presto D 9/30 PS ausgeführt war. In Verbindung mit der leicht tropfenförmig zulaufenden Spitze des oberen Kühlerabschlusses machte das kein anderer Hersteller so.
Zweifellos sehr wirkungsvoll, aber gewiss noch nicht umwerfend.
Immerhin bot Presto werksseitig auch eine sportlicher daherkommende Variante an, die ich hier bereits einige Mal dokumentieren konnte – etwa anhand dieses Beispiels:
Technisch war dieses dank Drahtspeichenrädern und abgespecktem Aufbau leichtfüßig erscheinende Gerät praktisch identisch mit dem herkömmlichen Tourer, aber es sah schon richtig flott aus und ließ sich dank niedrigeren Gewichts auch agiler bewegen.
Doch würde man dieser auf’s Nötigste reduzierten Ausführung für den sich sportlich gebenden Käufer einen Schönheitspreis verleihen? Schwer zu sagen – heute wohl schon, allein schon mangels Konkurrenz am deutschen Markt – doch vor 100 Jahren eher nicht.
Damals war bei den einschlägigen Schönheitskonkurrenzen etwas anderes gefragt, was in der französischen Bezeichnung dieser meist an an mondänen Orten stattfindenden Veranstaltungen anklingt: Concours d’Elegance!
Und auf etwas in der Richtung stieß ich heute beim Durchblättern der mir im Original vorliegenden „Berliner Illustrirten Zeitung“ von August 1922. Dort waren nämlich zwei beim bekannten Concours in Baden-Baden ausgezeichnete Wagen abgebildet.
Der eine war ein mächtiger Mercedes, den ich bei Gelegenheit ebenfalls bringen werde, und der andere war ein eher kompakter Presto Typ D 9/30 PS, aber nun mit einer extravaganten Manufakturkarosserie, die sicher nicht im Werk entstanden war:
Nur die Gestaltung des Kühlers und der Vorderkotflügel entspricht noch der Serienversion – die übrige Karosserie ist im Stil eines Boots ausgeführt, eine damals für Spezialaufbauten gern gewählte modische Form.
In diesem Fall scheint man sich bei der Gestaltung des Scheibenrahmens sogar am Spitzwasserschutz eines Motorboots orientiert zu haben – bewusst gesehen habe ich das bei anderen Wagen mit ähnlicher Karosserie so noch nicht.
Die Anleihe beim Bootsbau wird auch durch die Planken andeutende Lackierung unterstrichen, deren Farbschema sich leider nicht rekonstruieren lässt.
Jedenfalls wird der Auftritt dieses Presto „live und in Farbe“ noch wesentlich effektvoller gewesen sein, als es diese alte Schwarzweiß-Wiedergabe ahnen lässt.
Dennoch darf man hier mit Fug und Recht behaupten „Wahre Schönheit altert nicht“ – und ob Sie das jetzt auf den Wagen beziehen oder auf die Gesamtsituation oder auch nur auf die leider namenlose Begleiterin des „Herrn Hoffmann“ – vielleicht seine Tochter oder die Sekretärin – das bleibt ganz Ihnen überlassen.
Solange Sie in Beiträgen wie diesem einen Hafen sehen, in dem Sie für eine Weile Erholung vor dem Irrsinn und den Geschmacklosigkeiten unserer Tage finden, weiß ich, dass meine Arbeit nicht vergebens ist – auch wenn sie in weiten Teilen einer Selbsttherapie gleichkommt…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog
Danke! Viele Spitzkühler nach dem 1. Weltkrieg waren solche Blender – tatsächlich gab es sie sogar als Zubehör, um ältere Wagen modischer gestalten zu können. Das setzte voraus, dass der eigentliche (flache) Kühler dahinter unangetastet blieb.
Die Beiträge in diesem Blog sind wirklich eine Erholung und Flucht aus dem schnöden Alltag der uns umgibt, und ich fiebere jeden Morgen einem neuen Eintrag entgegen.
Leider muss ich manche Tage vergebens warten. Mir ist jedoch bewusst, dass es ein reiner privater und für uns kostenfreier Blog ist und kein Abo bei Zwischengas oder ähnlichen Anbietern die viel Geld für manch geringere Leistung auf diesem Sektor verlangen.
Umso größer ist die Freude, wenn solche tollen Autos der 1920er hier gezeigt werden.
Die Karosserie des Presto erinnert mich stark an die Szawe-Karosserien. Mit der Bootsform und den für meinen Geschmack viel zu hohen kastenförmigen Schwellern sowie den Scheiben-Radblenden musste ich sofort an die Luxuskarosserien von Szabo und Wechselmann aus Berlin denken, aber Herr Klioba hat ja schon auf Zschau verwiesen.
Übrigens ist der schöne Spitzkühler des Presto ein hübscher Blender. Es handelt sich dabei nämlich um einen falschen Spitzkühler. Das eigentliche Kühlernetz ist hierbei ein Flachkühler, dem ein spitzes Gitter vorgesetzt ist. Dieser vorgesetzte Grill ähnelt der später üblichen Kühlermaske die ab Anfang der 30er weitestgehend eingesetzt wurde, ist aber hier noch aufwändig mit den Wasserkästen verlötet. Das Gitter hat den Vorteil, als Steinschlagschutz zu dienen, und gibt dem Presto sein unverkennbares Gesicht.
Die gestreifte Bootskarosserie wurde von Zschau in Leipzig gebaut.
Liebe Grüße
Alex
Besten Dank – auf Fafnir-Basis habe ich diesen Aufbau ebenfalls schon gesehen.
Der Bootsaufbau stammte vom Karosseriebauer Zschau aus Leipzig und wurde in ähnlicher Form auch auf Hansa-Fahrgestell gesetzt.