Mit 105 ein „Youngtimer“: Vinot & Deguingand um 1920

Ich bin zwar erst 56, aber alt genug, um mich an Zeiten erinnern zu können, als ein 20 Jahre alter Wagen einfach nur als Gebrauchter oder alte Kiste bezeichnet wurde.

Ein begabter Zeitgenosse erfand dafür aber irgendwann die modische Bezeichnung „Youngtimer“, um ein neues Marktsegment zu kreieren, von dem die Leute glauben sollten, der begehrte Oldtimerstatus sei darin schon enthalten, man müsse nur noch etwas warten.

Die Vorstellung, dass jedes ordinäre Altvehikel durch bloßen Zeitablauf automatisch in den Oldtimer-Adelsstand erhoben wird, ist einigermaßen naiv. Es ist keine exakte Wissenschaft, aber die Leute und der Markt urteilen nicht nur anhand des bloßen Alters darüber, ob bei einem Autoklassiker ein ausreichender Nostalgiefaktor gegeben ist.

Mir fällt da als abschreckendes Beispiel der Talbot Samba in Cabrio-Ausführung ein, mit dem mich während meines Wehrdiensts 1988/89 ein Kamerad öfters mit in die Kaserne nach Rotenburg/Fulda nahm. Das Ding war gerade erst ein paar Jahre alt, wirkte aber schon damals wie das heillos veraltete Produkt einer sozialistischen Bananenrepublik.

An den Golf 2 in Dieselausführung – mein Fahrschulauto – erinnere ich mich ebenfalls mit Schaudern, weil das Armaturenbrett im Leerlauf schepperte und die deutschen Gestalter dieses Geräts die italienischen Design-Gene des Ur-Golf gründlich ausgemerzt hatten.

Bevor ich mir etwaige Freunde solcher Gruselgefährte der 80er zum Feind mache, ziehe ich mich besser in die sicheren Gefilde des Vorkriegsautomobils zurück. Denn tatsächlich würde jedes Kind bei jedem überlebenden Exemplar heute zuverlässig „Ein Oldtimer!“ ausrufen.

Das hat natürlich mit der speziellen Formgebung zu tun, die spätestens ab 1950 bei den meisten Herstellern Geschichte war. Einzelne Ausnahmen wie der Citroen Traction Avant, diverse MGs und Mercedes-Benz bestätigen lediglich die Regel.

Doch möchte ich einen Sonderfall zeigen – einen Vorkriegswagen, der sich trotz seines heutigen Alters von 105 Jahren lediglich als Youngtimer einordnen lässt – jedenfalls auf diesem Dokument:

Vinot & Deguingand um 1920; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Natürlich werden Sie jetzt sagen, dass ein Auto kaum besser den Stil eines echten Oldtimers verkörpern könnte als dieser Tourenwagen. Und von der reinen Papierform her haben Sie auch recht.

Denn dieses in die Jahre gekommene Gefährt lässt sich anhand des Markenemblems auf dem Kühlergrill – der von einem Oval umgebenen Buchstabenkombination „VD“ – als Vinot & Deguingand identifzieren.

Was klingt wie ein ehrwürdiges Chateau in der (aus meiner Sicht überschätzten) Weinregion des Bordeaux, war eine französische Autofirma, die von 1901 bis 1926 aktiv war.

Anhand der Kühlerform, der geraden Linie von Motorhaube und anschließendem Windlauf sowie der Kotflügelgestaltung würde ich das Exemplar auf meinem Foto als Modell von ca. 1920 ansprechen (vgl. Reklamen von 1919 bzw. 1921).

Vielleicht kann ein sachkundiger Leser den Typ näher eingrenzen, mir fehlt dafür die Expertise und die Zeit. Bei den in die tausend gehenden französischen Nischenmarken muss ich die weiße Flagge hissen.

Als obiges Foto entstand, hatte gerade die französische Regierung die weiße Flagge angesichts des raschen Durchbruchs der deutschen Angreifer im Sommer 1940 gehisst – bei aller Ungemach der anschließenden Besatzung letztlich eine weise Entscheidung, die dem Land weitgehende Zerstörung und gigantischen Blutzoll ersparte.

Nach der Kapitulation wurden allerorten deutsche Soldaten einquartiert und Autos, die man altersbedingt nicht mehr für die Truppe einkassieren konnte, dienten zumindest als beliebtes Fotomotiv für die „Landser“, von denen die meisten noch nie in einem PKW gesessen hatten. Deutschland war nämlich trotz des als Beschäftigungsmaßnahme dienenden Autobahnbaus im Vergleich zu Frankreich ein automobiles Entwicklungsland.

Solche Aufnahmen sind daher nicht selten, zumal in der Frühphase des 2. Weltkriegs noch reichlich Filmmaterial vorhanden war, das man für solche Aufnahmen verjuxen konnte.

Ein besonders hübsches Beispiel, das ebenfalls einen französischen Youngtimer unter deutscher Besatzung zeigt, ist das nachfolgende:

unbekanntes französisches Landaulet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Blenden wir für einen Moment die Zeitumstände aus – ich bin der letzte, welcher für die deutschen Kriegsführung ab 1939 Sympathie aufbringen kann – man muss trotz allem in der Lage sein, den Einzelnen in einem Moment des Geschehens zu sehen.

Hätte dieser junge Luftwaffenoffizier nicht eher das Zeug zum Filmstar gehabt, anstatt mit seinen Kameraden seinem kriegerischen Handwerk nachzugehen?.

Die Paradoxie dieses Fotos liegt darin, dass man sich seines Reizes nicht entziehen kann und doch weiß, dass alles falsch und katastrophal war, was diese Männer seinerzeit mehr oder weniger gezwungenermaßen, mehr oder weniger begeistert taten.

Dieses Paradoxe hat vor Jahren ein amerikanisches Mitglied meiner Facebook-Vorkriegsautogruppe scherzhaft auf den Punkt gebracht: „The Germans should have won the war – they had the cooler cars and smarter uniforms„.

Das aus US-Mund will ich unwidersprochen stehenlassen. Auch der Humor ist ein Mittel, um irgendwann ein gesundes distanziertes Verhältnis zum Horror der Vergangenheit zu erlangen – Voraussetzung dafür, wieder ein normales Verhalten an den Tag zu legen, anstatt mit irrem Furor angebliche Buchstaben-Vergehen zu verfolgen…

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7 Gedanken zu „Mit 105 ein „Youngtimer“: Vinot & Deguingand um 1920

  1. Mir war dies auch neu, mir war der Begriff „Youngtimer“ erst seit 1996 oder 1997 bekannt, als 07- und H-Kennzeichen eingeführt wurden, also 17 Jahre später. Vielen Dank, Herr Klioba !

  2. Der Begriff Youngtimer ist übrigens älter, als man üblicherweise vermuten würde. Wenn vielleicht auch nicht erfunden, aber zumindest in der Oldtimerwelt populär gemacht, hat den Begriff der sehr verehrte Halwart Schrader, als er in Heft 1/1979 seiner Zeitschrift „Automobil- und Motorrad-Chronik“ eine Rubrik ebendiesen Namens einführte, um jüngere Fahrzeuge zu präsentieren, die Interesse verdient hätten. Der erste Wagen dieser Reihe war übrigens der Peugeot 203, dessen jüngste Exemplare damals knapp 19 Jahre alt waren.

  3. Der 105-Jährige ist höchstwahrscheinlich ein Vinot & Deguingand (nicht Deguingang) 10 HP Type BP, ein 1,8-Liter-Vierzylinder. Die Ausmaße ließen eigentlich eher auf den 12 HP Type BO, einen Vierzylinder mit 2603 ccm Hubraum, schließen. Von diesem sind mir aber nur Abbildungen mit Scheibenrädern bekannt, während der 10 HP mit Drahtspeichenrädern ausgeliefert wurde. Zudem unterschieden sich beide Typen im Radstand lediglich um 10 cm (293 zu 303 cm).
    Das Emblem am Kühlergrill ist entsprechend den Initialen des Herstellers ein VD und kein VN. 😉

  4. Daß ergänzend zum „Oldtimer“ auch der Begriff „Youngtimer“ entstand, ist wohl auch auf das unterschiedliche Mindestalter zur Verwendung mit dem 07-Kennzeichen ggü. dem H-Kennzeichen zurückzuführen, als Ersteres bereits ab 20 möglich war. Was den Golf betrifft, ist auch für mich der erste Golf der schönste Golf, und so wäre meine Favoritenreihung 1-3-5-2-4. Anstelle des Talbot Samba Cabrio möchte ich ein zeitgenössisches Modell der Schwestermarke Citroën benennen, das als klassische Cabriolimousine ein offenes Verdeck bei geschlossener Seitenlinie mit 4 Türen bot, wie 50 Jahre zuvor gebräuchlich vom Adler Diplomat bis zum Wanderer W26 : Der Visa Plein Air, gebaut vor 40 Jahren.
    Mit Ihren beiden heutigen, etwa 85 Jahre alten Aufnahmen zeigen Sie 2 Oldtimer, die sich mit ihren nun 105 Jahren das H-Kennzeichen schon dreifach verdient hätten, doch ob überhaupt noch etwas von diesen beiden existiert ? Nordwestlich des Ärmelkanals hätte ich ihnen bessere Chancen eingeräumt …

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