Horror oder Hotrod? Bentley „Turner Supercharged“

Seit Jahrtausenden arbeiten sich Philosophen an der Frage ab, ob es eine objektiv erkennbare Wirklichkeit gibt und – selbst wenn – ob wir unvollkommenen Kreaturen diese erfassen können.

Ich hänge der Auffassung an, dass Zweifel angebracht sind, was die Fähigkeit des Menschen zu objektiver Erkennntis betrifft. Das ist insoweit nicht schlimm, als es viele reizvolle oder bedenkenswerte Perspektiven auf die Dinge gibt.

Die Probleme beginnen dann, wenn eine als die einzig wahre oder zulässige erklärt wird. Mir ist kein menschlicher Erkenntnisfortschritt bekannt, der darauf beruht.

Der Streit, der Widerspruch, der Zweifel – stetige Begleiter in der Auseinandersetzung mit allen Phänomenen. Das gilt für wissenschaftliche Annäherungen an die Wirklichkeit.

Doch auch in ästhetischen Werturteilen kann die andere, die skeptische oder verstiegen wirkende Sicht interessante Facetten beleuchten. Auch in dieser Hinsicht ist alles „erlaubt“ – abgesehen davon, wem die Rolle der Geschmackspolizei obliegen sollte.

So nehme ich mir die Freiheit, die Hervorbringungen der als heilig angesehenen Bauhaus-Bewegung der 1920er Jahre als Verirrung der traumatisierten Kriegsgeneration anzusehen, die mehr Schaden angerichtet hat als dass sie Dinge hervorgebracht hat, deretwegen man auf einen Besuch in Brügge, Bamberg, Lecce oder Ephesos verzichten würde.

Deshalb würde ich aber niemanden verbieten wollen, das genaue Gegenteil zu vertreten. Denn: Im Wettbewerb mit dem anderen Argument schärft sich entweder das eigene oder man muss einsehen, dass man damit auf dem Holzweg ist.

So verhält es sich auch mit vielem in Verbindung mit Vorkriegsautos. Das gilt nicht nur für aus meiner Sicht abwegige Konzepte, die anderen spannend und liebenswert erscheinen. Es gilt auch für das, was mit Vorkriegsautos in späterer Zeit angestellt wurde.

Umlackiert, neu karossiert, anders und weit stärker motorisiert – alles Mögliche wurde mit den nunmehrigen Gebrauchtwagen gemacht.

Die Reaktionen darauf sind so krass unterschiedlich, dass man die Frage stellen darf, wie es zu so divergierenden Ansichten kommen kann. Den Anlass dazu, dem nachzuspüren, lieferte mir diese Aufnahme, die ich kürzlich erworben habe:

Bentley 4¼ Litre „Turner Supercharged“; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese hübsche Szene wurde irgendwann in den 1960er Jahren in England aufgenommen. Sie gefiel mir, weil sie mich ein wenig an das „Goodwood Revival“ im südenglischen Sussex erinnert, wo es damals ganz ähnlich aussah (und heute wieder).

Der Roadster mit der markanten Zweifarblackierung und der eigenwillig bauchigen Karosserielinie ist anhand des Kühler schnell als Bentley identifiziert.

Ich habe zwar schon unzählige Bentleys gesehen – sowohl im englischen Goodwood als auch bei den Classic Days am Niederrhein – doch habe ich eigentlich keine Ahnung davon. Das liegt vor allem daran, dass kaum einer dem anderen gleicht, sehr oft wurden die Chassis nach Kundenwunsch mit individuellen Karosserien versehen.

So gab ich mich angesichts des Alters des Abzugs der naiven Hoffnung hin, dass ich eine Vorkriegs-Roadsterversion „geschossen“ hatte.

Aber ach, selten irrte ich so wie hier. Ein Aufruf in meiner internationalen Facebook-Gruppe zu Vorkriegsautos ergab, dass es sich um einen bekannten Nachkriegs-Special auf Basis eines 1937er Bentley handelt – noch dazu um einen heftig leistungsgesteigertes Auto.

„Horror oder Hotrod?“ – vor dieser Frage stand ich nun, etwas enttäuscht. Tatsächlich lassen sich jedoch für beide Sichtweisen treffliche Argumente ins Feld führen.

Für dieses Gefährt wurde nämlich ein 1937er Bentley des Typs 4¼ Litre „überarbeitet“, um es vorsichtig auszudrücken.

Der ursprünglich mit einem geschlossenen Aufbau von Park Ward versehene Wagen geriet nach über 100.000 km Laufleistung anno 1958 in den Besitz von B.M. Russ Turner.

Der ließ die originale Karosserie weitgehend verschrotten, das Chassis kürzen und diesen eigentümlichen Roadsteraufbau von Caffyns & Co. of Kent & Sussex (Worthing) in Aluminium anfertigen. Immerhin wurde das Armaturenbrett mit seiner markentypisch bizarren Instrumentenansammlung beibehalten.

Das ist natürlich der Horror von Bentley-Enthusiasten, die beklagen, dass es heute mehr offene Aufbauten gebe als geschlossene, während das in der Vorkriegszeit umgekehrt war.

Man mag diese Praktik bedauern, vor allem wenn sie bis in unsere Tage anhält. Aber: Was weg ist, ist weg, und Jammern bringt die alte Herrlichkeit nicht zurück.

Schauen wir also aus einer anderen Perspektive darauf. Während eine klassische Bentley-Limousine der 1930er Jahre nach dem Krieg wenig Zukunftschancen hatte, war es genau so ein Horror-Umbau, der dem Wagen überhaupt ein Fortleben ermöglichte.

Damit wären wir bei dem Phänomen „Hotrod“, das wie alle aufregenden Dinge umstritten ist. Denn mit der sportlichen Neukarossierung ging auch eine Leistungssteigerung einher.

Den originalen 4,3 Liter-Motor behielt Mr. Turner bei, ließ ihm aber mit gleich zwei „Arnott“-Kompressoren ordentlich mehr Power verpassen. Weit über 200 PS Spitzenleistung waren das Ergebnis und mit einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als 200 km/h war der Bentley „Turner Supercharged“ lange einer der schnellsten Vorkriegs-Bentleys überhaupt.

Nach einigen Besitzerwechseln steht der einsatzfähige Wagen aktuell (Dezember 2025) für 172.500 Pfund zum Verkauf. Das ist aber keineswegs der Grund, weshalb ich ihn vorstelle, es ist reiner Zufall. Kenner und Leser Pál Négyesi brachte mich darauf.

Und jetzt beurteilen Sie hier selbst, ob das ein Horror oder ein Hotrod ist. Für mich ist der Wagen beides – wie gesagt: es sind oft die Widersprüche, die den Reiz einer Sache ausmachen…

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