Getreu dem Motto eines deutschen Pressemoguls, dass man Ironie besser lassen solle, da sie meist doch nicht bemerkt werde, habe ich mich dazu entschieden, die Überschrift wenigstens in Klammern grammatikalisch korrekt zu fassen.
Tippfehler mache ich zwar zuhauf, weshalb ich über die Ausgangsfassung später immer noch einmal drüberbügele, aber in der Überschrift hätten Sie mir das nicht durchgehen lassen – also konnte ich „Keine Gnade der Gerade“ so nicht stehen lassen.
Inhaltlich meine ich es aber wie immer ernst. Dass die Gerade aus Sicht des Autoliebhabers keine Gnade verdient, das bezieht sich nicht nur auf die Kurve als ideale Verbindung zwischen zwei Punkten.
Auch sonst ist das Geradlinige, so praktisch es mitunter erscheint, nicht unbedingt erstrebenswert, wenn man zum Ziel gelangen will. Ein Beispiel war eine Videokonferenz mit einer Kundin heute morgen. Ich dachte, wer weiß was da ansteht, doch die Dame hatte bloß eine simple Frage, war aber bereits an ihrem Urlaubsort und obwohl sie dort noch etwas Arbeit zu erledigen hatte, war sie in Plauderlaune.
Ich hatte ebenfalls etwas Zeit und so verbrachten wir rund 20 Minuten damit, an der eigentlichen Sache vorbeizureden.
Unter anderem ergab es sich, dass wir erörterten, warum in Deutschland alle Kinder in dem Augenblick, wo sie mit einem Laufrad oder Dreirad unterwegs sind (mit identischer Fallhöhe und ähnlichem Tempo wie beim Laufen) reflexartig von den Eltern mit Helmen ausstaffiert werden, die eine künftige Karriere als Motocrosser oder Downhill-Mountainbiker vorausahnen lassen.
Tatsächlich macht das in der Heimat ihrer Eltern (der Türkei) und der ihres Mannes (Montenegro) kein Mensch, und die eigenen Kinder können zumindest dort so frei herumtollen wie ich das aus meiner Kinderzeit kenne (und ich bin oft mit dem Rad gestürzt).
Aus dem mäandernden Gespräch ergaben sich weitere Perspektiven, die jemand einnimmt, der aus der Türkei stammt, in Deutschland großwurde, in London arbeitet und nun die Ferien bei der Familie des Ehemanns in Montenegro verbringt.
Wir einigten uns darauf, dass das Erleben des Andersartigen, die Infragestellung der eigenen Verhaltensweisen und Überzeugungen gerade den Reiz Europas ausmachen, nicht eine imaginierte Völkergemeinschaft, die nicht einmal eine einheitliche Sprache kennt.
Nach diesen Umwegen klärten wir am Ende kurz, worum es eigentlich ging, was wir zuvor instinktiv vermieden hatten, weil ein zwangloses Gespräch über dies und das den größeren Reiz hat, als geradewegs mit der Tür ins Haus zu fallen.
Die südländische Erzählfreude hat sich über die Jahre auch in meinem Blog breitgemacht, was nicht jedermanns Sache ist. Aber ich liefere hier auch keine bestellte Konfektionsware direkt ins Haus, sondern komme lieber auf kurvenreichen Umwegen ans Ziel.
Der Gegenstand der heutigen automobilen Betrachtung verkörpert dies auf ideale Weise. Das beginnt damit, dass wir uns erst einmal zurückbewegen anstatt nach vorn und uns nochmals an einer Aufnahme erbauen, die ich hier vorgestellt habe:

Diesen wunderbar in Szene gesetzten und mit einem bärenstarken 75 PS-Sechszylinder für Reisen auf kurvigen Routen bestens motorisierten Wagen hatte ich seinerzeit als 1927 Studebaker mit ungewöhnlichem „Victoria“-Aufbau identifiziert.
Keine andere Werkskarosserie dieses Modelljahrs gab der Gerade(n) sowenig Gnade. Während Limousine und Tourer mit den von US-Fabrikaten gewohnten repräsentativen, doch klaren Linien daherkamen, erlaubte man sich beim „Victoria“ ein spannendes Spiel mit allerlei Kurven, die vom vorderen Dachabschluss bis an die Heckpartie reichten.
Was auf dieser schwer zu übertreffenden Aufnahme bereits seine ungewöhnliche Wirkung entfaltet, findet seine Ergänzung in Form des folgenden Fotos, das einen nahezu identischen Studebaker zeigt, doch nun aus ungewohnter Perspektive:
Neben dem raketengleich gestalteten Reservekanister auf dem Trittbrett sind es hier die zusätzlichen Radabdeckungen, welche das Bild des Wagens anders erscheinen lassen. Dennoch haben wir es ebenfalls mit einem „Big Six“ mit Victoria-Aufbau zu tun.
Was hier noch schöner zu studieren ist, ist die vielfältige Kurvatur an der Heckpartie, welche die verspielte Anmutung des Wagens erzeugt – nur selten erfährt das Auge am Hinterteil eines Vorkriegsautos soviel Anregung, dem individuellen Kurs der Profile, Kanten und Zierleisten genüsslich zu folgen.
Ein solches Automobil war erkennbar nichts für strikt sachorientierte, geradlinige Typen und das neben dem Studebaker posierende Paar scheint das zu verkörpern.
Besonders begeistert mich hier die Beweglichkeit des Herrn auf dem Trittbrett, der auf den ersten Blick der Konvention genügt, doch sich letzlich als hochflexibler Zeitgenosse erweist, der mit der Weigerung, sich ganz der Geraden zu fügen, mit dem Studebaker wetteifert.
An der Oberfläche dem Zeitgeist zu folgen, sich nicht provokant und uncharmant zu geben, doch zugleich auf seine Eigenheiten zu beharren, ein eigenes Formgefühl und eine individuelle Linie zu entwickeln, das ist ein Ausdruck von Lebenskunst, meine ich.
Eine Sache noch: Der heutige Blog-Eintrag ist spontan aus der eingangs beschriebenen Plauderei und dem Griff zum erstbesten Foto auf dem Stapel der Neuzugänge auf meinem Schreibtisch entstanden.
Wenn sich alles so zusammenfügt, ist Direktheit doch der beste Weg zum Ziel. Ansonsten halte ich mich strikt an das Motto: Keine Gnade der Gerade!
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Dann sind Sie aber eine seltene Ausnahme, was den Transfer aus der Praxis in gut verständliche Texte angeht, Herr Weigold!
Die von Chr. Börner erwähnten Unfälle bei der Montage von Sprengringen waren meist durch ausgelieferten Ringe hervorge- rufen, die dann nur locker saßen und gerne abspringen. Man verhinderte das dann mit dem Sicherheitsschloss welches erst bei korrektem Sitz geschlossen werden konnte und Unfälle verhinderte.
Die vom Blogwart bemerkte Nichtbehandlung von Detailfragen in der einschlägigen Populärliteratur ist (neben dem begrenzten Umfang) meist auch dem Umstand geschuldet, daß technische Praxis- Erfahrung und konstruktives Denken nur
selten einhergeht mit literarischer Kompetenz, ebenso wenig wie Interesse am historischen Objekt mit enzyklopädischer Exaktheit
Zu Deutsch: Die Werke werden nicht von Praktikern geschrieben, sondern von Theoretikern !
Ein Wort noch zu den von Herrn Weigold erwähnten Sprengringen. Hiermit gab es unglaublich viele Unfälle, großenteils mit tödlichem Ausgang. Das geschah in erster Linie nach einer Reifenreparatur, wenn entweder ein maßlich nicht passender oder vorgeschädigter Sprengring verwendet wurde oder dieser vom Mechaniker bzw. Fahrpersonal nicht korrekt eingesetzt wurde. Wenn man in einem solchen Fall den Reifen wieder unter Druck setzte, passierte es leider allzu oft, dass der Sprengring wie ein Geschoss davonflog – direkt auf den Schädel des Beschäftigten. Berufsbedingt hatte ich kurz danach die Unfallmeldungen auf dem Schreibtisch liegen. Daher wurde unsererseits dringend geraten, das Rad vor dem Aufpumpen in einen speziellen stabilen Korb zu legen, falls ein solcher nicht greifbar war, sollte eine provisorische Sicherung durch Umreifung mit textilen Gurten erfolgen. Diese Unfälle ereigneten sich allerdings hauptsächlich an Lkw-Reifen.
Diese interessanten Detailfragen werden nach meiner Wahrnehmung in der populären Literatur nirgends erörtert – umso mehr schätze ich Ihre kenntnisreichen Darlegungen!
In der Tat, den Cybertruck kann man sich nicht schönsehen, interessanterweise ist das Teil aber ein technisches Sahnestück mit phänomenalem Leistungsvermögen auch im Gelände. Gnade verdienen einige Entwürfe der 70er Jahre, die der Keilform von Bertone folgten. Wirklich gefällig sind die Dinger zwar nicht, aber spannend…
Probleme gibt es immer wieder bei der Interpretation der verschiedenen in den frühen Autojahren verbauten Radformen bzw. deren Konstruktionsprinzipien.
Ihre Verwendung hing lange, vor allem bei höherpreisigen Wagen, wohl auch von der Vorliebe des Bestellers ab – oder auch der, natürlich erwünschten, leichten Handhabbarkeit bei den unvermeidlichen ständigen Radwechseln.
Das spornte natürlich diverse Schlaumeier zu den unterschiedlichsten Patenten an, um möglichst schnelle und leicht handhabbare Lösungen zu creiren.
Hier sehen wir zwei unterschiedliche Systeme:
Auf der ersten Aufnahme sehen wir die klassiachen Sprengring –
Felgen, wie sie Jahrzehnte lang
noch bei LKWs zu sehen war (zu erkennen an dem deutlich zu sehenden Stoß des Sprengrings).
Die Räder des zweiten Victorias
folgen einem anderen Prinzip:
Hier wird ein flacher Felgenring
mit den zu sehenden sechs Radmuttern nahe des Außenrings ( Felge) diesen nach irgendeinem Keil- Prinzip (Ringkeil oder einzelne Keile zu jeder Schraube) auf die Radscheibe gedrückt oder gezogen. Zwingend notwendig war natürlich ein fester und selbstzentrierender Sitz während der Nutzungsdauer!
Ob die Radbolzen zur Anbringung der Scheibe auf der Nabe hier aus Gründen der Eleganz von von einer Blechblende abgedeckt worden ist, auch wegen der Unschärfe der Aufnahme, nicht klar zu deuten. Deshalb will ich mich hier dem Blogwart gerne anschließen !
Nach Ihrem eingangs zu lesenden Postulat, „dass die Gerade aus Sicht des Autoliebhabers keine Gnade verdient“, erwartete ich, dass Sie sich dem markantesten Beispiel aus dem aktuellen Fahrzeugdesign – den Cybertruck von Tesla – zuwenden, von einigen wenigen als futuristisch bezeichnet, von der Mehrheit als potthässlich und völlig unpraktikabel abqualifiziert. Ich bin aber überzeugt davon, dass einige Ihrer Leser ebenso wie ich spontan daran dachten.
Zur Kurve als idealer Verbindung zwischen zwei Punkten, nennen wir sie Start und Ziel, fallen mir jedenfalls einige meiner Lieblingspässe ein, primär das Stilfser Joch, der Trollstigen und der Atlantikveijen in Norwegen.
Als ich 1963 nach 5 Fahrstunden meinen „Lappen“ erhielt, war mir klar, dass meine Fahrkünste noch recht dürftig waren. Ich nahm mir 3 Tage Zeit und fuhr, beginnend im Oberallgäu, 12 Alpenpässe in Österreich, der Schweiz und Südtirol und als ich mit meinem Fiat Neckar wieder zurück war, hatte ich den Eindruck gewonnen, das Autofahren inzwischen zu beherrschen. Es folgten 62 unfallfreie Jahre (toi, toi, toi).