Wunderliches aus Berlin: NAG C4 10/30 PS

In diesen Tagen erreichen uns aus dem politischen Berlin laufend Neuigkeiten, die einen bisweilen atem- und sprachlos machen. Zuletzt wurde offiziell, dass genügend Papier aufgetrieben werden konnte, um in gut drei Monaten Neuwahlen abhalten zu können.

Das sind doch einmal gute Nachrichten – nicht dass China als Bezieher deutscher „Entwicklungshilfe“ auch hier einspringen muss, nachdem dort so ziemlich alles produziert wird, womit wir unseren Alltag bestreiten, auch wenn AEG oder Bosch draufsteht.

Nehmen wir die Dinge locker und schauen einmal, was vor ziemlich 100 Jahren Wunderliches aus der Hauptstadt in die deutsche Provinz gelangte – in diesem Fall in die Rheinprovinz, wo einst das Kürzel „IZ“ das Nummernschild zierte:

NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nun mag einer denken: „Heute hat unser Blogwart aber einen schlechten Tag – die politische Großwetterlage scheint ihm die Sinne zu trüben – ist doch offensichtlich, dass wir es mit einem Exemplar des Anfang der 1920er Jahre gängigen Typs C4 10/30 PS der Berliner Marke NAG zu tun haben. Was sollte daran wunderlich sein?“

Alles richtig, meine Damen und Herren. Es ist schön zu wissen, dass man so ein kritisches und kenntnisreiches Publikum bedient. Dennoch bestehe ich darauf, dass dieser x-tausendfach gebaute NAG im vorliegenden Fall Anlass gibt, sich zu wundern.

Die Vorderradbremsen haben Sie sicher selbst bemerkt. Die wurden im Vorgriff auf den 1925 erfolgenden Wechsel zum Nachfolgertyp D4 10/45 PS den letzten Exemplaren des seit 1920 produzierten C4 10/30 PS verpasst. Damit hätten wir einen Datierungshinweis.

Hier sieht man ausschnitthaft die mächtigen Bremstrommeln auf der Innenseite der Räder:

Aber fällt Ihnen nicht auch auf, dass die Vorderkotflügel ganz anders – viel schlanker und sportlicher geschnitten sind als bei allen Tourern und Limousinen des Typs C4 10/30 PS in meiner NAG-Markengalerie?

Als typisches Beispiel sei dieses Exemplar angeführt, welches in einer bislang einzigartigen Situation festgehalten wurde:

NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Es gab neben diesen breiten und ohne Mittelsteg geformten Kotflügeln nach meiner Wahrnehmung eine weitere gängige Variante, die sich bei Tourern, Limousinen und Landaulet dieses Typs findet.

Diese fiel kantiger aus und lief vorne spitz aus, aber auch sie besaß nicht die auffallende „Mittelrippe“ welche an dem eingangs zu sehenden Wagen mit Zulassung in der Rheinprovinz vor allem am Heck gut erkennbar ist.

Hier also ein Beispiel für die zweite oft anzutreffende Variante, in diesem Fall in der Ausführung als Taxi, welche häufig einen den Einstieg der Passagiere erleichternden Kasten auf dem Trittbrett trug:

NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Langjährige Leser – ich weiß, dass es zumindest einige gibt – wissen, dass ich auch hin und wieder den Sport-Tourer auf Basis des NAG C4 10/30 PS gezeigt habe, der genau solche schmalen Kotflügel mit mittiger „Bügelfalte“ besaß wie unsere eingangs präsentierte mächtige Sechsfenster-Limousine.

Diese sind auf dieser Aufnahme eines NAG C4b „Monza“ gut zu erkennen:

NAG Typ C4b „Monza“; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sehen Sie die Ähnlichkeit in der Kontur der Schutzbleche, auch hinten?

Allerdings ist zugleich ein Unterschied erkennbar: die sportlichen Ausführungen, die neben leichteren Aufbauten auch mehr Leistung besaßen, hatten vorne keine Innenkotflügel.

Man kann auf dem obigen Foto deshalb die komplette Innenseite der Räder sehen. Das ist bei der eingangs präsentierten Limousine nicht der Fall, hier nochmals der Ausschnitt:

Aus meiner Sicht liegt es aber auf der Hand, dass man sich zumindest stark am Erscheinungsbild der Sportversionen orientiert hat.

Es ist gut möglich, dass man damit dem Eindruck einer gewissen Schwerfälligkeit entgegenwirken wollte, welche sich aus der Verwendung eines ziemlich beeindruckenden aber auch mächtig schweren Limousinenaufbaus mit sechs Seitenfenstern ergab:

Hier sei nochmals auf die stilistische Ähnlichkeit der Kotflügel mit denen des Sport-Tourers hingewiesen. Dieses Detail kontrastiert auf wunderliche Weise mit dem enormen Aufbau, welcher überdies in einem Mitte der 1920er Jahre an sich veralteten Stil gehalten ist.

Die Welt der pferdegezogenen Kutsche und der motorisierten Sportwagen hat hier ein außergewöhnliches letztes Stelldichein, welches ich Ihnen nicht vorenthalten wollte.

Ob man sich diese wunderliche Erscheinung tatsächlich in Berlin bei NAG selbst ausgedacht hat oder ob wir es eher mit einer sympathisch eigenwilligen Schöpfung aus der zu Unrecht geschmähten „Provinz“ zu tun haben, das sei dahingestellt.

Eines noch für die Freunde der NAG-Wagen jener Zeit. Auch der heute nur gestreifte Sport-Tourer C4b „Monza“ kommt irgendwann wieder zum Zuge – allerdings gibt es daneben so viel anderes, wovon ich mich zu später Stunde meist spontan verführen lasse.

Wundern Sie sich also nicht, wenn ich demnächst wieder etwas bringe, womit Sie so nicht gerechnet haben. Die Welt der Vorkriegsautomobile macht einen immer wieder atem- und sprachlos, mal mit und mal ohne Wunderlichkeiten aus Berlin…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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