Freude am Detail: Selve 6/20 PS bzw. 6/24 PS

Sich an Details abarbeiten – das kann entweder zu idealen Lösungen führen oder dazu, dass man das Wesentliche aus dem Auge verliert. Dies macht den Unterschied aus zwischen souveränen Marktführern und überforderten Akteuren, die nichts fertigbekommen.

Leider neigt sich die Waage hierzulande inzwischen allzuoft zugunsten des zweiten Phänomens – zum Selbstzweck verkommenen Detailfetischismus, der das Ziel aus dem Auge verliert und sich im Labyrinth selbstgeschaffener Komplexität verzettelt und verirrt.

Beruflich bedingt habe ich hin und wieder das zweifelhafte Vergnügen, die Software eines großen deutschen Anbieters zur Abrechnung von Aufträgen benutzen zu müssen. Etwas weniger Intuitives, weniger Bedienerfreundliches, weniger Logisches ist mir auf diesem Sektor noch nicht untergekommen. Solche Lösungen müssen im Detail präzise sein, aber der Anwender muss am Ende damit zeitsparend und sicher umgehen können.

Kein einziges weltweit von Millionen genutztes und geschätztes modernes Alltagsgerät kommt aus Deutschland – das muss Gründe haben, die im Detail liegen.

Dagegen ist im Fall von Vorkriegswagen auf alten Fotos gerade die obsessive Beschäftigung mit Details ein steter Quell der Freude, ja oft genug der entscheidende Erfolgsfaktor – heute bringe ich ein Beispiel dafür:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ist das nicht erbaulich, wie der Fotograf hier den Blick auf das für ihn entscheidende Detail gelenkt hat? Ihm waren die beiden Insassen dieses Tourenwagens wichtiger als anderes und wir freuen uns noch nach rund 100 Jahren über die lebendige Wirkung.

So sind die Dame mit der modischen Bubikopf-Frisur und ihr voller Vorfreude in die Ferne schauenden Nachbar am Lenkrad für immer jung geblieben – was für ein schönes Ergebnis dank des Sinns für’s Detail am rechten Ort!

Ohne die beiden wären wir nicht halb so erbaut von dieser Aufnahme. Aber wir hätten selbst dann noch genügend Details, mit denen wir uns produktiv auseinandersetzen können.

Wie das geht, lässt sich anhand einer oberflächlich schnöden Nebensache wie den beiden höhenversetzt angeordneten Klappen an der Flanke des Wagens zwischen Motorhaube und Vordertür nachvollziehen.

Sie dienten der Belüftung des Fußraums, in dem es für Fahrer und Beifahrer ziemlich heiß werden konnte – dort strahlten nämlich Getriebe und Auspuffanlage kaum isoliert ihre Hitze ab. Was in der kalten Jahreszeit willkommen war, wurde bei warmen Temperatur zur Tortur.

Warum hier zwei Klappen verbaut waren und warum sie unterschiedlich hoch angebracht wurden, kann ich nicht sicher sagen. Möglicherweise geschah es in rein dekorativer Absicht.

Einen Vorteil hatte die nach meinem Eindruck ziemlich einzigartige Anordnung aber: Dieses Detail erlaubt nämlich eine Ansprache des Wagens als Tourenwagen des Typs 6/20 PS oder 6/24 PS, wie ihn die norddeutsche Firma Selve Anfang der 1920er Jahre baute.

Präzise dieselbe Gestaltung findet sich an dem Exemplar, das auf dem folgenden Foto aus der Sammlung von Leser Jason Palmer zu sehen ist:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Jason Palmer (Australien)

Während der Blick auf die Insassen in diesem Fall nicht halb so reizvoll ist, sehen wir hier die Details der Frontpartie, welche die Identifikation als Selve erlauben.

Dazu zählt vor allem die Gestaltung des spitz zulaufenden Kühlers mit der schräg oben auf der „Nase“ angebrachten Markenplakette (zum Vergleich siehe meine Selve-Galerie).

Gleichzeitig sorgen die ungewöhnlich kleinen und oben angeordneten Haubenschlitze dafür, dass man den Wagen nicht mit dem zeitgleichen und weit häufigeren Presto Typ D 9/30 PS verwechseln kann.

Hier noch ein Ausschnitt der Partie, welche auf dem eingangs gezeigten Foto zu sehen ist – es stimmt alles bis ins Detail überein. Man sieht hier zudem besagte Klappen geöffnet:

Das ist doch ein ganz nettes Ergebnis von Detailfetischismus, oder? Der Vollständigkeit halber sei hier auch auf die seitlichen Parkleuchten verwiesen, die es in den frühen 1920er Jahren bei deutschen Fabrikaten sonst nicht gab – das war eher typisch für US-Modelle.

Doch wie ich in der Einleitung sagte, soll man bei aller Detailfreude das Ganze nicht aus dem Auge verlieren – und so wäre es doch einigermaßen unbefriedigend, wenn man mit der Betrachtung einzelner Elemente endete.

Tatsächlich ist die heutige Auseinandersetzung mit den Details der frühen Selve-Wagen aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg kein Selbstzweck. Vielmehr sind wir nun in der Lage, das Fahrzeug als Ganzes wahrzunehmen und zu würdigen.

Denn wie es der Zufall will, hat der Fotograf seinerzeit das Auto mit dem sympathischen jungen Paar auch in seiner Gesamtheit für die Nachwelt abgelichtet:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Jetzt sieht man das Auto, welches nicht ganz scharf wiedergegeben ist, mit anderen Augen und weiß es dank der Beschäftigung mit vorgenannten Details besser einzuordnen.

Und nun fallen einem auch weitere Dinge auf, die das Fahrzeug bei allen Mängeln der Wiedergabe interessant machen. Denn wieder haben wir die merkwürdigen kleinen Haubenschlitze, diesmal aber weiter hinten angeordnet.

Besser erkennt man dies auf diesem Foto, das denselben Wagen zeigt:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Solche Details wollen vermutlich nicht viel bedeuten, was die Datierung und/oder Motorisierung dieses Selve angeht – doch werfen sie gewisse Fragen, die ich derzeit nicht beantworten kann. Handelt es sich um zufällige Variationen in der laufenden (Manufaktur-)Produktion oder ist dies ein Hinweis auf eine zeitliche Abfolge?

Und was ist davon zu halten, dass es den Selve auch mit ähnlich anmutender Karosserie, aber oben in der Haube angebrachten Griffmulden gab?

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ich vermute einfach, dass parallel unterschiedliche Stile angeboten wurden – für Kunden, die damals ebenfalls Freude an solchen Details hatten…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.   

2 Gedanken zu „Freude am Detail: Selve 6/20 PS bzw. 6/24 PS

  1. Der Wagen von deinen Fotos, Michael, gleicht ja dem Wagen von Jason Palmer wirklich bis auf die Haubenschlitze bis ins Detail.
    Auch die Seitenlaternen sind nun gut erkennbar. Es handelt sich hierbei um Bosch Seitenlampen Typ „J70“ wie sie überwiegend für die Seitenwagenbeleuchtung vorgesehen waren. Vgl. http://www.iveteran.cz/inzerat/prodam-lampicku-bosch-j70-na-sidecar/30015
    Bei deinem Wagen scheinen die Schlitze der Haube „klassische“ Auslassschlitze zu sein, die die den Kühler und Motorraum durchströmende Luft vor der Spritzwand wieder rauslassen soll. Bei Herrn Palmers Wagen wo die Schlitze weiter vorn sind, handelt es sich jedoch um Einlassschlitze (Öffnung nach vorn). Hier sollte ein bestimmter Motorteil vermutlich zusätzlich gekühlt werden (Zündmagnet, Krümmer oder ähnliches). Was hier nun die neuere Version war, kann ich jedoch nicht sagen.
    Beim Wagen von Matthias Schmidt muss es sich jedoch meiner Meinung nach nicht nur um eine Karosserievariation sondern um eine ältere Variante handeln. Das ganze Auto wirkt irgendwie archaischer als die beiden dunklen Wagen, was zum einen an der Gestaltung der vorderen Kotflügel liegt, die im oberen Bereich der Form des Rades noch nicht zu schön folgen, und sicher auch an den Stahlspeichenrädern. Der eindeutige Hinweis ist jedoch der Durchmesser der hinteren Bremstrommeln. Sie scheint im Laufe der Entwicklung vergrößert worden zu sein ( Bild Hr. Schmidt klein, beide anderen groß).

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