Vom „Ich“ zum „Selbst“: Horch 8 von 1927 bis 1932

Nach meiner jüngsten Abhandlung zum Cadillac des Modelljahrs 1930 hatte ich einen aufregenden Traum – darin ging es nicht gerade jugendfrei zu. Das lag daran, dass das Erlebte den Besitz eines Führerscheins und zumindest oberflächliche Erfahrung im Umgang mit klassischen Automobilen voraussetzte.

So fand mich in einer großen Scheune wieder, in der sich neben technischen Geräten, Werkzeugen und Autoteilen ein offener Zweisitzer der 50/60er Jahre befand – eingestaubt und mit Spuren eines langen Lebens, aber augenscheinlich komplett.

Aus dem Schatten trat jemand hervor, der sich als Bekannter des Besitzers vorstellte. Er habe den Wagenschlüssel, ob ich das Auto nicht mal fahren wollte? – So fragte er mich.

Ich bejahte, wollte mir den Wagen wegen offensichtlich längerer Standzeit aber erst genauer ansehen. Wir öffneten die Haube und warfen gemeinsam einen Blick darunter.

Ein Vierzylinder mit obenliegenden Nockenwellen und zwei Doppelvergasern war zu sehen – ein leistungsstarkes und drehfreudiges Aggregat, wie es einst vor allem Alfa-Romeo zu hunderttausenden selbst in Familienautos verbaute, was sich kein deutscher Serienhersteller in der Mittelklasse zu fertigen traute – soweit ich weiß.

Wir testeten die Gängigkeit der Vergaser, bauten eine Batterie ein, prüften Zündspannung und Benzinzufuhr und ließen den Motor ohne Kerzen drehen, bis die Öldruckanzeige – bei deutschen Autos kaum zu finden – auf einen gesunden Wert stieg.

Der Kraftstoff machte noch einen guten Eindruck und so probierten wir unser Glück – der Motor sprang nach einigen Umdrehungen unter einigem Stottern an und lief bald rund. Der Unbekannte ermutigte mich, einzusteigen und den Wagen rückwärts herauszumanövrieren.

Die Bremsen hatte ich nicht getestet, und an dieser Stelle wurde aus der Sache ein Alptraum. Denn die Ausfahrt rückwärts aus der Halle entpuppte sich als abschüssig, der Weg wurde schmaler und verlief schließlich einspurig eng in einer Kurve mit Metallzäunen links und rechts.

Nun, die Sache verlief glimpflich, da der Weg wieder anstieg, bevor er in einer Sackgasse endete. Später fuhren wir dann mit dem Wagen noch in sportlicher Gangart über eine unbefestigte Landstraße und dabei ging es zu meinem Ärger durch eine große Pfütze, die verräterische Spuren an dem Wagen hinterlassen würde.

Doch es machte Spaß, der Motor klang großartig und nahm das Gas willig an. Eine Edelstahlauspuffanlage sorgte für einen metallischen Klang – genau mein Geschmack.

An weitere Details erinnere ich mich nicht – irgendwann stand der Wagen wieder in der Scheune und ich drapierte zur „Tarnung“ einige Herbstblätter darauf.

Nach diesem Abenteuer erwachte ich und da noch Zeit bis zum Aufstehen war, überließ ich mich meinen Gedanken. Bald stellte sich eine Frage ein, die an den Cadillac-Blogeintrag anknüpfte.

Darin hatte ich erwähnt, dass die Cadillacs der späten 1920er Jahre das formale Vorbild für die 8-Zylinderwagen der sächsischen Marke Horch abgegeben hatten.

Doch im Lauf der 1930er Jahre war Schluss damit – Horch stand mit einem Mal für eigenständige gestalterische Meisterstücke wie das Modell 853:

Horch 8 Typ 853 Sportcabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Mir ging die Frage durch den Kopf, wann genau der Moment in der Geschichte der Horch-8-Zylinderwagen war, als man sich vom US-Vorbild emanzipierte.

Das wollte ich klären und gleichzeitig ein Motto finden, unter dem sich dieser bedeutende Schritt beschreiben lässt. Dies beschäftigte meine grauen Zellen während einer längeren Autofahrt.

Nach einer Weile wurde mir das Ergebnis präsentiert – „Vom Ich zum Selbst“ sollte in der Titelzeile stehen. Ein Weg, der zunächst einmal für jeden von uns relevant sein kann. Irgendwann in früher Kindheit erkennen wir uns als „Ich“ in Abgrenzung von den anderen und von da an haben wir Erinnerungen an Erlebtes.

Das „Ich“ kann sich lange Zeit vollkommen in Einklang mit „den anderen“ befinden, teils wird es dazu erzogen, teils ist es von sich aus bestrebt, sich an Vorbildern zu orientieren.

Was man in dieser Zeit als „seinen Stil“ entwickelt ist meist eine Kopie etablierter oder sich für solche ausgebender Personen. Man kommt sich dabei furchtbar individuell vor – besonders kurios sind die, welche aus Protest gegen die Massengesellschaft alle dieselben Insignien des Desinteresses tragen, dieselben Bücher lesen usw.

Diese Phase in der Persönlichkeitsentwicklung kann sich hinziehen, irgendwann stellen sich praktischere „Probleme“ ein und das Interesse an einer Ausgestaltung des Ich erlahmt. Die meisten bleiben mit ihrem „Ich“ der Masse verhaftet, fungieren als Rädchen im Getriebe. Das ist der Normalzustand in einer Gesellschaft.

Interessant – im Guten wie im Schlechten – wird es, wenn Einzelne in sich Wesenszüge entdecken oder heranzüchten, welche sich nicht aus anderen Vorbildern ableiten. Dann entdeckt man ein inneres, autonomes Selbst, welches sich zum Vorschein bringen lässt – zur Freude oder zum Leidwesen anderer.

Wie der Weg vom „Ich“ zum „Selbst“ auf dem Umweg über das bloße Nachahmen zu den schönsten eigenständigen Schöpfungen führen kann, das lässt sich im Fall der Horch 8-Zylinderwagen exemplarisch zeigen:

Frisch auf die Welt gekommen stellte sich der erste Horch 8 des Baujahrs 1927 nur mit einem rein physischen „Ich“ dar. Denn es war äußerlich ein Auto wie jedes andere seiner Zeit am deutschen Markt – bar jeden Charakters:

Horch 8 von 1927; Originalfoto Michael Schlenger

Die fast völlige Abwesenheit individueller Züge war um die Mitte der 1920er Jahre typisch für viele Serienautomobile aus deutscher Produktion. Der Verzicht auf gefällige Details und dem Auge schmeichelnden Zierrat spiegelte die Glaubenssätze der Bauhaus-Ideologen wider.

Man erkannte bei Horch indessen rasch, dass man den grandiosen und sehr teuren 8-Zylindermotor nicht auf Dauer in einer dermaßen banalen Hülle verstecken konnte, wenn man nicht nur einem Spleen folgen, sondern am Markt Erfolg haben wollte, der in diesem Segment von markant gestalteten US-Automobilen dominiert wurde.

Das „Ich“ sollte nun auch zur Persönlichkeit heranreifen und weil man hoch hinaus wollte, nahm man genau Maß an den 8-Zylinderwagen der Marke Cadillac.

Schon ab 1928 zeigte sich der Horch mächtig in Schale geworfen und nur wenige Details unterschieden ihn äußerlich vom modisch führenden Zeitgenossen aus den Staaten:

Horch 6 Typ 350; Originalfoto: Matthias Schmidt (Dresden)

Wie das bisweilen so ist, wenn sich das „Ich“ auf der Suche nach Ausdruck seiner Persönlichkeit übermäßig an anderen orientiert, wird gern ein wenig in die Richtung übertrieben, welche den als Vorbild dienenden Stil ausmacht.

So hängt man sich bei Bedarf noch etwas mehr Lametta um, damit auch jeder sieht: „Ich bin ein Amerikaner“ (frei nach JFK), auch wenn man eigentlich aus Sachsen kommt:

Horch 8 Typ 375; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der bis 1931 gebaute Horch 375 mit dreiteiliger Stoßstange – nicht bei Cadillac, sondern beim 1929er Buick abgeschaut – markiert zugleich den Gipfel der Anpassung und deren Ende.

Denn die anschließenden Modelle von Horch erhielten nicht nur komplett neu konstruierte (weniger aufwendige) Achtzylindermotoren, sondern lassen zunehmend die Tendenz erkennen, auch äußerlich eigenständig zu werden.

Die Suche nach einem „Selbst“, das aus sich heraus wirkt und keinerlei Vorbild mehr nachahmt, zeitigt ab 1932 erkennbar Erfolg – hier am Beispiel des Horch 8 Typ 500 B:

Horch 8 Typ 500 B; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Mit dieser Frontpartie hatte Horch sich vom Vorbild Cadillac emanzipiert und ging nun immer deutlicher seine eigenen Wege.

Die Gestalter bei Horch hatten offenbar auch ihr eigenes „Selbst“bewusstsein entdeckt und gaben der Marke von nun an ein unverwechselbares Gesicht, das bis heute als ikonisch gilt und Sammler auf der ganzen Welt begeistert.

Hier ein Horch 8 des Typ 710 oder 720 auf einer auf 1940 datierten Aufnahme, die aber deutlich vor Kriegsbeginn entstanden sein muss:

Horch 8 Typ 710 bzw. 720; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier bestand schon lange keine Verwechslungsgefahr mehr – dies war kein ängstlich um Anpassung bemühter Vertreter seiner Zunft, sondern ein stolzes automobiles Individuum.

Nachtrag: Leser Ulrich Landeck aus der Schweiz schreibt hierzu: „Dieses Bild ist in Zürich entstanden, das im Hintergrund sichtbare Gebäude ist das „Mythenschloss“, das 1926 bis 1928 als herrschaftliches Mehrfamilienhaus in schönster Lage am Zürichsee errichtet worden war. – Die Datierung „1940“ halte ich für absolut glaubhaft, denn in der Schweiz hatte sich ja der Zweite Weltkrieg noch nicht ausgewirkt, also auch nicht in der Beschränkung von Kraftstoff.

Am Ende stand dann die so nur bei Horch zu findende großartig durchgestaltete Kühlerfront des bereits eingangs gezeigten Modells 853 in Verbindung mit sensationellen Aufbauten speziell als Sport-Cabriolet, wie sie deutsche Spitzenautomobilen auszeichneten.

Diese eigenständige und auf die Spitze getriebene, nach herkömmlichen Maßstäben „unvernünftige“ Linienführung macht einen Horch des Typs 853 auch dann sofort als solchen erkennbar, wenn er wie hier hastig durch ein Fenster fotografiert wurde:

Horch 853 Sport-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Mit den 8-Zylinderwagen der späten 1930er Jahre war Horch also unübersehbar endgültig bei sich selbst angekommen.

Tragischerweise – vielleicht aber auch typischerweise – ging diese kühne Reise an die äußersten Grenzen des Machbaren in einer Zeit zuende, in welcher der Einzelne mit einem aus der Masse herausragenden, autonomen „Selbst“ nicht mehr gefragt war.

Stattdessen wurde das Kollektiv zum Maß aller Dinge erhoben und der Drill zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit allgegenwärtig – nebenbei ein gemeinsames Merkmal antiliberaler und antibürgerlicher Systeme – ganz gleich, wie sie sich nennen, wo sie im Links-Rechts-Schema verortert sind oder welcher Farben, Fahnen und Uniformen sie sich bedienen.

Für den Einzelnen ist letztlich nur eine Frage relevant: Lässt man mich auf dem Weg von meinem „Ich“ zu meinem ureigenen „Selbst“ in Ruhe?

Dieser Weg muss jedem freistehen. Dann wird sich zeigen, wer bloß Teil einer allgemeinen Bewegung sein will und wer selbst eigenen Antrieb entwickelt, Motor großartiger Neuerungen wird oder auch einfach nur sein Selbst für sich und ausgewählte andere entfalten möchte…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog

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