Ist das denn noch „Vorkrieg“? Ein Pontiac Six von 1939

Bisweilen erhalte ich freundliche Hinweise von Lesern, dass sie meine Ausflüge in die Welt der Vorkriegsautos zwar gerne lesen, aber zugleich eine stärkere Konzentration auf die Fragen der Entwicklung, Technik und Gestaltung wünschen.

Anders gesagt: Meine bisweilen mäandernden Hinführungen zum eigentlichen Thema gefallen nicht jedem. Das verstehe ich, kann und will es aber nicht ändern.

Ich verfasse hier keine Auftragsarbeiten, bei denen es irgendjemandes Wünsche zu berücksichtigen gilt – ein Blog ist eine subjektive Ausdrucksform und weil ich die Chose produziere und bezahle, bestimme ich auch Inhalt und Herangehensweise.

Mehr Grundsätzliches dazu in meinem Kommentar zum vorangegangenen Blog-Eintrag. Konkreteres in der Hinsicht heute anhand der Frage „Was ist eigentlich ein Vorkriegsauto?“

Diesen Beitrag hatte ich ohnehin geplant, und jetzt nutze ich die Gelegenheit dazu darzulegen, dass es beim Thema „Vorkriegsautos auf alten Fotos“ nicht um nüchterne akademische Abhandlungen geht – die finden Sie ggf. anderswo (oder auch nicht…).

Vielmehr kommt man oft nicht umhin, sich für eine ganz persönliche Sicht zu entscheiden, Sie zu erläutern und auch zur Diskussion zu stellen.

Jetzt werden manche sagen: Ist doch ganz klar, das hier ist ein Vorkriegswagen:

Adler 18/35 PS „Präsidentenwagen“ des ASC im Juni 2024 in Butzbach; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieses herrliche Gefährt durfte ich kürzlich bei einer Ausfahrt des „Allgemeinen Schnauferl Clubs“ (ASC) in meinem Nachbarort Butzbach (Hessen) live erleben.

Wer angesichts eines solchen Meisterwerks des frühen Automobilbaus stur sachlich bleiben möchte, der ist ein armer Tropf, behaupte ich.

Dieses fast 120 alte, einst in den Adlerwerken zu Frankfurt am Main entstandene 18/35 PS-Modell ist eine Erscheinung aus einer anderen, längst untergegangenen Welt. Es in Bewegung zu erleben, ist ein geradezu mystisches Erlebnis.

Die Männer, die es geschaffen haben, die Menschen, die es einst im Alltag erlebten – sie sind allesamt verschwunden so wie weite Teile der Welt von damals – die großartigen und ebenso die verstörenden. Doch der Adler ist noch da, als wäre nichts gewesen.

Noch dazu begeistert der Umstand, dass er von jungen Leuten gefahren wird, wo diese sich doch angeblich nicht mehr für’s alte Blech interessieren. Im vorliegenden Fall weiß ich, dass das reine Erziehungssache ist – schon mit der Bemerkung mache ich mir nicht nur Freunde.

Kein Zweifel: Dies ist ein Vorkriegswagen, denn er verfügt über freistehende Kotflügel, eine klar davon abgegrenzte Hauben- und Kühlerpartie und überhaupt ist er aus einzelnen funktionellen Elementen zusammengesetzt.

Ganz anders dieses Fahrzeug, das ich bei derselben Gelegenheit aufgenommen habe. Es gehört einem ortsansässigen Enthusiasten, den ich nach Jahren wieder einmal zufällig traf. Er entschuldigte sich dafür, dass sein Wagen nicht perfekt sei, doch sehen Sie selbst:

Jaguar XK 120 in Butzbach im Juni 2024; Bildrechte: Michael Schlenger

Ein herrliches Auto – der Jaguar XK120 Roadster – aus meiner Sicht eines der schönsten der späten 1940er Jahre aus europäischer Produktion.

Doch auch wenn es motorenseitig das Aufregendste war, was damals zu bekommen war (2,4 Liter DOHC-Sechszylinder mit 160 PS) wirkt die Form noch von Vorkriegsautos beeinflusst.

Für mich gehört dieses Gerät zu den vollkommensten Beispielen der Synthese des Besten aus der Welt von Gestern und der Moderne. Dass der Jaguar XK 120 Ergebnis einer Nacht-und-Nebel-Aktion war, bestätigt meine Überzeugung, dass die besten Dinge unter großem Druck entstehen – er setzt die wirklich kreativen Kräfte des Menschen frei.

Das war schon wieder so eine unsachliche Behauptung – na und? So geht das nämlich dauernd, wenn man sich mit diesen Skulpturen aus Blech auseinandersetzt, die für manchen der eigentliche Ausdruck künstlerischer Meisterschaft der Neuzeit sind.

Wie schwierig es ist, eine objektive Grenze zwischen Vor- und Nachkriegsautos zu ziehen, das wurde mir (wieder einmal) klar, als ich bei einem kürzlichen Zwischenhalt aus dem Fenster des Hotels am Vierwaldstättersee in der Schweiz schaute:

Wagen des Luxemburger Morgan-Clubs in Beckenried, Juni 2024: Bildrechte: Michael Schlenger

Noch so eine unnötige Schleife in die Gegenwart, zudem aus der Perspektive unseres disziplinlosen Blog-Warts – das denkt jetzt vielleicht einer.

Gewiss, aber bis hier haben Sie doch durchgehalten, oder? Bleiben Sie dran, es geht am Ende schon in die Welt von Schwarz-und-Weiß, auch wenn das Thema sich als schwierig erweisen wird – soviel vorab.

Doch erst einmal nähern wir uns diesen Sportwagen des britischen Traditionsherstellers Morgan, der seit über 90 Jahren im Geschäft ist. Gebaut wurden und werden diese Wagen (teilweise) noch immer in Vorkriegsmanier, also mit blechbeplanktem Holzrahmen.

Das Ergebnis sah und sieht wie folgt aus:

Morgan-Roadster in Beckenried, Juni 2024: Bildrechte: Michael Schlenger

Aha, da haben wir einen in Deutschland zugelassenen Morgan, der sich der Ausfahrt der Luxemburger Kollegen angeschlossen hat, über die ich sonst nichts weiß – alles Zufall.

Mit Vergnügen nutze ich solche Beobachtungen am Wegesrande meines Daseins, um sie in meine Betrachtungen einzuflechten.

Was meinen Sie? Sind das nun Vorkriegswagen oder nicht? Formal sind sie jedenfalls deutlich früher als der 1948er Jaguar XK120 anzusiedeln, irgendwo in den 1930ern.

Doch nicht nur die Nachkriegsmotoren und der Komfort, den die Morgans boten und bieten, machen sie zu Schöpfungen der Nachkriegszeit.

So großartig das Fahrgefühl in diesen Wagen auch sein mag. Eines fehlt ihnen genau wie den zuhauf angebotenen Rekonstruktionen von Vorkriegswagen. Sie waren nicht „dabei“.

Was meine ich damit?

Jeder, der ein Faible für wirklich historische Gegenstände hat, Bücher des Barock, Musikinstrumente des 19. Jahrhunderts oder Artefakte aus dem Jugendstil, kennt die Magie des Antiken und kennt die Frage: Wer mag das einst besessen haben?

Und daran anknüpfend die menschliche Frage schlechthin: Was wurde aus den Besitzern, was ist ihnen in den Katastrophen der Vergangenheit widerfahren?

So, damit sind wir nun endlich dort angelangt, wohin ich eigentlich wollte – aber es ging nur auf diesem Umweg, sonst würde Ihnen das folgende Foto vielleicht banal vorkommen:

Pontiac Six im Mai 1939; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ja, ist das denn noch ein Vorkriegswagen? Nach den bisherigen Betrachtungen fällt die Antwort wie in vielen existenziellen Fragen ambivalent aus: ja und nein.

Die Frontpartie dieses Autos wirkt bereits wie aus einem Guss, ein Kühler ist eigentlich nicht mehr als eigenständiges Element zu erkennen – die Kotflügel sind nicht mehr freistehend.

Dieser Wagen ist weit näher am Nachkriegs-Jaguar XK 120 als an den optisch auf Vorkrieg getrimmten Morgans – was kein Werturteil sein soll, ich mag die Dinger.

Aber: Der Datierung der Aufnahme nach ist der Fall klar. Das Auto wurde im Mai 1939 fotografiert und sein Konterfei gelangte per Post an die Verwandtschaft in Deutschland – wo es die Zeiten bis in unsere Tage überdauerte, mehr wissen wir nicht.

Entstanden ist dieses Zeitdokument in Fremont im US-Bundesstaat Nebraska, während der Wagen selbst im Bundesstaat Iowa zugelassen war. Identifizieren konnte ich das Auto als Pontiac „Six“ des Modelljahrs 1939 – der Wagen war also noch ziemlich neu.

Was macht diesen Pontiac bei aller Modernität der Erscheinungsform zu einem Vorkriegswagen? Das ist die zeitgeschichtliche Komponente, an der hier kein Weg vorbeiführt.

Denn wir dürfen annehmen, dass etwas mehr als fünf Jahre später – im Juni 1944 – irgend ein Mann, der diesen Pontiac gefahren oder gesehen oder in der Umgebung gelebt hat, an der Landung der US-Truppen in der Normandie beteiligt war.

Dort gab es einen nach der größten Stadt Nebraskas – Omaha – benannten Strandabschnitt. Was sich dort am 6. Juni an Horror auf beiden Seiten abspielte, ist schwer zu erfassen.

Die jungen US-Soldaten liefen aus den Landungsbooten ungedeckt in das deutsche Abwehrfeuer hinein – während ihre Gegner, mit denen sie in manchen Fällen verwandt waren, keine andere Wahl hatten, als die eigenen Stellungen und das eigene Leben zu verteidigen.

Das ist die Assoziation, die nur ein Foto eines Vorkriegsautos auszulösen vermag. Es ist der historische Ballast, den so ein Wagen mit sich schleppt, nicht Technik oder Formgebung.

Daher wird der perfekteste Neuaufbau nie ein Vorkriegsauto werden und umgekehrt ist selbst der erbärmlichste, x-fach umgebaute Überlebende immer noch ein Relikt der Vorkriegszeit.

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Ist das denn noch „Vorkrieg“? Ein Pontiac Six von 1939

  1. In diesem Blog kann man – so man möchte – die Karosserie-Entwicklung des Automobils bestens nachvollziehen.
    Beginnend beim hochbeinigen Kutschenartigen Vehikel mit kurzem Radstand, als man noch rätselte wohin mit dem Motor und die Verlegenheits-Lösung „tonneau“ erfand hin
    zu niedrigen längeren gekröpften Rahmen, beginnend beim Mercedes Simplex, die Erfindung und Entwicklung von Motorhaube und Kühler.
    Die Einführung des Windbleches zwischen Haube und Spritzwand ab 1910, das Finden der Scheinwerfer-Position, die ersten Gedanken über Luftwiderstand, was über Merkwürdigkeiten wie Bootsheck und Treppenkotflügel am Ende zu Lösungen von Rumpler, Jaray und Fachsenfeld führte und beim Chrysler Airflow Großserie wurde.
    Das „Anwachsen“ der Kotflügel an die Karosse, Scheinwerfer in Kotflügeln und die ersten „integrierten“ Kühlergrills des Designs willen sind Schritte hin zum Alltagtauglichen Automobil für alle.
    Also nur keine Hemmungen – auch dieses Auto ordnet sich in die Entwicklungsgeschichte ein. Wie lange haben Mercedes oder DKW versucht, an traditionelle Formen anzuknüpfen, weil man die Ponton-Karossen nicht so toll fand ?

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