Verborgene Schönheit: Ein Tatra 75 Cabriolet

Betrachtet man den Zulauf, den die Klassikerszene seit etlichen Jahren genießt, fragt man sich nach den Motiven dieser massenhaften Hinwendung an aus heutiger Sicht oft unzulängliche Schöpfungen auf vier Rädern.

Dass historische Kraftwagen mehr Kenntnis und Können vom Fahrer verlangen, ist sicher ein Aspekt, der zur Lust an der Oldtimerei beiträgt. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu – die Freude an der schönen Form.

Auf diesem Sektor haben die meisten Hersteller schon lange nichts mehr zu bieten, außer einem Gruselkabinett an Wagen mit wild in alle Richtungen wuchernden Formen, denen kein erkennbares Gestaltungsprinzip mehr zugrundeliegt – außer vielleicht dem der ungewollten Karikatur:

Jaguar_Pickup_Malta

Jaguar XJ und moderner Pritschenwagen auf Malta; Bildrechte: Michael Schlenger

Für Menschen, denen Ästhetik wichtig ist, vielleicht sogar wichtiger als Technik, bleibt heute fast nur noch die Rolle rückwärts in die Vergangenheit.

Der Verfasser dieses Blogs besaß nur einmal einen relativ „neuen“ Wagen – einen 1200er-Käfer von 1985, der ihm als 12 Jahre alter Gebrauchter zulief und im Vollgasalltag eine Laufleistung von 210.000 km mit dem ersten Motor erreichte.

Danach wandten sich die automobilen Leidenschaften immer älteren Fahrzeugen zu. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass die Welt der Vorkriegsautos einen  unerschöpflichen Kosmos bietet, in dem sich der Augenmensch verlieren kann:

Hotchkiss-Wagen in Chantilly 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Ist diese Heckpartie nicht hinreißend? Solche sinnlichen Kreationen gibt es schon lange nicht mehr – auch das erklärt die seit den 1970er Jahren immer stärker anschwellende Altautobewegung.

Jetzt aber zum eigentlichen Gegenstand des heutigen Blogeintrags. Regelmäßige Leser haben vielleicht bemerkt, dass den Verfasser die sich ab den 1920er Jahren häufenden Experimente mit Stromlinienfahrzeugen faszinieren.

Einer der Höhepunkte dieser Entwicklung waren zweifellos die beeindruckenden Modelle 77 und 87 des tschechischen Herstellers Tatra.

Die Idee eines Stromlinienwagens mit 8-Zylindermotor im Heck war zwar nicht neu. Das Konzept wurde erstmals 1933 in den USA mit dem Briggs-Prototype verwirklicht. Doch eine Serienfertigung eines solchen Wagens gelang erst Tatra.

Hier haben wir ein ungewöhnliches Foto eines Tatra 87, das einen Blick auf den hintenliegenden luftgekühlten V8 erlaubt:

Tatra 87; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So fesselnd diese tschechischen Geniestreiche sind, im klassischen Sinne schön wird man sie kaum nennen können.

Wenig bekannt ist, dass Tatra auch souverän das Metier des klassischen Automobils beherrschte.

Wer würde denken, dass die folgende Aufnahme ebenfalls einen Tatra zeigt?

Tatra 75 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch der Kulturbanause würde hier auf ein Auto der 1930er Jahre tippen. Dabei sieht man nicht viel von dem Wagen – und unscharf ist die Aufnahme obendrein.

Es gibt jedoch formale Ideen, die so klar sind, dass sie sich von selbst in eine Schublade einsortieren. Eine gotische Kirche lässt sich auch ohne kunstgeschichtliche Vorbildung von den Betonbrutalitäten der Gegenwart unterscheiden.

Allein die verchromte Sturmstange am Verdeck des Cabriolets und der korrespondierende Schwung der Karosserielinie darunter sind ein ästhetischer Leckerbissen:

Der aufmerksame Betrachter wird außerdem die Seitenschürzen der Vorderschutzbleche bemerken, die auf eine Entstehung ab 1933 hindeuten.

Etwas oberhalb davon zeichnen sich auf der Motorhaube waagerechte Zierleisten ab – sie geben den entscheidenden Hinweis auf Hersteller und Typ.

Nach Lage der Dinge haben wir hier ein Cabriolet des ab 1933 gebauten Tatra 75 vor uns, der einen 30 PS leistenden luftgekühlten 4-Zylinder-Boxermotor besaß und an die 100 km/h schnell war.

An diesen technisch eigenwilligen und zugleich enorm stilsicher gestalteten Wagen gibt es nur eines auszusetzen – es wurden recht wenige davon gebaut. Die Literatur nennt kaum mehr als 4.500 Exemplare.

Dass von diesen feinen Manufakturautos einige bis heute überlebt haben, ist die gute Nachricht. Dieser Tatra 75 mit zauberhafter Roadster-Karosserie erfreut schon seit einigen Jahren die Besucher der Classic-Days auf Schloss Dyck:

Tatra 75 Roadster; Bildrechte: Michael Schlenger

Doch auch die serienmäßigen Cabriolets des Typs Tatra 75 werden von Enthusiasten hingebungsvoll gepflegt.

Leser Helmut Kasimirowicz verdanken wir folgendes Foto eines Tatra 75 Cabrios, das auf verschlungenen Wegen nach Düsseldorf gelangt ist und dort in besten Händen ist. Hier sieht man auch die erwähnten Zierleisten auf der Motorhaube:

Tatra 75 Cabrio am Rhein; Bildrechte: Helmut Kasimirowicz

Zwei weitere Tatra 75 – ein Cabrio und eine Limousine – sind die Stars eines Kurzfilms, der viel von der Freude verrät, ein Vorkriegsauto zu besitzen und zu bewegen:

© Videoquelle YouTube; Urheberrecht: Tomas Stancel

Ob unsere Nachfahren in 80 Jahren mit vergleichbarem Stolz und Genuss einen Renault mit so wohlklingenden Namen wie „Captur“ oder „Koleos“ bewegen werden?

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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