Premiere eines „Premium“-Autos: Audi E22/55 PS

Auch heute beginne ich mit einer persönlichen Erinnerung in Sachen Nachkriegs-Automobilbau aus deutschen Landen. Der erste und letzte Wagen der Marke Audi, der mich faszinierte, war der aerodynamisch optimierte und dennoch elegante V8 von 1988.

Er vereinte die ästhetische Klarheit des Audi 100 C3 – bei Erscheinen 1982 eine Sensation – mit souveräner Oberklasse-Motorisierung, die man bei der Marke bis dato vermisste.

Das nächste Mal, dass ich mich für Audis erwärmen konnte, war nachdem ich diesen Blog vor bald 10 Jahren begann. Dabei stellte ich fest, dass die Audis der Vorkriegszeit außer dem Namen so gut wie nichts mit den späteren verband – tatsächlich wurde die Marke nach dem Krieg völlig neu gegründet, ohne dass es eine echte Kontinuität gab.

Bemerkenswert auch, dass dem Ingolstädter Massenfabrikat von heute eine reine Manufakturfabrikation mit teils extrem niedrigen Stückzahlen in der Vorkriegszeit gegenüberstand. Vorkriegs-Audis gehören zu den seltensten deutschen Wagen ihrer Zeit.

Eine Gemeinsamkeit findet sich dann doch – der fehlenden Traditionslinie zum Trotz. So brachte Audi kurz vor dem 1. Weltkrieg ein Premium-Auto heraus, dessen Leistungsfähigkeit die bisherigen Typen A bis D (22 bis 45 PS) in den Schatten stellte.

Mit der Premiere des Typs E 22/55 PS, der über einen 5,7 Liter großen Vierzylindermotor verfügte, stieg Audi anno 1913 in die damals hochexklusive Liga der Serienwagen auf, die eine Spitzengeschwindigkeit von 100 km/h erreichen konnten.

Freilich fällt es schwer, in diesem Fall von einem Serienauto zu sprechen – denn bis Produktionsende 1924 entstanden nur rund 300 Exemplare. Dass ich davon überhaupt Fahrzeug auf historischen Fotos zeigen kann, das verdanke ich Lesern meines Blogs, deren Sammlungen meinen eigenen Fundus übertreffen:

Audi Typ E 22/55 PS; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Hier haben wir einen prächtigen Tourer auf einer Aufnahme, die mir Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, der in Sachen Vorkriegs-Audis besonders gut sortiert ist.

Jetzt mögen Sie sich fragen, woran man hier erkennen soll, dass dieser Wagen mit einem keinesfalls ungewöhnlichen Tourenwagenaufbau der frühen 1920er Jahre mit der damals beliebten „Tulpen“-Karosserie und kantig ausgeführter „Schulter“ ein Audi war.

Nun, wie fast immer in solchen Fällen aus der Zeit bis etwa 1930 findet sich die Antwort am vorderen Ende – der Kühlerpartie, um genau zu sein.

Ein auf den ersten Blick überraschendes Vergleichsexemplar, das ich schon einmal präsentieren durfte, zeigt diese Aufnahme aus der Sammlung von Leser Matthias Schmidt:

Audi Typ E 22/55 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Hier sieht man in aller Klarheit und Schärfe das, was die Audis der Zeit direkt nach dem 1. Weltkrieg unverwechselbar machte – ein Spitzkühler, der nach unten hin weiter vorsprang.

Diese bei deutschen Herstellern einzigartige Gestaltung erlaubt auch die Ansprache des Wagens auf dem Foto von Klaas Dierks als Audi jener Zeit.

Dazu werfen Sie bitte einen genauen Blick auf die Frontpartie unterhalb der Scheinwerfer und noch unterhalb der kleineren Lampen, welche der Ausleuchtung der Straßenseite speziell in Kurven auf dunklen Landstraßen dienten:

Haben Sie dort die vorspringende Kante des Kühlers entdeckt? – Gut, denn in Verbindung mit dem aufgesetzten ovalen Kühleremblem und den (oft verbauten) Drahtspeichenrädern ist dies ein untrügliches Indiz dafür, dass man es mit einem Audi zu tun hat.

Nun gilt es „nur“ noch, den genauen Typ zu bestimmen.

Audi bot nach dem 1. Weltkrieg drei bewährte Modelle an: Das kleinste war der noch 1914 eingeführte Typ G 8/22 PS, den wir hier getrost ausschließen können. Daneben gab es weiterhin das meistverkaufte Modell C 14/35 PS mit 3,6 Litern Hubraum.

Nach oben abgerundet wurde die Palette durch den erwähnten Premiumtyp E 22/55 PS. Ich schätze, dass das Bild aus der Sammlung von Klaas Dierks wahrscheinlich ein entsprechendes Modell zeigt.

Letztendliche Gewissheit dürfte diesbezüglich nicht zu erlangen sein, da der schwächere C-Typ in einigen Fällen mit einem längeren Radstand ausgeliefert wurde, welcher in etwa dem kürzesten Chassis des E-Typs entsprach.

Da sich der Fall aber ohnehin nicht mehr klären lässt und ich hier als „Blog-Wart“ das Sagen habe, gefällt mir die Lösung, dass wir es wohl mit dem ersten Premium-Audi zu tun haben, welcher seine Premiere 1913 erlebte und bis fast zur Mitte der 1920er Jahre durchhielt.

Für echte Audi-Gourmets ist so etwas reizvoller als die massenhaft als Vertreterwagen die linke Spur der Autobahn bevölkernden Wiedergänger, die zudem noch die vier Ringe der einstigen Auto-Union tragen, die ihnen meiner Meinung nach kaum zustehen…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog

5 Gedanken zu „Premiere eines „Premium“-Autos: Audi E22/55 PS

  1. Hallo Claus! hier ist René aus Dresden. Ich bin ebenfalls im Besitz eines Audi Spitzkühlers von 1921. Wäre es möglich das wir uns kennenlernen um die Kühler vergleichen zu können? Ich beschäftige mich mit Audi aus der Frühzeit und habe schon eine kleine Sammlung aufgebaut. Gruß René T.

  2. Ein weiteres schönes Stück. Es hat mir Spaß gemacht, es zu lesen. Danke schön.

    Claus H. Ich war letztes Wochenende auch auf der Veterama, habe aber leider den Audi Kühler verpasst. Vor einigen Jahren wurde eines auch im Internet angeboten. Auch das Audi-Emblem fehlte. Könnte es das Gleiche sein? Haben Sie Fotos von Ihrem stolzesten Erwerb?

    Grüße,
    Martijn

  3. Gratulation an Claus H. zum Erwerb des Audi Kühlers und an Michael für den schönen Beitrag zum Audi, einer meiner Lieblingsmarken neben Stoewer und dem Opel 4PS!
    K. D.

  4. Großartig – gratuliere zu dem Fund! War am Sonntag ebenfalls auf der Veterama und konnte wie immer einige schöne Kleinigkeiten ergattern. Gern hätte ich den original erhaltenen Citroen 5CV gekauft, der dort angeboten wurde, aber selbst dafür habe ich keinen Platz mehr. Dein Sammelgebiet hat dagegen den Vorzug, weniger platzintensiv zu sein, wenngleich die schiere Anzahl der Kandidaten etwas beängstigend ist…

  5. Comme c`est curieux et quelle coincidence würde Ionesco sagen. Just am letzten Wochenende in Mannheim auf der Veterama war dieser außergewöhnliche AUDI Spitzkühler mit dem unten nach vorne immer spitzer zulaufenden Ende im Angebot. Auch wenn das Emblem fehlte, war die Identifizierung aufgrund des einzigartigen Designs einfach. Nicht ganz so einfach war der Kauf, da es mehrere Interessenten gab. Da das fehlende Emblem in meiner Sammlung bereits vorhanden war schmückt jetzt ein kompletter Kühler mein Zuhause. Da kann wirklich keine Nachkriegsaudifront mithalten.
    Mt den besten Grüßen

    Claus H.

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