Die Schöne und das Biest: Rätsel für Sterndeuter

Heute begann der Tag mit dichtem Nebel, es wollte kaum hell werden. Doch um die Mittagszeit kam die Sonne hervor und trotz des jahreszeitlich bedingt niedrigen Stands vermochte sie einen Hauch Wärme zu verbreiten.

Immer wieder wunderbar, welche Wirkung das auf das Befinden hat. Kaum verwunderlich, dass der Mensch von jeher die Sonne verehrt.

Nicht zufällig feierten die alten Römer am 25. Dezember den Festtag des Sol Invictus – des unbesiegten Sonnengotts. Terminliche Übereinstimmungen mit dem Weihnachtsfest nach Erhebung des Christentums zu römischen Staatsreligion in der Spätantike haben ihren guten Grund – wie übrigens sehr vieles anderes vom „Heidentum“ in der Kirche fortlebt.

Dazu gehört auch die Tradition der Sterndeuter – auf verschlungenen Wegen über die Zeiten zu den Heiligen Drei Königen oder auch Weisen aus dem Morgenland umgemodelt.

Auf diese Herrschaften kam ich abends, als ich zum Himmel emporsah. In nunmehr kalter Nacht knapp über dem Nullpunkt funkelten dort freundlich die Sterne. Der Blick nach oben ans Firmament gehört seit Urzeiten zu den Aktivitäten, die den Menschen „erden“ – im wahrsten Sinne des Wortes.

Schon in der Antike hatte man eine Vorstellung davon, dass sich dort unzählige Sonnen befinden, unter denen unsere nur eine ist.

Im „Traum des Scipio“ des römischen Politikers und Schriftstellers Cicero – ein im Lateinunterricht ignorierter Part seines Standardwerks „De re publica“ – findet man eine bemerkenswerte Beschreibung erst der Erde von oben, dann einen Blick auf diese aus dem All und eine entsprechende Einordnung der Bedeutung des Menschen.

Cicero beschrieb damit schon vor über 2000 Jahren quasi den „Pale Blue Dot„, den blassblauen Punkt namens Erde, den die US-Raumsonde Voyager 1990 aus 6 Milliarden Kilometern Entfernung aufnahm, bevor ihre Kamera abgeschaltet wurde und die Sonde unser Sonnensystem für immer verließ.

Auf diesem Umweg kam mir der Beruf des Sterndeuters in den Sinn, welcher ebenfalls in der Antike wurzelt, wenngleich ich mit Astrologie nichts anzufangen weiß.

Als Anhänger des Rationalismus im Denken verfiel ich darauf, gewissen „Sterndeutern“ der Gegenwart ein Rätsel aufzugeben, an dem sie sich erbauen und abarbeiten können.

Die Mercedes-Freunde, die ich damit meine, werden zunächst jede Zuständigkeit von sich weisen, wenn ich unter dem Motto „Die Schöne und das Biest“ ihre Dienste ausgerechnet in diesem Fall in Anspruch nehme:

Mercedes-Cabriolet Ende der 1920er Jahre; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nie und nimmer ist dieses Monstrum von Auto ein Mercedes!“ Kein Wunder, dass die adrette junge Dame hilfesuchend Blickkontakt mit uns aufnimmt. Wie es scheint, bereitet ihr das im Hintergrund lauernde Biest Ungemach. Nervös ringt sie die Hände, so scheint es…

Die brachiale Kühlerform, der kastige Aufbau, die breiten Reifen – nein, das ist nicht, was man sich als filigranes Frauenzimmer unter einem eleganten bis repräsentativen Mercedes vorstellt.

Damit hat sie einerseits recht – nirgend findet sich in der mir bekannten Literatur ein solches Biest von Automobil, das durch den Mercedes-Stern geadelt würde.

Andererseits scheint das Monster friedfertig gewesen zu sein, nur so ist zu erklären, dass sich unsere Schöne mit weiteren Zeitgenossen hat daneben ablichten lassen:

Mercedes-Cabriolet Ende der 1920er Jahre; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Die kolossalen Dimensionen und die hohe Schwellerpartie lassen einen an ein Automobil der Zeit kurz vor oder nach dem 1. Weltkrieg denken – auf grobe Weise nachträglich modifiziert.

Die Sterndeuter der Mercedes-Fraktion werden immer noch heftig den Kopf schütteln.

Doch, verehrte Leser mit einschlägiger Kompetenz, studieren Sie die Schwellerpartie mit dem darin eingelassenen Werkzeugfach etwas näher.

Das findet sich bei großvolumigen Mercedes-Wagen um 1920, als sich die Firma Daimler noch nicht mit Benz zusammengeschlossen hatte.

Sie sind als Sterndeuter immer noch unsicher? Dann schauen wir uns den Wagen genauer an:

Mercedes-Cabriolet Ende der 1920er Jahre; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier stehen „Die Schöne und das Biest“ geradezu einträchtig beisammen. „Hände aus den Taschen in Gegenwart einer Dame!“ höre ich jetzt meinen Lieblingsonkel rufen.

Leider scheinen die Herren auf diesem Foto nichts davon zu wissen – generell macht sich die Verlegenheitsgeste in solchen Situationen nicht gut. „Macht Euch doch einmal locker Männer„, möchte man ihnen zurufen, „Ihr gehört zu den oberen Zehntausend!“

Denn wer genau hinsieht, erkennt nun den Mercedes-Stern auf dem Kühler dieses kolossal dimensionierten Wagens. Unter der enorm langen Haube darf man einen Sechszylinder gigantischen Hubraums vermuten.

Ich dachte hier an ein Exemplar des 7,2 Liter-Mercedes des Typs 28/95 PS, der 1914 eingeführt und nochmals von 1920-24 gebaut wurde. Allerdings besaß der wohl durchweg armdicke Auspuffrohre, die auf der linken Seite aus der Haube hervortraten.

Davon ist jedoch hier nichts zu sehen:

Mercedes-Cabriolet Ende der 1920er Jahre; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Allerdings steht außer Frage, dass dieser Mercedes stark modifiziert wurde – der Kühler und die nach US-Vorbild nachgerüsteten Doppelstoßstangen künden davon.

Nicht nur professionelle Sterndeuter werden ihr Augenmerk noch auf ein anderes Detail lenken: Kann es sein, dass sich die geöffnete Tür hinter dem Heckkotflügel befindet?

Das würde bedeuten, dass dieser monströs anmutende Wagen einen über die Hinterachse hinausreichenden offenen Aufbau besaß – also im Stil eines Ausflugswagens mit mehreren hintereinanderliegenden Sitzreihen.

Solches findet sich in der Zwischenkriegszeit vielfach im Alpenraum zur Erbauung von Touristen, welche die Schönheiten der Bergwelt aus dieser Perspektive genießen wollten.

Aber: Wieso trug dieser modifizierte Mercedes dann eine Hamburger Zulassung? Sie sehen, liebe Sterndeuter, hier ist Ihre Expertise in besonderer Weise gefragt.

Ich verlasse mich da ganz auf die Magier auf ihrem Gebiet, während ich mich geistig und praktisch auf den Fund des Jahres vorzubereiten beginne, der mir in den nächsten Tagen einen Haufen Arbeit machen wird…

Ein Blick nach oben zu den Sternen in klarer Nacht, ein tiefer Atemzug in kalter Luft, der Genuss der Stille um diese Zeit – und mit einem Mal fühlt man die Fülle des Daseins. Machen wir was draus! Heute, morgen und im Neuen Jahr.

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7 Gedanken zu „Die Schöne und das Biest: Rätsel für Sterndeuter

  1. Es kommen in dieser Größenklasse nur ganz wenige Marken in Frage, die alle auf Mercedes-Niveau oder darüber angesiedelt waren. Es erscheint mir unplausibel, dass jemand an ein derartig kolossales Auto dann einen (eher verbreiteten) Mercedes-Stern schraubte. Die originale Kühlerfigur wäre doch naheliegenderweise gewesen. Wir kennen unzählige Fotos heftigst modifizierter und nicht immer optisch gelungener Autos aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg, die ab 1920 äußerlich „modernisiert“ wurden. Möglich war damals karosserieseitig alles und es gab Kühlermasken im Zubehör in allen erdenklichen Formen. Solange wir es nicht genauer wissen, lautet m.E. die Basishypothese: schwerer Mercedes mit individuellem Aufbau.

  2. Wie schon Herr Weigold schreibt, ist das wirklich einzige Merkmal, das auf Mercedes hindeutet, der Kühlerverschluss mit Mercedes-Stern. Ich glaube daher an einen Mercedes-Liebhaber als Besitzer, aber keinesfalls, dass es sich bei dem Fahrzeug selbst um einen Mercedes handelt. Kein anderes Bauteil scheint von einem Mercedes zu stammen.

  3. Wurde mal in Erwägung gezogen, dass es sich um einen Maybach, evtl. W5, handeln könnte?

  4. Halten zu gute, aber hintere TIre, offene, schlägt auf über Kotflügel nach hinten …..
    Am starken Kotfügelausschnitt erkennt man eher einen unangemessen kurzen Radstand gegenüber den gewaltigen Superballon- Reifen und der ungeschlachten Karosserie- Gestaltung, die keine Ähnlichkeiten mit den zu allen Zeiten hochwertigen Stuttgarter Karossen aufweist! Man beachte die völlige Überdimensionierung
    der A- Säulen und des Scheibenspriegels.
    Und: halten zu gute, daß ist Mercedesstern auf Kühlerdeckel
    verschraubt auf Kühler mit Gewinde, was ist genormt !

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