Manchmal denke ich mir: Wir leben in der besten aller Zeiten.
Das mag jetzt überraschen, wissen doch meine langjährigen Leser, dass mich viele Phänomene des Hier und Jetzt deprimieren: das ästhetische Elend öffentlicher Bauten, die Unfähigkeit, Plätze und Parks zu gestalten, die sogenannte Moderne Kunst, die keinerlei Grundsätze und Qualitätsmaßstäbe kennt usw….
Und doch erlauben uns heutige Transportmittel, fast mühelos die schönsten Orte aufzusuchen, die einst von Menschenhand geschaffen wurden, oder auch die Naturwunder der Welt.
Wir können uns auf elektronischem Weg, die großartigsten Bilder und Skulpturen der letzten Jahrtausende vor Augen zaubern, sie auf Wände projizieren und sie sogar zum täglichen Genuss dauerhaft reproduzieren.
Ebenso können wir jederzeit und an jedem Ort sämtliche Meisterwerke der Musik aus den letzten 500 Jahren genießen. So höre ich gerade die Kantatensammlung „Salvator Mundi“ von Dietrich Buxtehude, komponiert im 17. Jh und eingespielt 2022 in der Klosterkirche der Abtei Sainte-Trinité de la Lucerne d’Outremer vom Ensemble Le Ricercar Consort.
Ist das nicht großartig, das A und O von allen Dingen verfügbar oder zumindest zugänglich zu haben? Gewiss, aber in vielen Fällen bedeutet „A und O“ nicht nur „Das Beste“ oder „Einfach Alles“, sondern im ursprünglichen Sinne „Anfang und Ende“.
Denn das „A und O“ sind der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, welches mit dem „Omega“ endet – letzteres im Unterschied zum „Omikron“ mit langem „O“.
So können wir Menschen des 21. Jh. davon ausgehen, dass wir Anfang und Ende vieler Dinge überschauen können. Die Meisterschaft antiker Mosaiken und Fresken, die Kunst der Kantate und der Fuge, die Welt von Englischen Gärten und klassizistischen Opernhäusern – alles abgeschlossen.
Und vermutlich leben wir in Zeiten, in denen wir auch Zeugen des Endes neuzeitlicher Kreationen auf dem Feld der Technologie sind – dem wohl einzigen Gebiet, in dem das Jetzt bislang brillierte.
Wer denkt nicht an einst große Automarken wie Alfa oder Lancia, die längst nur noch ein Schatten ihrer selbst sind und ein würdigeres Ende verdient hätten?
Ähnliches gilt für die Marke Opel, welche vor dem 1. Weltkrieg in deutschen Landen ganz selbstverständlich neben Benz, Daimler, NAG und Protos in höchsten Kreisen vertreten war. Was ist davon geblieben außer dem Namen?
Kaum jemand kann sich heutzutage noch vorstellen, dass Opel am deutschen Markt zu den Herstellern zählte, die das „A und O“ im Automobilbau repräsentierten. Illustrieren will ich dies heute anhand zweier ganz gegensätzlicher Aufnahmen.
Gemeinsam ist ihnen auf den ersten Blick nicht viel. Beginnen wir mit dem „A“ – das für den Anfang steht – zwar nicht der Marke Opel, aber des Lebens von Kindern aus begütertem Hause, die einst mit einem solchen Wagen wie selbstverständlich aufwuchsen:

Diese schöne Aufnahme lief 1910 oder 1911 als Ansichtskarte von Wiesbaden nach Frankfurt am Main – adressiert war sie an ein Fräulein Anne Klinzner in der Scheffelstraße 13 im einst großbürgerlich geprägten Frankfurter Nordend.
So wie die kleinen Kinder für den Beginn des Lebensweges stehen, so repräsentiert auch der hier recht groß wirkende Wagen eine frühe Phase des Herstellers Opel.
Dieser ist übrigens hier nur anhand der Form des Kühlers und der Gestaltung des Kühlerwasserstutzens zu erkennen und auf etwa 1908/09 zu datieren.
1908 hatte Opel mit dem relativ kompakten Modell 10/18 PS, das auf dieser Aufnahme wahrscheinlich zu sehen ist, einen Neubeginn gewagt. Denn neben den bisher dominierenden großen bis sehr großen Wagen boten die Rüsselsheimer damit nun einen kompakteren Typ an.
Gleichwohl blieb auch dieser Typ mit seinem 2,5 Liter-Vierzylinder nur einem winzigen Teil der Bevölkerung zugänglich und man sieht den Kindern auf dem Foto an, dass sie aus Verhältnissen stammten, in denen man keine materiellen Sorgen kannte.
Der Opel markierte für diese Kleinen also gewissermaßen das „A und O“ der damals verfügbaren Transportmittel. Anstelle mit Pferdegespann, Straßen- oder Eisenbahn wuchsen sie bereits mit einem Automobil auf.
Sie dürften – wenn sonst nichts dazwischenkam – den weiteren Weg der Marke Opel bis weit in die Nachkriegszeit verfolgt haben – vielleicht sogar bis ans Ende des 20. Jh. Dann waren sie Zeuge eines langen – ab den 1960er Jahren allmählich abschüssigen Weges eines einst hochangesehenen und kompetenten Herstellers.
Doch das „O“ – also das „Omega“ und damit das Ende – konnte einen Opel schon viel früher ereilen, lange vor rostanfällligen Schaurigkeiten wie „Astra“ und „Omega“ der 90er Jahre.
Damit verbunden sein konnte auch das Ende des Fahrers selbst – ein weiteres Foto von anno 1908 gemahnt uns an diese finale Bedeutung von „A und O“:
Diese zeitgenössische Abbildung zeigt einen Opel mit dem 1908 eingeführten markanten Sportwagenaufbau, welcher für diverse Motorisierungen erhältlich war.
Selbst der eingangs abgebildete kompakte Typ 10/18 PS konnte mit diesem aufs Wesentliche reduzierten 2-Sitzer-Aufbau geordert werden, dessen niedrigeres Gewicht mehr Agilität versprach.
Der oben genannte und abgebildete Fahrer Otto-Hermann Fritzsche dürfte aber über ein stärkeres Modell mit 40 bis 60 PS verfügt haben. Mit diesem Gefährt, das um die 100 km/h Spitze erreicht haben dürfte, kam er 1908 auf der Landstraße ums Leben.
So schnell konnte es also vorbei sein, wenn man mit dem damaligen „A und O“ aus dem Hause Opel unterwegs war. Es gibt prosaischere und vor allem elendere Wege, aus dem Leben zu scheiden – von daher seien wir nicht traurig.
Bisweilen ist ein rasantes Ende auf der Höhe des Lebens einem langen Siechtum vorzuziehen – und das gilt beileibe nicht nur für Opel. Doch leider sterben zivilisatorische Phänomene meist einen langen Tod und es schmerzt, das mitzuerleben…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.