Verschollenes Familienmitglied: Wanderer 5/15 PS „Nv“

Heute unternehmen wir einen Ausflug in eine Familiengeschichte der besonderen Art – und das in zweierlei Hinsicht.

Die eine der beiden Stories ist die des ersten Serienautos der sächsischen Marke Wanderer, das die Typbezeichnung W3 trug und bei Erscheinen 1913 als Wanderer 5/12 PS firmierte:

Wanderer W3 5/12 PS; Originalreklame von 1913/14 aus Sammlung Michael Schlenger

Dass der Kleinwagen hier trotz gewisser künstlerischer Freiheiten in allen wesentlichen Details akkurat wiedergegeben ist, werden wir gleich sehen.

Wichtig für das Verständnis der weitverzweigten Familiengeschichte des Wanderer W3 ist der Hinweis, dass dieses Modell anfänglich in zwei Varianten erhältlich war – mit zwei Sitzen hintereinander und Mittellenkung (Typ H) wie abgebildet oder mit zwei nebeneinanderliegenden Sitzen mit Rechtslenkung (Typ N).

Präzise ist diese Reklame auch in der Wiedergabe der Gestaltung von Kühler, freistehenden Kotflügeln, Tankdeckel vor der Frontscheibe und unten abgerundetem Scheibenabschluss.

Zum Vergleich sei auf diese Aufnahme eines Wanderer W3 5/12 PS Typ „H“ verwiesen:

Wanderer W3 5/12 PS (Version H), Bauzeit: 1913/14; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Auch das Schwestermodell N mit nebeneinanderliegenden Sitzen werden wir noch kennenlernen. Zuvor müssen wir uns allerdings mit der nächsten Generation des Wanderer W3 vertraut machen, welche 1915 das Licht der Welt erblickte.

Zu dieser Zeit tobte bereits der Erste Weltkrieg, in dem sich der leichte, wendige und anspruchslose Wagen rasch einen Ruf als ideales Fahrzeug für Kurier- und Aufklärungsfahrten machte.

Wanderer W3 5/15 PS, Bauzeit: ab 1914; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Dementsprechend zeigt das nächste Foto den Wanderer bereits im Militäreinsatz und nun in der erwähnten überarbeiteten Form als Wanderer W3-II 5/15 PS.

Erkennbar ist dieses neue Familienmitglied an folgenden Details: gerader unterer Scheibenabschluss, Spritzblech zwischen Trittbrett und Chassisrahmen und nach unten gezogenes Ende des hinteren Kotflügels:

Wanderer W3-II 5/15 PS (Version H), Bauzeit: ab Frühjahr 1915; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Der Wanderer war trotz dieser Überabeitung weiterhin ebenfalls als Version H (2 Sitze hintereinander) erhältlich – wie auf obigem Foto zu sehen – und als Version N mit 2 nebeneinander angeordneten Sitzen .

Wie die Ausführung N aussah, das lässt sich anhand dieses schönen Exemplars eines W3-II 5/15 PS im Detail besichtigen. Am augenfälligsten ist der kürzere Innenraum mit nun rechts angebrachten Lenkrad:

Wanderer W3-II 5/15 PS (Version N), Bauzeit: ab Frühjahr 1915; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wie es scheint und auch naheliegt, war die Windschutzscheibe breiter und der Aufbau war weiter angelegt, um zwei Personen nebeneinander Platz zu geben.

Für eine rationelle Fertigung war dieses Nebeneinander in der Wanderer-Familie vielleicht nicht die beste Idee – dennoch wurde der W3-II mit seinem auf 15 PS erstarkten Motor in einigen tausend Exemplaren gebaut, nachdem es vom Erstling W3 5/12 PS nur rund 600 gegeben hatte.

Hauptabnehmer bzw. alleiniger Abnehmer bis 1918 war das Militär, weshalb die meisten zeitgenössischen Fotos den Wanderer W3 in einem entsprechenden Kontext zeigen.

So verwundert es nicht, dass uns das nächste Mitglied der Wanderer W3-Familie wiederum mit Soldaten begegnet – davon ist der am Volant als Mitglied der Kraftfahrtruppe zu erkennen (der Kragenspiegel mit einem stilisierten Auto verrät es):

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version N), Bauzeit: ab Frühjahr 1915; Originalfoto aus Sammlung Martin Möbus

Diese Aufnahme aus dem Fundus von Restaurierungs-Spezialist Martin Möbus ist deshalb interessant, weil sie ein ab 1917 neu hinzugekommenes Mitglied der Wanderer-Familie zeigt – die nunmehr dreisitzige Version „Nv“.

Kennzeichnend war, dass der linke der beiden nebeneinander angeordneten Sitze so weit nach hinten versetzt (daher „v“) war, dass davor ein ausklappbarer Notsitz Platz hatte. Die größere Zahl an Luftschlitzen ist ebenfalls typisch für die in der Spätphase des Kriegs gebauten Wanderer-Wagen – vielleicht den besonderen Einsatzbedingungen geschuldet.

Mir scheint die Ausführung Nv eine kriegsbedingte Notlösung gewesen zu sein. Laut Literatur soll sich die Version Nv aber nach Kriegsende bis zum Auslaufen der Produktion anno 1921 zur häufigsten Ausführung des Wanderer W3 entwickelt haben.

Der bis dato hauptsächlich vom Militär genutzte Wanderer sollte also später noch eine achtbare Zivilkarriere hinlegen – der VW „Käfer“ lässt grüßen.

Ein schönes Beispiel für dieses Kapitel der Wanderer Historie schickte mir kürzlich Kay-Uwe Walther aus Gera in Thüringen zu. Und damit beginnt nun die eingangs angekündigte zweite Familiengeschichte, die sich mit diesem Modell verbindet.

Am Anfang stand die an mich gerichtete Frage, um was für ein Modell genau es sich bei diesem Wagen handelt, wobei klar war, dass die Basis ein Wanderer war:

Wanderer W3/III 5/15 PS Version „Nv“; Originalfoto aus Familienbesitz (Kay Uwe Walther, Gera)

Ich konnte das schöne Fahrzeug als ein Exemplar des zuvor erwähnten dreisitzigen Typs „Nv“ identifizieren. Schaut man genau hin, lässt sich erkennen, dass die üppig gepolsterten Sitze seitlich zueinander versetzt sind und das Lenkrad in Fahrtrichtung rechts angebracht war, wie das Standard bei deutschen Autos bis Mitte der 1920er Jahre war.

Die elektrischen Scheinwerfer – die Schüsselform ist ein untrüglicher Hinweis darauf – deuten auf ein Baujahr nach Ende des 1. Weltkriegs hin.

Auffallend ist außerdem das Fehlen des zuvor mittig vor der Scheibe angebrachten Tankverschlusses. Die mir vorliegende Literatur schweigt sich dazu aus. Denkbar, dass der Tank ins Heck verlagert worden war wie beim ab 1920 gebauten neuen W6 6/18 PS.

Eine andere Hypothese ist die, dass es sich bereits um den weiterentwickelten Typ W8 5/15 PS handelt, der ab 1921 als Nachfolger des W3 5/15 PS vorgestellt wurde.

Während beim Motor der Ventiltrieb völlig neu konstruiert worden war (kopfgesteuert statt seitengesteuert), waren der späte W3 und der frühe W8 äußerlich kaum zu unterscheiden, zumal die Abmessungen nahezu identisch waren.

Erst ab 1923 erhielt der W8 eine überarbeitete Karosserie mit nunmehr gerundeten Vorderkotflügeln und einem kastenförmigen Schwellerblech anstelle des schrägstehenden Spritzblechs unterhalb des Aufbaus.

Somit bleibt die genaue Zuordnung dieses Mitglieds der Wanderer-Familie in der 5 PS-Kategorie geheimnisvoll. Sollte es sich gar um einen verschollene Verwandten handeln?

Nun, in einer Hinsicht trifft es jedenfalls zu, dass wir es mit einem verlorenen Sohn der Familie zu tun haben. Denn laut Überlieferung in der Familie von Kay-Uwe Walther blieb der Wanderer bis zum 2. Weltkrieg das einzige Auto, über das man verfügte.

Irgendwann nach Kriegsausbruch soll der Wanderer in der dreisitzigen Version „Nv“ dann vom Militär beschlagnahmt worden sein und ist seither verschollen.

Zwar wurden nach meinem Eindruck systematisch nur Zivil-PKW ab etwa Baujahr 1930 für die Zwecke der Wehrmacht eingezogen. Doch ist nicht auszuschließen, dass man für den lokalen Bedarf in Kasernen oder auf Flugplätzen an der „Heimatfront“ bisweilen auch auf ältere, noch gut erhaltene Modelle zurückgriff.

Leider ist Kay-Uwe Walters Großvater, der diese Geschichte erzählt hat, nicht mehr unter uns, sodass der genaue Hergang offenbleiben muss. Aber immerhin lässt sich diese Familiengeschichte eines frühen Automobils für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich lange verfolgen, bis sie irgendwann in den Kriegswirren abbricht.

Dafür und für die Inspiration, mich wieder einmal intensiver mit dem Wanderer W3 zu beschäftigen, der im Volksmund auch als „Puppchen“ firmierte, sei Kay-Uwe Walther herzlich gedankt.

Nun ist es schon wieder einige Zeit nach Mitternacht, der Mond leuchtet freundlich vom Himmel, es ist mild draußen und nun ist die Zeit für ein anderes draußen wanderndes Familienmitglied – eines mit vier Pfoten statt Rädern. Es heißt Ellie, aber sein Spitzname lautet – welch‘ Zufall: „Püppchen“!

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog

Ein Gedanke zu „Verschollenes Familienmitglied: Wanderer 5/15 PS „Nv“

  1. Freund Hans Thüring, Wirt des Gasthofes „Reichsadler“ und der Bugatti-Bar in Höchstädt/Ofr. war begeisterter Wanderer W3-N Fahrer. Messing-Kühler und Lampen, türkisgrüne Karosserrie, schwarzumrandete rote Kotflügel, knallrote Drahtspeichenräder – das Auto machte was her ! Im Alter wurde Hans immer gewichtiger und füllte die Wanderer-Sitze alleine fast vollständig. Der Wanderer nahm im Laufe der Zeit eine gewisse Schräglage an. Das Fahrzeug steht bis heute in der Scheune des „Reichsadlers“. Auch wenn die Oldtimer-Sammlung verschwunden und die Bugatti-Bar geschlossen ist: alle 2 Jahre wird eine „Schnauferl-Fahrt um den Porzellan-Pokal“ abgehalten, welche nicht nur alte Freude anzieht und abends im Reichsadler wird gegrillt.

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