Den ersten Rang unter Europas charmantesten Hauptstädten – von denen es nicht viele gibt – würde ich ohne Zögern an Wien vergeben.
Trotz erheblicher Kriegszerstörungen war man – wie im deutschsprachigen Raum sonst nur in München – so klug, der Moderne zu misstrauen und das historisch gewachsene Statdbild weitgehend wiederherzustellen.
So bewahrte man sich eine Mischung aus repräsentativen und bürgerlichen Bauten der letzten 4-500 Jahre, gegen welche die in den 20er Jahren ausgebrütete und nach 100 Jahren immer noch gefeierte Schukasterl-Logik chancenlos ist.
Kein Mensch will heute die seelenlosen, immergleichen Wohnfabriken besichtigen, welche wir den Propagandisten reiner Zweckbauten in den Peripherien „verdanken“. Gerade Wien ist ein Musterbeispiel dafür, wie reizvoll die Fortführung regionaler Traditionen ist – die Wiener Spielart des Jugendstils war wohl die letzte, großartige Ausprägung.
Gewiss gab es auch schon in früheren Jahrhunderten internationale Tendenzen in den Baustilen – doch immer schlugen sich diese in lokalen Spielarten nieder. Ob Gotik, Renaissance oder Barock – meist würde man die Region auch dann benennen können, wenn man nicht wüsste, in welcher Stadt genau man sich gerade befindet.
So findet man beispielsweise in Wien eine gewisse opernhafte Grandezza, die es in Berlin, Hamburg oder Köln kaum gab – Bauten wie opulente Theaterkulissen. Und weil das heute noch so schön ist wie einst, reisen wir kurzerhand dorthin:

Für mich als Freund des oft geschmähten Historismus der zweiten Hälfte des 19. Jh. wäre dieser Anblick bereits dann eine Freude, wenn kein Vorkriegsauto davor zu sehen wäre.
Denn die Wirkung des erst in den 1890er fertiggestellten Michaelertrakt der Wiener Hofburg ist schlicht umwerfend. Sehen Sie, das kann nun einmal keiner der „modernen“ Architekten, weil ihnen die immergleiche Bauhaus-Ideologie von gestern im Weg steht.
Man kann von mir aus eine Fabrik oder ein Privathaus irgendwo auch im Bauhausstil errichten, wenn einem das gefällt – nichts dagegen.
Aber die sinnliche Gestaltung des öffentlichen Raums, den die Bürger eines Gemeinwesens genießen wollen und auf den sie vielleicht auch etwas stolz sein wollen – „Seht, das ist unsere Tradition“ – die überlasst man besser, wenn’s heute keiner kann, den Altvorderen.
Nach dieser wie immer unnötigen, aber notwendigen Vorrede stellt sich endlich die Frage: „Wie, ein Renault von 1937/38, in Wien? Ein Vivastella oder doch ‚was anderes?“
Tja, auch das gehört zu den Wundern der historischen Fotografie, dass sie uns solche unerwarteten Dokumente beschert.
Denn tatsächlich: Während im Hintergrund noch zwei Wagen der späten 1920er Jahre unterwegs sind, findet sich davor ein Wanderer ab 1934 und wiederum davor ein Renault mit ganz anderer „Architektur“:
Stilistisch lässt sich dieser Renault auf 1937/38 festnageln, auch ist klar, dass wir es mit einem Modell der Oberklasse zu tun haben.
Die sechs Zierelemente entlang der Motorhaube finden sich nämlich nur beim Sechszylindertyp Vivastella oder bei seinem achtzylindrigen Schwestermodell Suprastella.
Genauer kann ich das nicht sagen, und eigentlich ist es auch egal. Denn beide Wagen waren beeindruckend dimensionierte Fahrzeuge mit souveräner Leistung (90 bis 110 PS), wie sie damals im deutschspachigen Raum nur Autos der Spitzenklasse boten.
Das in Verbindung mit der eigenständigen Gestaltung war es wohl, was den Besitzer dieses in Wien zugelassenen Renault zum Erwerb desselben bewog. Vielleicht war das ein bewusstes Statement gegen den Mainstream, vielleicht hatte es den banalen Grund, dass ein Franzose in Wien lebte.
So oder so war jedoch die Voraussetzung für die phänomenale Wirkung des Wagens, dass es damals ganz unterschiedliche Stile in der Gestaltung von Automobilen gab, die „deutsch“, „französisch“, „italienisch“ oder „amerikanisch“ waren, ohne dass dies irgendetwas mit einem von oben verordneten Nationalismus zu tun hatte.
Den gab es natürlich und leider in einer Form, die sich als fatal für Europa erwies, aber mit den Gestaltungstendenzen im Automobilbau hatte das nichts zu tun. Und deshalb darf man die großartigen Schöpfungen auf vier Rädern der 1930er Jahre unbeschwert genießen – und in Wien als beinahe idealem Ort der Erbauung ganz besonders…
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.