Unbekannte Größe: Opel-Feldpostkarte von 1916

Die Beschäftigung mit Vorkriegsautos hat durchaus ihre Schattenseiten. So ist die große Epoche edler und exaltierter Manufakturwagen längst Geschichte.

Immerhin gibt es überlebende Beispiele einstiger Karosseriebaukunst. Ist so ein Anblick nicht im wahrsten Sinne des Wortes erhebend?

Delahaye_Werks-Cabriolet_Chantilly_2015

Delahaye Cabriolet in Chantilly 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Für moderne Automobile hat man nur noch ein mildes Lächeln übrig, wenn man die Vielfalt an Marken, Typen und Konzepten der Vorkriegszeit zu erfassen beginnt.

Da gab es mehrere tausend Hersteller, die auf allen Feldern heftig konkurrierten, entsprechend rasante Fortschritte machte die technische Entwicklung.

Benzinkutschen, Dampfwagen, Elektroautos, sogar Hybridfahrzeuge – das gab es vor über 100 Jahren alles parallel, übrigens ganz ohne Zutun gefühlsgeleiteter Politiker/innen (muss an dieser Stelle sein), deren Kompetenz sich in einem erfolgreich abgebrochenen Theologiestudium erschöpft…

Übriggeblieben sind aus dieser Epoche des Aufbruchs in neue Dimensionen der Mobilität gut ein Dutzend Marken.

Einige wie BMW und Daimler gehören trotz mancher Verirrungen immer noch zur Speerspitze des Fortschritts. Andere wie Alfa und Fiat sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Irgendwo dazwischen lässt sich Opel ansiedeln.

Dabei geht es weniger um das heutige technische Können der Rüsselsheimer als vielmehr um die Preisgabe eines Marktsegments, in dem man vor über 100 Jahren selbstverständlich angesiedelt war – der Oberklasse.

Um diese heute kaum noch bekannte Positionierung der Marke Opel geht es nebenbei auf dem historischen Foto, mit dem wir uns heute befassen:

Opel Tourenwagen um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme ist zugleich ein Lehrstück in punkto Identifikation früher Automobile, die gerade bei Modellen vor dem 1. Weltkrieg oft schwerfällt.

Die mäßige Qualität des Abzugs, die wohl einer zu kleinen Blendenöffnung des Objektivs geschuldet ist, hält uns nicht davon ab, uns dem großzügigen Tourenwagen so weit wie möglich zu nähern.

Stellen wir uns „janz dumm“ und beschreiben erst einmal allgemein, was wir vor uns sehen: Fünf militärisch wirkende Herren, die fast alle Schnauzbart tragen, in einem offenen Automobil.

In Verbindung mit dem Hoheitszeichen auf der rechten Wagenseite und der Aufschrift auf der Motorhaube spricht das für eine Aufnahme aus der Zeit des 1. Weltkriegs, und zwar auf deutscher Seite.

Tatsächlich wurde diese Aufnahme im Januar 1916 als Feldpostkarte eines an der Westfront stationierten „Oskar“ an seine Cousine „Paula“ verschickt.

Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass wir auch ein deutsches Auto vor uns haben, obwohl sich hin und wieder Fotos erbeuteter Fahrzeuge belgischer und französischer Marken finden.

Rücken wir unserem „Militärtransporter“ näher zu Leibe:

Festzuhalten sind folgende Elemente:

  • Die Motorhaube stößt nicht rechtwinklig auf die Schottwand unter der Windschutzscheibe, vielmehr schafft eine Blechpartie – der sogenannte Windlauf – einen strömungsgünstigeren Übergang. Dieses Detail setzte sich bei den meisten deutschen Herstellern ab 1910 durch.
  • Der Wagen besitzt einen Flachkühler, der ab 1914 bei vielen Marken im deutschsprachigen Raum durch einen modischen Spitzkühler abgelöst wurde.
  • Zwischen dem Vorderschutzblech, dessen Form nicht mehr ganz dem Auslieferungszustand entspricht, und den beiden Ersatzreifen zeichnen sich vier bis fünf leicht nach hinten geneigte Luftschlitze in der Haube ab.

Stilistisch bewegen wir uns damit in der Zeit um 1912. Die Gestaltung der Luftschlitze verweist auf diverse Modelle der Marke Opel aus jener Zeit.

Bestätigen lässt sich diese Hypothese durch Vergleich mit zeitgenössischen Fotos von Opel-Wagen in der Literatur. Dort findet sich auch ein weiteres Detail:

Gemeint ist der durch eine Zierlinie akzentuierte Ausschnitt im unteren Bereich des Heckschutzblechs. Er gibt den Blick frei auf die vordere Aufnahme der hinteren Blattfeder.

Auch Form und Anordnung der Trittbretthalter sowie das Fehlen eines die Schwellerpartie abdeckenden Blechs sprechen für einen Opel um 1912.

Nicht „serienmäßig“ wirkt der starke Sturz des Hinterrads, der bei einer Starrachse eigentlich nicht möglich ist – außer, wenn sie gebrochen ist…

Was zeichnet sich eigentlich auf dem oberen Teil des Reifens ab? Leser René Förschner plädiert für Stricke, die nach Art einer Schneekette um die Hinterreifen gewickelt sind. Plausibel auch in Anbetracht des Datums des Fotos: Januar 1916.

Unterdessen gehen wir der Frage nach, ob sich ein Opel-Typ der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg identifizieren lässt, der mit „unserem“ Wagen übereinstimmt.

Da stoßen wir jedoch an unsere Grenzen – denn wie bei anderen deutschen Marken der Zeit vor dem 1. Weltkrieg unterschieden sich die Opel-Typen hauptsächlich durch ihre Dimensionen – formal waren sie weitgehend identisch.

Anhaltspunkte geben lediglich der Radstand, der mit wachsender Motorisierung tendenziell zunahm, und das Verhältnis von Karosseriekörper zu Insassen.

Konkret bedeutet das: Das Spitzenmodell von Opel, der Typ 40/100 PS mit über 10 Liter Hubraum (aus vier Zylindern…) ähnelte formal stark dem Kleinwagentyp 6/16 PS (mit 1,5 Liter-Motörle), war aber weit länger, höher und geräumiger.

So wie im richtigen Leben die Wahrheit oft in der Mitte (nicht im Mittelmaß) liegt, sind wir aufgrund der Proportionen gut beraten, den Opel auf Oskars Feldpostkarte an Paula in der Mittelklasse anzusiedeln.

Der Verfasser tippt auf einen Opel des Typs 8/20 PS, noch eher aber auf einen Typ 10/24 PS (ab 1913: 10/30 PS) mit rund 3 Meter Radstand.

Diese Wagen waren im Unterschied zu den Oberklassemodellen von Opel zwar um einiges langsamer, eigneten sich aber dank geringeren Gewichts und niedrigeren Verbrauchs eher für den Militäreinsatz.

Die sprichwörtliche Opel-Solidität boten sie ebenso wie die Spitzenmodelle. Damals durfte man bei einem Rüsselsheimer Klein- und Mittelklassewagen dieselben Verarbeitungsstandards wie bei den Premiummodellen erwarten.

Heute geht das schon deshalb nicht mehr, weil sich Opel vor Jahrzehnten aus der Oberklasse verabschiedet hat.

Kein Wunder, dass die Opel-Typen aus der Zeit vor der dem 1. Weltkrieg heute ebenso eine unbekannte Größe darstellen wie der Motor unter der Haube des Tourenwagens, in dem vor über 100 Jahren vermutlich unser Feldpostverfasser Oskar saß und mit dem er seine Cousine Paula beeindrucken wollte.

Hoffen wir, dass die Sache für ihn besser ausgegangen ist als die Geschichte von Opel in jüngerer Zeit…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

2 Gedanken zu „Unbekannte Größe: Opel-Feldpostkarte von 1916

  1. Hallo Michael, das was sich da am hinteren Reifen abbildet sieht aus wie eine Umwickelung des Rades mit Seil, in einer Art die Schneeketten entspricht. Vermutlich wollte man damit die Traktion des Wagens im Felde und der zur Front führenden Wege und Schlammpfade verbessern.
    Viele Grüße, René

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